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Alles unter Kontrolle bei Lidl

Spind-Durchsuchungen, Beschimpfungen und stundenlange Verhöre - in einem Schwarzbuch wirft die Gewerkschaft Verdi dem Discounter Lidl schikanöse Arbeitsbedingungen vor.

Montags und donnerstags erfahren deutsche Haushalte aus ihrer Zeitung, dass Lidl billig ist: Apfelsaft naturtrüb, der Liter 59 Cent, Herren-Hausschuhe mit Gel-Fußbett 4,99 Euro. Am Freitag empfiehlt sich der Discounter mit der Schwesterkette Kaufland in großflächigen Anzeigen als vorbildlicher Arbeitgeber: 20.000 Jobs hätten die beiden Unternehmen in den vergangenen drei Jahren in Deutschland geschaffen, mehr als jedes andere Unternehmen. Und 2005 - im "Jahr unseres 75. Firmenjubiläums" - wollen Lidl und Kaufland 1600 zusätzliche Lehrlinge einstellen. Klingt wie ein Traumunternehmen für Gewerkschafter. Das Gegenteil ist der Fall. Ebenfalls am Freitag präsentiert Verdi ein Schwarzbuch über die miserablen Arbeitsbedingungen bei Lidl. Repräsentative, anonymisierte Interviews und Falldarstellungen sollen aufzeigen, wie der Discounter Arbeitnehmer systematisch ausnutzt und unliebsame Mitarbeiter aus dem Unternehmen drängt. "Bei Lidl herrschen unerträgliche Repressionen und ein Klima der Angst", sagt Franziska Wiethold vom Verdi-Bundesvorstand. "Eine Diffamierungskampagne" wittern die Lidl-Oberen in der Neckarsulmer Firmenzentrale.

"Bei Lidl ist der Druck brutal"

Was Verdi über den rasch expandierenden Discounter zusammengetragen hat, ergibt ein haarsträubendes Bild von den Zuständen in den 2500 deutschen Filialen. "Bei Lidl ist der Druck brutal", berichtet eine Angestellte. "Wir müssen alles machen: Bestellung, Regale auffüllen, Kühlung abspachteln, Lagerarbeiten, putzen, kassieren. Oft war niemand da, der mich an der Kasse ablöste. Ich hatte nicht mal Zeit, auf die Toilette zu gehen. Wenn ich die Kasse verlassen hätte, hätte es eine Abmahnung gegeben. Manchmal kam ich nach Hause und hatte einen nassen Schlüpfer." Eine Kassiererin, der schon bei der Einstellung bedeutet wurde, niemand sei hier zum Denken da, sondern nur zum Arbeiten, berichtet in dem Schwarzbuch von Beleidigungen und Drohungen: "Der Vertriebsleiter setzt die Verkäuferinnen und Filialverantwortlichen stark unter Druck. Einige Standardsprüche lauten: Sie sind zu blöd zum Bestellen ... Sie sollten aufhören zu arbeiten ... Es gibt über vier Millionen Arbeitslose, wollen Sie dazugehören?"

Ausbeutung bei Lidl hat System

Aus Sicht der Gewerkschaft hat die Ausbeutung bei Lidl System. Chronische personelle Unterbesetzung, enorme Anforderungen und ständige Kontrollen hätten zur Folge, dass bei Aldis hartnäckigstem Konkurrenten menschenwürdige Arbeitsbedingungen auf der Strecke blieben. So haben Verkäuferinnen die Vorgabe, pro Minute 40 Artikel zu scannen. Außerdem müssen sie für höchste Sauberkeit sorgen. "Wir haben zwar keine Zeit, unsere Hände zu waschen, aber der Laden muss blitzen. Vor einiger Zeit wurde das Reinigungsrepertoire erweitert: Regalränder werden nun mit Zahnbürste und Schwamm geschrubbt." Nach Ladenschluss, versteht sich, und ohne Handschuhe, die Lidl zwar im Sortiment führt, aber seinen Mitarbeitern weder für die Reinigungsarbeiten noch für das Auspacken der Ware stellt. Die Firmenspitze versucht, die Missstände herunterzuspielen: "Bei dem rasanten Wachstum des Unternehmens ist es unvermeidlich, dass in Ausnahmefällen Filial- und Bezirksleiter eingestellt wurden, die Schwächen bei der Führung von Mitarbeitern haben", heißt es in einer Erklärung.

