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Die Unwilligkeit zu trauern

Dieter Schenk über institutionelle und personelle Kontinuitäten in der Bundesrepublik zum Nationalsozialismus und die Rolle des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer

Am gestrigen Mittwoch ist Dieter Schenk von der Humanistischen Union mit dem Fritz-Bauer-Preis 2003 ausgezeichnet worden. Der Preis ist nach dem früheren Hessischen Generalstaatsanwalt benannt und belohnt das Engagement für Demokratie und Bürgerrechte. In seiner Dankesrede hebt Schenk die Bedeutung Bauers für seine eigene Entwicklung und seine kritische Auseinandersetzung vor allem mit Polizei und Justiz in Deutschland hervor. Wir dokumentieren die Preis-Rede, gehalten im Frankfurter IG-Farben-Haus, im Wortlaut.

Ich freue mich und es beruhigt mich, dass mir nicht die alleinige Aufmerksamkeit dieser Veranstaltung gilt, sondern dass ich neben jemandem stehe, an dessen Seite ich mich bestätigt und unterstützt fühlen kann: Fritz Bauer. Ich bin ihm nur einmal in meinem Leben persönlich begegnet. Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden hatte ihn Anfang der sechziger Jahre zu einem öffentlichen Vortrag eingeladen. Mich beeindruckte, wie er unerschrocken offensiv neue Thesen gegen ein überkommenes Strafrecht vortrug und wie er sich ohne Rücksicht auf einen anders gestimmten Zeitgeist gegen einen entwürdigenden Strafvollzug wandte.

Ich war fasziniert von der suggestiven Kraft seiner Persönlichkeit. Ich war berührt durch die Stärke, die er ausstrahlte und den eindringlichen Blick seiner dunklen Augen.

Ich ahnte nicht, dass Fritz Bauer einmal so etwas wie mein stiller Weggefährte werden würde, sein Wirken und sein Geist inspirierten nicht nur mich. Zumeist begegnete ich ihm in Ermittlungsakten, in denen er mit eindeutiger Konsequenz, zwingender Logik und juristischer Delikatesse durch generalstaatsanwaltschaftliche Verfügungen die Strafverfolgung von Nazi-Tätern vorantrieb um Schluss zu machen mit der Schlussstrich-Mentalität, um aus dem Gerichtssaal heraus die Öffentlichkeit über die NS-Vergangenheit aufzuklären, nach den Gründen der moralischen Katastrophe zu fragen. Er wollte "dem menschlichen Faktor eine Gasse bahnen, denn vom Gesetzesfetischismus führt ein schnurgerader Weg zu den KZ Auschwitz und Buchenwald". (Bauer)

Ob im Archiv des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof oder in der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg oder andernorts, der Umgang mit diesen Akten der Nazi-Gräuel bedeutet Trauerarbeit, begleitet vom Entsetzen über die Barbarei, bis die eigene Hilflosigkeit in Wut umschlägt und die befreiende Kraft und den Mut spendet, dagegen anzuschreiben: den Tätern einen Namen zu geben, ihre Verbrechen offen zu legen und das Andenken der Opfer aus dem Vergessen zu heben.

1964 sagte Fritz Bauer zu einem Journalisten: "Schreiben Sie, wie sehr wir alle bei der Generalstaatsanwaltschaft unter den NS-Mordprozessen leiden. Es ist furchtbar, immer wieder den ganzen Jammer, die ganze Not jener zwölf Jahre heraufzubeschwören, immer wieder in die Vergangenheit sehen zu müssen, statt unbeschwert in eine bessere Zukunft zu blicken." Und er schloss das Interview mit den Worten: "Es geht darum, der Welt klar zu machen, dass unsere Bundesrepublik auf der Anerkennung der Menschenrechte beruht, dass Toleranz und Menschlichkeit wie ein Phoenix aus der Asche von Auschwitz auferstehen."

Auschwitz steht auch für die nicht geweinten Tränen der Generationen danach, denn um tiefe Betrübnis über die Zeit des Nationalsozialismus machen viele Menschen einen Bogen, auch im Bundeskriminalamt war nie etwas von Trauer oder gar Reue zu spüren. In den fünfziger und sechziger Jahren lenkte eine Führungsmannschaft, die selbst in NS-Verbrechen tief verstrickt war, das Amt.

