Von Heike Littger
Preisverleihung - und keiner geht hin. Beim Big Brother Award keine Seltenheit. Der Preis zeichnet Firmen, Organisationen und Personen aus, die sich in besonderer Weise um die Verletzung der Privatsphäre von Bürgern und Bürgerinnen "verdient" gemacht haben. Ins Leben gerufen wurde der Big Brother Award 1998 von der Datenschutz-Organisation Privacy International in Großbritannien. Mittlerweile gibt es ihn in insgesamt neun europäischen Ländern sowie in den USA und Kanada. Hierzulande wird die Preisverleihung vom Bielefelder Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD e. V.) organisiert. In der Jury sitzen neben Rena Tangens, Thilo Weichert von der Deutschen Vereinigung für Datenschutz und Jens Ohling vom Chaos Computer Club. Den Initiatoren der Big Brother Awards geht es nicht darum, einzelne Personen oder Organisationen vorzuführen. Sie wollen die Menschen sensibilisieren - für die Themen Datenschutz, Demokratie und Vernetzung.
Rena Tangens ist Künstlerin. Und: Sie ist Expertin in Sachen Datenschutz, Verschlüsselungstechnik und sozialer Software. Bereits 1987 gründete sie den Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD e. V.), der den bis heute existierenden Mail-Box-Server BIONIC ans Netz brachte. Sie war Mitinitiatorin des Friedensnetzes ZaMir in Ex-Jugoslawien. Und sie ist Mitherausgeberin des deutschsprachigen Handbuchs zur Verschlüsselungssoftware Pretty Good Privacy (PGP). Seit vergangenem Jahr richtet Tangens zusammen mit ihrem Künstlerpartner padeluun den deutschen Big Brother Award aus.
Littger: Frau Tangens, wie geht es Ihnen? Der 11.
September hat sicherlich auch Ihr Leben verändert.
Tangens:Wir arbeiten seit über 20 Jahren mit aller Kraft für "Kommunikation statt Konfrontation". Dazu gehört
auch das Mahnen im Bereich Datenschutz, Demokratie und Vernetzung. Deswegen: Nein, der 11. September hat mein Leben
nicht verändert.
Am 26. Oktober wird der deutsche
Big Brother Award zum zweiten Mal vergeben. Haben Sie je
daran gedacht, die Preisverleihung ausfallen zu
lassen?
Niemals. Im Gegenteil. Das Attentat war
nicht nur ein Angriff auf die Freiheit, sondern auch ein
Angriff auf die Demokratie. Und wir sehen und lesen es zur
Zeit täglich, dass rechtspopulistische Trittbrettfahrer sich
darin überbieten, altbekannte und neue Vorschläge zur
Repression aus der Schublade zu ziehen. Was wir dagegen
brauchen ist Aufklärung: Viele denken, das Thema
"Datenschutz" ginge sie nichts an ("mir doch
egal"; "ich hab nichts zu verbergen", "wenn's doch der Sicherheit dient"). Der Big
Brother Award ist eine gute Möglichkeit, das
Gefährdungspotential medial zu vermitteln - und deswegen so
wichtig wie noch nie!
Deutschland liegt in punkto
Telefonüberwachung im europäischen Vergleich an erster
Stelle. Und auch der E-Mail-Verkehr wird kräftig
durchleuchtet. Zum Beispiel Echelor - das weltweite
Abhörsystem liest einen Großteil der Internetkommunikation
mit, filtert und archiviert. Ihre Meinung: Warum ist die (Internet-)Überwachung für jeden Einzelnen von uns so
gefährlich?
Ein Mensch, der ständig beobachtet,
registriert und vermarktet wird, verändert mit der Zeit sein
Verhalten. Damit werden Grundprinzipien unserer Verfassung -
die Menschenwürde und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit - beschädigt. Aber nicht nur das! Wer sich
beobachtet fühlt, nimmt möglicherweise andere von der Verfassung garantierte Rechte wie freie Meinungsäußerung und
Versammlungsfreiheit nicht mehr in Anspruch. Das bedeutet:
Der Gemeinschaft geht eine Vielfalt von Ideen, Meinungen und
Talenten verloren. Es geht also keineswegs nur um private
Bedürfnisspielräume, die jeder ohne Schaden für sich selbst
aushandeln könnte. Zur Disposition stehen Grundrechte -
unverzichtbar für Gemeinwohl und den Fortbestand der
Demokratie.