Angriff zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt

Der Angriff der Gewerkschafter kommt für das Unternehmen zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Lidl ist auf dem Sprung an die Spitze der Discounter. Firmengründer Dieter Schwarz und sein Komplementär Klaus Gehrig verdoppelten die Zahl der Lidl-Geschäfte innerhalb von zehn Jahren auf rund 2500, in ganz Europa sind es mehr als 5600. Laut dem Fachblatt "Lebensmittel Zeitung" investiert Schwarz dieses Jahr 2,5 Mrd. Euro in den Ausbau seines Filialnetzes. Der Abstand zum Marktführer Aldi schrumpft von Jahr zu Jahr. Noch haben die Gebrüder Albrecht - zumindest in Deutschland - die Nase vorn. Mit einem Jahresumsatz von schätzungsweise 12,5 Mrd. Euro ist Lidl gerade einmal halb so groß wie die Rivalen. Die Vorsteuerrendite der Schwaben schätzt Thomas Roeb, Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Bonn-Rhein-Sieg, auf 2,5 bis 3 Prozent. Bei Aldi Nord liege der Wert etwas höher, bei Aldi Süd um 5 Prozent.

Ausgesprochen großzügige Einstiegsgehälter

Um das Wachstumstempo beizubehalten und die Profitabilität zu steigern, heuert Lidl dauernd junge, willige Führungskräfte an. Die Einstiegsgehälter sind für ein Handelsunternehmen ausgesprochen großzügig: Uni-Absolventen verdienen Branchenkennern zufolge nach ihrer Einarbeitungszeit bis zu 6100 Euro im Monat. Wer es zum Prokuristen bringt, kann sein Salär auf bis zu 8600 Euro steigern. Die 21 Regionalgeschäftsführer erhalten 16.000 Euro. Die Anforderungen sind jedoch hoch. Wer im Einkauf arbeitet, muss aus den Lieferanten den letzten Zehntelcent herauspressen. "Da geht¿s ruppig zu - wie überall im Discountgeschäft", sagt Handelsexperte Roeb. Nur wer aggressiv auftritt und den Herstellern weitreichende Zugeständnisse abtrotzt, darf darauf hoffen, den Dienst-Audi A4 bald gegen ein größeres Modell eintauschen zu können.

Kosten im Griff halten

Die Vertriebsleute konzentrieren sich derweil darauf, die Kosten im Griff zu behalten. So dürfen die Ausgaben für Personal laut "Lebensmittel Zeitung" vier Prozent der Gesamtkosten nicht übersteigen. Lidl zahlt zwar Tariflöhne, aber erst ab 7.30 Uhr und nur bis 20 Uhr. Wenn frühmorgens ausgepackt und spätabends sauber gemacht wird, fällt das unter unbezahlte "Nacharbeit". Entscheidende Kennziffer für die Lidl-Manager ist der Umsatz je Arbeitsstunde. "Jeder Filialleiter versucht, so wenige Stunden wie möglich abzurechnen, um diesen Betrag zu maximieren", sagt Roeb. Ein Vorgehen, das allerdings in der ganzen Branche üblich sei. Auch die Inventurdifferenz müssen die Führungskräfte im Auge behalten: Durch Diebstahl verliert die Firmengruppe Lidl/Kaufland nach eigenen Angaben jährlich 250 Mio. Euro - fast 0,7 Prozent des Gesamtumsatzes und nach Auskunft von Experten deutlich mehr als andere Händler.