Für diese Leute war der Frankfurter Generalstaatsanwalt ein rotes Tuch und - wie mir Zeitzeugen berichteten - geradezu verhasst. Nur einmal luden sie ihn zu einem Vortrag anlässlich der Arbeitstagung "Kriminalpolitische Gegenwartsfragen" (1959) ein und dann nie wieder. Er schrieb ihnen Sätze ins Stammbuch wie: "Es ist unsere kriminalrechtliche und kriminalpolitische Aufgabe, zunächst einmal die autoritären Schlacken vergangener und jüngster Jahrzehnte zu beseitigen, um aus Demokraten des Wortes Demokraten der Tat zu werden." Wären sie dazu fähig gewesen, hätte es einigen BKA-Gastgebern die Schamesröte ins Gesicht treiben müssen.

Die Aggressionen gegen Bauer hatten unterschwellige Motive, denn hinter der Maske dieser BKA-Direktoren lauerte die Angst. Das Hessische Landeskriminalamt war für die Verfolgung der Schandtaten dieser BKA-Männer zuständig und der Hessische Generalstaatsanwalt in den Verfahren weisungsberechtigt. Durch Ermittlungssabotage konnte das Hessische LKA allerdings das Erforschen der Wahrheit erschweren und zum Beispiel Dr. Niggemeyer, Mitglied des BKA-Führungstriumvirats, vor intensiver Strafverfolgung schützen.

Einblicke in die Strukturen der Nichtverfolgung von NS-Tätern in den Reihen der Polizei erlangte ich erstmals in den sechziger Jahren durch meine Bekanntschaft mit dem Leiter der Sonderkommission zur Verfolgung von NS-Verbrechen beim Hessischen Landeskriminalamt. Über ihn beschaffte ich mir die Akten des Verfahrens Oskar Christ. Den Leiter der Wiesbadener Schutzpolizei - ein Herrenreiter in Polizeiuniform auf der sonntäglichen Wiesbadener Wilhelmstraße - holte die Vergangenheit ein, denn der ehemalige SS-Hauptsturmführer fungierte als Kompanieführer des berüchtigten Polizeibataillons 314, das in der Sowjetunion an Massenexekutionen von Juden beteiligt war.

Im März 1942 soll Christ in Charkow seinem "Burschen" befohlen haben, eine russische Tänzerin des Stadttheaters, die von Christ schwanger war, zu erschießen. Anstatt wegen der ruchlosen Tat Beweisketten zu knüpfen, suchte das Wiesbadener Schwurgericht solche Ketten zu sprengen und sprach den Polizeioberrat frei. Dass solche Gerichtsentscheidungen kein Zufall waren, sondern Methode hatten, lernte ich erst später genauer zu beurteilen.

Blauäugig glaubte ich als junger Berufsanfänger an den demokratischen Rechtsstaat und sah mein Vertrauen alsbald erschüttert, denn der SOKO-Leiter berichtete mir, wie ihn seine Chefs - die auch meine Chefs waren - gängelten und mit zudeckender Loyalität verhinderten, die Arbeit der Sonderkommission mit Erfolg zu krönen. Stattdessen sollte er die Ermittlungen auf Sparflamme führen, musste Dienstreisen abbrechen, durfte keine selbstständigen Besprechungen mit Generalstaatsanwalt Bauer abhalten, während sein Abteilungsleiter die Vernehmungen von beschuldigten BKA-Männern kontrollierend überwachte oder gar die Akten an der Sonderkommission vorbei direkt dem BKA zuleitete, das dann "gegen sich selbst" ermittelte.

Der Leiter der Polizeiabteilung des hessischen Innenministeriums ermahnte den SOKO-Chef: Kriminalbeamte würden dringend zur Verbrechensbekämpfung gebraucht, es herrsche Personalmangel und er sollte mit Festnahmen etwas kürzer treten.