Erinnern wir uns: Vergangenes Jahr
ging der erste Preis an die Loyalty Partner Gesellschaft für Kundenbindungssysteme. Das Unternehmen steht hinter der
Payback-Karte, einem Bonuspunkte-Sammelsystem. Warum haben
Sie das Unternehmen ausgezeichnet?
Payback kommt
als Rabattkarte daher, ist aber hauptsächlich dazu
ausgelegt, personalisierte Daten zum Kaufverhalten von
Tausenden von Verbrauchern zu gewinnen und kommerziell zu
nutzen, ohne dass diese darüber informiert werden. Bei der
Anmeldung müssen die Kunden ein Anmeldeformular ausfüllen.
Gefragt wird nicht nur nach Name und Adresse, sondern auch
nach Geburtsdatum, E-Mail-Adresse, Telefon- und Handynummer
sowie Titel. Zusätzlich: Familienstand, Anzahl der Kinder,
Geburtstagsdaten der Kinder und monatliches Nettoeinkommen.
Außerdem werden alle Daten, die anfallen, wenn ein Kunde bei
einem der Partnerunternehmen einkauft, zentral gesammelt,
verarbeitet und gespeichert. Welche Daten das genau sind,
wird in den Teilnahmebedingungen nicht spezifiziert. Es ist
zu vermuten, dass keineswegs nur die Rabattpunkte, sondern
alle anfallenden Daten gespeichert werden: Ort, Datum,
Uhrzeit, die genaue Auflistung aller gekauften Artikel,
Zahlungsweise, gegebenenfalls auch noch Bankverbindung oder
Kreditkarte. Zum Zeitpunkt der Nominierung war völlig
unklar, wo welche Daten gespeichert werden, wie lange die
Daten aufbewahrt, wie sie verarbeitet und an wen sie
weitergegeben werden. Laut Teilnahmebedingungen an alle
beteiligten Partnerunternehmen. Die Liste der Partner war
und ist aber nicht begrenzt, sie wächst beständig weiter. Je
mehr Unternehmen sich Payback anschließen und je häufiger
die Karte genutzt wird, desto umfangreicher werden die Konsumentenprofile.
Hat Ihre Auszeichnung etwas
bewirkt? Packback gibt es nach wie vor.
Aber ja.
Die Resonanz war gewaltig. Der Fall "Payback" war
in der Tagesschau, sogar die französische Tageszeitung Le
Monde und die Neue Zürcher Zeitung haben ausführlich
berichtet. Und wir haben viel Rückmeldung von Verbrauchern
und Verbraucherinnen bekommen. Ich denke, das Bewusstsein in
der Bevölkerung für die "Risiken und Nebenwirkungen" von Kundenkarten hat deutlich
zugenommen. Payback wurde außerdem vom Verbraucherschutzverein Berlin vor dem Landgericht München
wegen seiner Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) verklagt
- und hat verloren. Das Unternehmen musste seine
Teilnahmebedingungen modifizieren und transparenter
gestalten. Payback hat gegen das Urteil Berufung eingelegt,
diese aber einen Tag vor der Verhandlung stillschweigend
zurückgezogen. So wurde ein Urteil des Oberlandesgerichtes
vermieden, das allgemeingültig gewesen wäre. Die
Teilnahmebedingungen sind mittlerweile deutlich verbessert
worden - auch wenn noch nicht alles optimal gelöst ist. Die
Partnerunternehmen von Packback stehen mit dem
Bundesdatenschutzbeauftragten Joachim Jacob in Kontakt, um
in Zukunft solche Fehler zu vermeiden. Für uns ein großer
Erfolg.
Es klappt aber nicht immer. Das
Schnüffelsystem "Carnivore" wurde im März
mit dem amerikanischen Big Brother Award ausgezeichnet. Jetzt wurde es in den USA flächendeckend eingesetzt.
Begründung: Terrorismusbekämpfung. Was können Sie diesem
Killerargument entgegensetzen?