Strenge Kontrollen

Entsprechend streng sind die Kontrollen: "Lidl hat ständig Angst, dass die Verkäuferinnen klauen", heißt es im Schwarzbuch. "Einmal wöchentlich soll der Filialleiter deshalb die Spinde des Personals untersuchen." Darüber hinaus gibt es so genannte Spätkontrollen. "Das Personal verlässt die Filiale, woraufhin Kontrolleure vorfahren, die in alle Taschen und Körbe der Beschäftigten gucken. Schlecht für die, die ausgerechnet an solchen Tagen in der Filiale eingekauft haben; da wird dann jeder Artikel mit dem Kassenbon verglichen." Die stellvertretende Leiterin einer bayerischen Filiale schildert, wie Lidl-Vorgesetzte mit unbequemen Mitarbeitern umspringen: Nach acht Stunden Arbeit wurde sie einem dreistündigen Verhör unterzogen, weil sie angeblich 12,50 Euro Pfandgeld unterschlagen hatte. "Ich hab¿ zuerst noch gelacht und gesagt: ,Wie bitte? Warum sollte ich das machen, wo ich weiß, dass eine Kamera installiert ist?¿" Das Lachen ist ihr vergangen, als ihr eine Eigenkündigung abverlangt wurde. Nicht mal einen Anwalt durfte die Frau anrufen. "Ich war so fix und fertig, und sie haben mich so eingeschüchtert, dass ich kaum noch wusste, wie ich heiße." Ein Revisor diktierte ihr schließlich die Kündigung. "Ich hätte in dieser Situation sogar mein eigenes Todesurteil unterschrieben."

Drei Abmahnungen, Rauswurf

Die Verdi-Vorwürfe sind nicht die ersten gegen Schwarz, der seinem Unternehmen gerne das Kultimage von Aldi verschaffen würde. Für seinen "nahezu sklavenhalterischen Umgang" mit Beschäftigten hat Lidl in diesem Jahr bereits den Big Brother Award verliehen bekommen. Die Jury, der Datenschützer und Menschenrechtler angehören, monierten unter anderem die Praxis, Mitarbeiter durch Testkäufer auf die Probe zu stellen. Im Einkaufswagen seien Artikel versteckt worden, etwa im toten Winkel, der für die Kassiererinnen schlecht einsehbar sei. Wer in die Falle geht, wird abgemahnt. Drei Abmahnungen, Rauswurf. "Ein übliches Mittel, Beschäftigte der höheren Gehaltsstufen oder Gewerkschaftsmitglieder aus dem Job zu drängen", sagt Big-Brother-Laudatorin Rena Tangens. Seit Jahren versucht die Gewerkschaft, bei Lidl einen Fuß in die Tür zu bekommen und Betriebsräte zu installieren. Bisher hat das verschachtelte, in bis zu 600 einzelne GmbHs aufgegliederte Unternehmen solche Versuche meist erfolgreich abgeblockt: Im gesamten Firmenimperium gibt es nur sieben kleine Betriebsräte. "In Duisburg hat man Kollegen so unter Druck gesetzt, dass sie auf die Gründung eines Betriebsrates verzichtet haben", sagt einer der wenigen Betriebsratschefs bei Lidl. "Auch wir erlebten unglaubliche Dinge. Als die Wahl nicht mehr zu verhindern war, versuchte das Unternehmen, die Wahl zu manipulieren." Zwei Jahre haben die Ermittlungen für das Schwarzbuch gedauert. Sie sollen die Lidl-Spitze jetzt zwingen, Bilanzen und Firmenstrukturen offen zu legen und die Mitbestimmung möglich zu machen. Ähnlich hart gingen die Gewerkschafter gegen den Drogerie-Discounter Schlecker vor. Zehn Jahre widerstand der den Arbeitnehmervertretern - bis er dann doch Betriebsräte zuließ.

(aus der Financial Times Deutschland)

Anton Notz und Christian Baulig Mitarbeit: Christiane Ronke

börse online, 10. Dezember 2004
Original: http://www.boerse-online.de/ftd/artikel.html?artikel_id=665019

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