Ich erwähne diese Details um wenigstens anzudeuten, mit welchen Widerständen Generalstaatsanwalt Bauer zu kämpfen hatte, die ihm sicher über informelle Kanäle bekannt waren. Ebenso wusste er - davon kann man ausgehen - wes ehemals nationalsozialistischen Geistes der eine oder andere "Amtsbruder" war, mit dem er bei den regelmäßigen Konferenzen der Generalstaatsanwälte an einem Tisch saß und die stringentes Ermitteln gegen NS-Täter vermissen ließen. Generalstaatsanwalt Adolf Voss aus Schleswig-Holstein zum Beispiel, der einst von Roland Freisler protegiert wurde und sich nicht von seiner Vergangenheit lösen konnte, sonst wäre er 1960 nicht in die Affäre Prof. Heyde alias Dr. Sawade verwickelt gewesen. Als der Verdacht aufkam, er hätte den Euthanasie-Verbrecher gedeckt, nahm Voss aus Gesundheitsgründen seinen Hut. Aus zahllosen Ermittlungsakten erschließen sich heute in der Zusammenschau die strukturellen Methoden und das System der scheinlegalen strafrechtlichen Nichtverfolgung von NS-Verbrechern; die angewandten Mittel waren vielseitig und effektiv: Täter wurden zu Gehilfen, Beschuldigte zu Zeugen abgestuft, notwendige Ermittlungen unterlassen, Vernehmungen an sachunkundige Behörden delegiert, mittels der so genannten "biologischen Verjährung" abgewartet, bis Zeugen und Beschuldigte aus Altersgründen verhandlungsunfähig oder verstorben waren.

Das Prinzip in dubio pro reo wurde überstrapaziert, weil sich belastende Aussagen von Zeugen und Schutzbehauptungen des Angeklagten angeblich aufhoben, demnach trotz eindeutiger Beweislage Aussage gegen Aussage stand. Der Rechtfertigungsgrund des militärischen Befehls wurde anerkannt, selbst wenn im Einzelfall der Täter eine ganze Zigeunersippe erschossen hatte. Befehlsnotstand wegen angeblicher Gefahr für Leib oder Leben - das Einstellungs- und Freispruchinstrument erster Klasse - lag nach einhelligen historischen Forschungsergebnissen in keinem bisher festgestellten Fall tatsächlich vor.

Natürlich durchblickte Bauer alle diese juristischen Machenschaften, wenn er konstatierte: "Es hat nicht nur Hitler und Himmler gegeben, sondern Hunderttausende, Millionen anderer, die das, was geschehen war, nicht nur durchgeführt haben, weil es befohlen war, sondern weil es ihrer eigenen Weltanschauung entsprach, zu der sie sich aus freien Stücken bekannt haben."

Und Bauers Juristenkollegen exkulpierten sich formalrechtlich nach dem Grundsatz des Gesetzespositivismus, da sie nur das geltende Recht angewandt haben wollten. Diese Richter und Staatsanwälte spürten - wie Bauer klar war - das Unbehagen darüber, dass sie selbst nicht viel anders dachten als die Menschen auf der Anklagebank, so dass die Widersprüche in Einstellungsverfügungen oder Urteilsbegründungen "die Wurzeln im eigenen Tun und Lassen während des Unrechtstaates hatten". (Bauer)

Das Gedenken an Fritz Bauers einhundertsten Geburtstag und diese Preisverleihung finden auf historischem Boden statt, die IG Farben waren intensiv in Kriegsverbrechen und Holocaust involviert. Nach dem Krieg wurde in den Diensträumen dieses Gebäudes unter der Federführung von CIA-Vorgesetzten das Bundeskriminalamt kreiert. Die Grundlagen hierfür lieferte Paul Dickopf als kompetent und hoch angesehener Gast im IG-Farben-Building im Jahre 1949, ehemals Kriminalkommissar und SS-Untersturmführer, Experte der Nazi-Sicherheitspolizei und der Militärischen Abwehr, Doppelagent von 1942 bis 1945 in der Schweiz und nunmehr CIA-Agent. Er erstellte Organigramme, Statistiken und Personal-Listen, machte das BKA zum organisatorischen Abklatsch des Reichskriminalpolizeiamtes und zur Versorgungsanstalt für ehemalige Angehörige der Gestapo und der SS - mit Wissen und Wollen der federführenden amerikanischen Besatzungsmacht.