Einsatz stimmt nicht. AOL dementiert. Allerdings: Wer weiß
schon, ob es stimmt. Überall wird zur Zeit Aktionismus
demonstriert ("Wir tun was!") und Desinformation
und Propaganda verbreitet. Aber blicken wir nach Deutschland. Die Telekommunikationsüberwachungsverordnung
(TKÜV) steht kurz vor der Verabschiedung. Was darin
gefordert wird, ist teilweise viel weitgehender als
Carnivore. Durch die TKÜV erhalten Behörden einen Freibrief für Abhörschnittstellen, mit denen sie sich legal in die
Netzkommunikation einloggen können. Bedenklich auch die Legalisierung von IMSI-Catchern zum Abhören von
Handy-Telefonaten. IMSI-Catcher geben sich dem Funktelefon gegenüber als Mobilfunkstation des eigenen Netzes aus und
können so alle ein- und ausgehenden Gespräche abhören. Nicht
nur von potentiellen Verbrechern, sondern von allen, die
sich zufällig im Bereich dieser Funkzelle befinden. Natürlich werden auch alle anderen Daten wie Gerätenummer,
Telefonnummer und Aufenthaltsort abgegriffen.
Killerargument "Terrorismusbekämpfung" - darauf
gebe ich Ihnen eine friedliche Antwort: "Es ist
sinnlos, Freiheit und Demokratie dadurch schützen zu wollen,
dass man sie abschafft." Steht im Vorwort unseres
PGP-Buchs und sagte unser Bundestagspräsident Thierse nach
den Anschlägen auf das WTC.
Was ist mit der
Verschlüsselungs-Software Pretty Good Privacy - fürchten Sie
ein Verbot?
Ein Verbot wird es nicht geben. Es
wäre auch unsinnig. Allein schon deshalb, weil es eine
herausragende Eigenschaft von Kriminellen ist, sich nicht an
Verbote zu halten. Und weil es unendlich viele Möglichkeiten
gibt, vertrauliche Nachrichten zu übermitteln, ohne im
technischen Sinne zu verschlüsseln. Niemand kann ernsthaft
fordern, dass die gesamte Post - von Liebesbriefen bis zur
Firmenkorrespondenz - in Zukunft nur noch auf Postkarten,
also ohne Briefumschlag, versendet wird. Gesetzestreue
Bürgerinnen und Bürger würden ihr vom Grundgesetz
garantiertes Recht auf unbeobachtete Kommunikation verlieren
und Firmen wären leichte Opfer von
Industriespionage.
Wahlen im Netz,
Bürgerengagement, Internet-Demokratie - können wir die
Vision von einer "Beteilungsgesellschaft"
endgültig begraben?
Meinungsfreiheit, Kritik,
offene Gesellschaft, Beteiligung sind wesentliche
Kennzeichen einer Demokratie, die lebendig und damit auch
langfristig innovativ ist. Demokratie findet im Wesentlichen
in der Wirklichkeit statt. Nicht im Netz, nicht in einer
virtuellen Welt. Das Netz ist nur ein Abbild oder besser:
ein Zerrbild der Strukturen unserer realen Verhältnisse. Ein
Satz aus dem visionären Buch Der Schockwellenreiter von John
Brunner aus dem Jahr 1975: "Verschwenden Sie keinen
Gedanken ans Morgen; das ist Ihr gutes Recht. Aber beklagen
Sie sich nicht, wenn es plötzlich da ist und Sie haben
nichts mitzureden." Wer um die Demokratie bangt, sollte
sich für sie einsetzen. Und zwar jetzt.
Wenn Sie
an die Zukunft denken - was wünschen Sie sich?
Nach dem 26. Oktober: Urlaub.
Heike Littger arbeitet als Redakteurin bei changeX.
Die diesjährigen Gewinner werden am 26. Oktober um
16 Uhr bekannt gegeben. Näheres finden Sie auf der Site www.bigbrotheraward.de.
Informationen zu Rena Tangens: www.padeluun.de
Das Handbuch zur Verschlüsselungssoftware Pretty Good Privacy (PGP) können Sie bestellen:
Christopher Creutzig/Andreas
Buhl/Philipp Zimmermann:
PGP, Pretty Good Privacy
- der Briefumschlag für Ihre private elektronische
Post,
Art d'Ameublement, Bielefeld
1999,
4. Auflage, 305 Seiten, 39,80
Mark,
inkl. CD-ROM mit verschiedenen PGP-Versionen
für DOS, Windows, MacOS und UNIX sam,
ISBN
3-9802182-9-5
ChangeX, 25. Oktober 2001