Ob moralische Entrüstung darüber angebracht ist, dass ein CIA-Agent später BKA- und Interpol-Präsident geworden ist, hängt davon ab, ob man die Counter Intelligence Agency als Kriminelle Vereinigung betrachtet oder nicht. Gravierender ist allerdings die Tatsache zu bewerten, dass die Hälfte des BKA-Führungspersonals Nazi-Verbrecher waren. Zwei Dutzend von ihnen waren Schreibtischtäter des Reichskriminalpolizeiamtes, die "Schutzhaftbefehle" ausstellten, um Homosexuelle, Zigeuner oder so genannte Asoziale in Konzentrationslager einzuweisen. Oder sie waren Angehörige der Einsatzgruppen zur Vernichtung der polnischen Intelligenz, sie leiteten Exekutionen und schossen dabei selbst - auch auf Frauen und Kinder. Sie befehligten die Geheime Feldpolizei, die an der Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in Weißrussland beteiligt war. Jeder Dritte der späteren BKA-Führer gehörte der Gestapo an.

Die Unverfrorenheit erreichte ihren Höhepunkt, als Inhaber von Chefpositionen des ehemaligen Reichskriminalpolizeiamtes, das ja eine Abteilung des berüchtigten Reichssicherheitshauptamtes bildete, genau dieselben Chefsessel im neu geschaffenen Bundeskriminalamt einnahmen.

Alle diese BKA-Chefs zeigten weder Mitleid noch schworen sie ihrer Gesinnung ab, vielmehr schlüpften sie gleich zu Anfang durch die nicht ernsthaft betriebene Entnazifizierung und wurden als "entlastet" eingestuft. Damit fühlten sie sich rehabilitiert, beförderten sich gegenseitig und gingen mit satten Pensionen in den Ruhestand.

Sie waren offenbar unfähig zu trauern in dem Sinne, wie es die Mitscherlichs in ihrem gleichnamigen Buch analysiert hatten. Die beiden Psychoanalytiker fragten sich, "was ein Kollektiv tun soll, in dessen Namen sechs Millionen Menschen aus aggressiven Gründen getötet wurden. Der Sturz des ,Führers' bedeutete eine traumatische Entwertung des eigenen Ich-Ideals, mit dem man so weitgehend identisch war. Als Folge blieb nur der Weg in Verleugnung oder Rückzug in Depression." Verdrängung erlaubte es den Tätern, ihre Lebenslüge zu verinnerlichen, sich nicht mehr als Teil der eigenen Geschichte zu betrachten und sich schließlich sogar als Opfer von Verleumdungskampagnen zu stilisieren. Das erklärt auch die Arroganz, mit der Leute wie Dickopf oder Niggemeyer Kritiker mundtot machten.

Und nicht nur sie. Ende der siebziger Jahre lud ich Albert Speer zu einer Podiumsdiskussion in das Polizeipräsidium Gießen ein. Er, der zum engsten Zirkel um Hitler gehörte, wollte nichts von Auschwitz gewusst haben, was zu einer heftigen Kontroverse führte. Meine Kollegen warfen mir nach der Veranstaltung vor, ich hätte den "Elder Statesman" zu hart angefasst. Meine Kollegen störte keineswegs, dass Speer freimütig erklärte, er würde - könnte man die Judenmorde als nicht geschehen betrachten - alles noch einmal genau so wie früher machen.

Der Geist ehemaliger Nazis durchweht heute nicht mehr das Bundeskriminalamt. Trotzdem wurden über Jahrzehnte Grundeinstellungen und Handlungsweisen geprägt, die Auswirkungen bis in diese Tage zeigen:

Ich hätte es allerdings für unmöglich gehalten, dass sich das Bundeskriminalamt weigert, sich von seinen braunen Wurzeln zu distanzieren. Auch die Bundesregierung schloss sich dieser Haltung an und beantwortete eine durch mein Buch ausgelöste Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag mit dem sophistischen Schlüsselsatz: "Das Bundeskriminalamt hat keine nationalsozialistische Vergangenheit, weil es 1951 gegründet wurde."

Es mag in meiner Person begründet liegen, dass sich das Bundeskriminalamt nicht auf mich einlassen wollte, vielleicht auch nicht konnte. Mit Fritz Bauer teile ich das Los, hier und da als Nestbeschmutzer bezeichnet zu werden. Und Fritz Bauer würde mir sicher zustimmen, wenn wir es mit Georg Büchner auf den kurzen Nenner bringen: "Die Ursache verklagt ihre Wirkung."

Aber die wahren Gründe liegen tiefer. Es handelt sich hier nicht um Unfähigkeit oder Unvermögen, sondern um Unwillen zu trauern. Trauern heißt nicht nur Abschied nehmen, sondern auch Verarbeiten, Bilanz ziehen, Loslassen, eigene Fehler einsehen. Trauern heißt Mit-Leiden, erst daraus erwächst Einsicht. Trauer zu unterdrücken rächt sich, weil das Problem nicht gelöst wird, sondern an anderer Stelle wieder hoch kommt. Trauer ist eine Form der Eigentherapie. Verhinderte Trauer verstärkt das schlechte Gewissen, nur offene Wahrheit macht frei. Trauer kann quälende Arbeit sein, aber sie bewirkt Ruhe und Frieden - auch mit sich selbst.

Ich wünsche mir ein BKA, das den Korpsgeist mit seinen Gründungsvätern für überholt erklärt.

Ich sehne mich nach einem BKA, das Betroffenheit zeigt, wenn ihm der Big-Brother-Award verliehen wird.

Ich habe den Traum, dass BKA-Beamte nicht von einer Dienstreise aus einem Folterstaat zurückkehren, um gute Zusammenarbeit und Gastfreundschaft zu loben.

Ich wünsche mir den BKA-Beamten, der nicht den Polizeiknüppel aus Thailand als Souvenir an die Wand seines Büros hängt, denn es enttarnt seine Einstellung zur Macht, man kann ihm nicht trauen.

Ich möchte einen BKA-Präsidenten, der seinen Sitz im Exekutiv-Komitee der Interpol-Organisation quittiert, wenn neben ihm Foltergeneräle Platz nehmen.

Ich halte den Innenminister für mein Ideal, der die Beachtung fundamentaler Menschenrechte zur Bedingung für die Mitgliedschaft anderer Staaten in der Interpol-Organisation macht.

Die Denkkategorien des Bundeskriminalamtes (der Landeskriminalämter, der Polizei schlechthin) sind ideologisch determiniert. Sie kennen überwiegend nur die Fragestellung: Wer verletzt unsere Sicherheit? und nicht die Überlegung: Wo verletzen wir als Polizei (als Verfassungsschutz, als Bundesnachrichtendienst) durch unser Tun oder Lassen die Sicherheit - zum Beispiel durch ungenügende Verfolgung der Parallelmacht wirtschaftskrimineller Gewalt, durch exzessive Abhörmaßnahmen oder durch sinn- und ergebnislose Rasterfahndung, die Terrorismusbekämpfung vorgibt, stattdessen Unschuldige einem Generalverdacht aussetzt und damit Sympathisantentum nährt.

Bereits in den siebziger Jahren lösten Kontaktsperregesetz und Isolationsfolter alle Nachwuchssorgen der Rote-Armee-Fraktion. Eine Kosten-Nutzen-Analyse - bezogen auf den Bundesnachrichtendienst - und eine Skandal-Schadens-Analyse - bezogen auf den Verfassungsschutz - hätten das Ergebnis, dass beide Einrichtungen nicht mehr zeitgemäß sind.

Insgesamt handelt es sich um Instrumentalisierung, um falsch verstandene Sicherheit des Staates. Doch geht es nicht um den Staat. Dessen Sicherheit war zu Zeiten der RAF genau so wenig gefährdet wie der Staat in seiner Substanz heute durch islamischen Fundamentalismus bedroht ist. Es geht vielmehr um die Sicherheit des Bürgers, den der Staat zwar vor Schaden bewahren soll, aber mit Augenmaß oder, wie es das Grundgesetz vorschreibt, unter Beachtung von Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots.

Der Staat ist am besten durch wache und mutige Bürger geschützt, die man nicht an jeder Straßenecke videoüberwacht, die man nicht mit SIMSI-Catchern einfängt, deren Ferngespräche nicht im Schmutzbeutel eines elektronischen Staubsaugers landen - Bürger, die nach dem Grundsatz in dubio pro libertate leben können, wie es unsere - durch innenpolitische Hardliner gebeutelte - Verfassung eigentlich vorsieht.

Fritz Bauer stellte bereits in den sechziger Jahren fest: "In einer gefestigten Demokratie sind Maßnahmen des Staatsschutzes überflüssig." Demokraten der Tat sind gefragt. Solche, die Hierarchien in der Polizeiorganisation beseitigen, welche starre - häufig erniedrigende - Befehlsstrukturen hervorbringen und welche mit ihrem Beurteilungs(un)wesen ein Geflecht gegenseitiger Abhängigkeit und einseitigen Wohlverhaltens schaffen.

Demokraten der Tat sind gefragt, die ein freies Universitätsstudium der Polizeiwissenschaften einführen anstelle der polizeilichen Ausbildungs-Inzucht - Demokraten, die paradigmatische Veränderungen bewirkten im Geiste von Fritz Bauer: Weg vom Ordnungshüter, hin zum Deeskalations-Experten, zum multikulturellen Sachbearbeiter. Demokraten der Tat sind gefragt, die bei der Polizei eine Supervision für erforderlich halten, Rotation von Führungs- und Einsatzkräften durchsetzen, wirkungsvolle Innenrevisionen implantieren, Anti-Mobbing-Konzepte entwickeln.

Viel wäre gewonnen, wenn als Anforderungsprofil an den Polizeinachwuchs nicht dem angepassten, sondern dem kritischen und diskussionsfreudigen Berufsbewerber der Vorzug gegeben würde. Doch ist die Polizei in ihren Traditionen gefangen, Reformen müssen von außen kommen und bedürfen einer anderen Innenpolitik.

Fritz Bauer, ein Anwalt nicht der Staatsräson sondern des Schutzes des Bürgers vor dem Staat, hatte Brüderlichkeit und Nächstenliebe zu seinem kategorischen Imperativ erhoben. Er, der als Leitfigur seiner Zeit - und leider auch unserer - weit voraus war, galt als rigoroser Verfechter der Menschenrechte. Er verlangte die internationale Ächtung der Todesstrafe, wollte nach dem Muster skandinavischer Länder einen Ombudsmann einführen, schlug einen Internationalen Strafgerichtshof vor und eine konsequente Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität als Ursache von Unterdrückung, Armut und Ungerechtigkeit und damit der Wurzeln von Terrorismus.

Manch Kalter Krieger fühlte sich von Fritz Bauer provoziert. Seine Gegner wollten glauben machen, er öffne dem Kommunismus Tor und Tür, doch er genoss Solidarität und Unterstützung der hessischen Landesregierung, auch wenn die Opposition im Landtag seine Suspendierung oder gar Entlassung forderte. Bauer wusste eine Riege Gleichgesinnter hinter sich, unter anderem in der Humanistischen Union. Er hat Generationen kritischer und politisch denkender Jurastudenten geprägt.

Fritz Bauer ist auf seine Art ein "Gerechter unter den Völkern" zu nennen, denn er rettete die Ermordeten von Auschwitz vor dem Vergessen. Er wurde heute vor einhundert Jahren geboren - ohne ihn wäre die Welt inhumaner gewesen.

Der Autor

Dieter Schenk, Jahrgang 1937, war u.a. beim Hessischen Landeskriminalamt nacheinander Leiter der Ermittlungszentralstelle für Raub, Diebstahl und Hehlerei, für Rauschgiftbekämpfung und für Kapitalverbrechen. Bis 1979 leitete er das Kriminalpolizeipräsidium in Gießen. Danach war Schenk Kriminaldirektor in der Stabsstelle Interpol beim Bundeskriminalamt, ehe er 1989 _wegen unüberbrückbarer Gegensätze mit dem BKA, insbesondere wegen der Ignoranz des BKA gegenüber Menschenrechtsverletzungen in Folterregimen_, vorzeitig aus dem Polizeidienst ausschied. Seit 1990 arbeitet er als freier Publizist. Zu seinen Büchern gehören u.a. "Auf dem rechten Auge blind", Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, und "Wie ich Hitler Beine machte _ eine Danziger Polin im Widerstand", C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München 2003.

Frankfurter Rundschau, 17. Juli 2003
Original: http://www.frankfurterrundschau.de/ressorts/nachrichten_und_politik/dokumentation/?sid=f3b700d15472c8b6c9c3137fcfc3d2f5&cnt=251741&page=1

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