Die gesundheitlichen Testmethoden werden immer ausgeklügelter, aber klare rechtliche Regelungen zum Schutz der Privatsphäre des Arbeitnehmers fehlen. Gentests lassen sogar die drohende Vision einer gesundheitsspezifischen Klassengesellschaft aufscheinen: Wer durchfällt, hat auf dem Arbeitsmarkt keine Chance.
Jahrelang war es Praxis insbesondere in südlichen Bundesländern, Führerscheinbesitzern, die beim Drogenkonsum oder -besitz ertappt wurden, generell die Eignung zum Führen eines Fahrzeuges abzusprechen und zum so genannten "Idiotentest" zu schicken. Der Grund: Wer mit illegalen Drogen zu tun hat, könne sich auch nicht beim Autofahren unter Kontrolle halten. Derart einfach gestrickt ist die Sichtweise vieler Arbeitgeber, die Drogenscreenings bei den Bewerbern oder bei ihren Bediensteten erzwingen: Wer kifft, Drogen schluckt oder schnupft, der ist einfach zu unzuverlässig, als dass er als Arbeitnehmer toleriert werden könnte. (Drogenscreenings sind die verdachtsunabhängige eventuell gar umfassende Untersuchung der Gesamtheit einer bestimmten Personengruppe auf Drogen.)
Das Bundesverfassungsgericht entschied am 8. Juli 2002 in Sachen Führerschein, dass die bisherige Praxis - allein den unerlaubten Besitz einer kleinen Menge von Cannabis zum Anlass zu nehmen, Fahrerlaubnisinhabern ihre Fähigkeit zum sicheren Autofahren abzusprechen - verfassungswidrig ist.
"Datenkraken" in der Arbeitswelt (. . .) Zu Drogenscreenings bei der Arbeit gibt es bisher nur eine singuläre höchstrichterliche Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, die solche Untersuchungen grundsätzlich für unzulässig erklärt. Dem steht eine immer weiter um sich greifende Praxis insbesondere bei großen Unternehmen gegenüber. Im Jahr 2002 wurde die "Bayer Aktiengesellschaft" mit dem "Big Brother Award 2002" als "Datenkraken" in der Kategorie "Arbeitswelt" prämiert, wegen der bis heute gepflegten Praxis, bei Auszubildenden einen "freiwilligen" Urintest zur Feststellung von Drogenkonsum einzufordern. Die Praxis der Drogenscreenings finden wir auch bei den Konkurrenten BASF und Höchst, bei Daimler-Chrysler, bei der Deutschen Bahn AG, bei Bosch, den Heidelberger Druckmaschinen, manchen Stadtwerken oder bei Volkswagen.
Sicher: Drogenkonsum hat auf der Arbeit ebenso wenig verloren wie im Straßenverkehr. Doch wird damit nicht die aktuelle Arbeits(un)fähigkeit festgestellt, sondern nur, ob der Mitarbeiter während der Nachweiszeit bestimmte Substanzen konsumiert hat. Und die Nachweiszeiten von Drogen sind unterschiedlich: Viele gefährliche Drogen sind nur ein bis vier Tage nachweisbar, während das vergleichsweise harmlose Marihuana mehrere Wochen lang im Urin belegt werden kann. (. . .)
Dass Drogensceenings zur Verbesserung der Arbeitssicherheit beitragen, konnte bis heute statistisch nicht nachgewiesen werden. Diese Screenings wirken aber selektiv und diskriminierend. Ihr Effekt liegt in der Disziplinierung besonders der einfachen Mitarbeiter bis hinein in den Bereich ihres Privatlebens. Private Konsummethoden werden plötzlich für das Arbeitsleben relevant, auch wenn diese nicht ansatzweise eine Auswirkung auf die Arbeit haben. (. . .)
Drogenscreenings sind Beleg für zwei neue Tendenzen im Arbeitsleben: Sie werden als Gesundheitscheck durchgeführt. Der Konsum von Drogen - legal oder illegal - allein kann aber noch nicht als Krankheit gewertet werden. Von einer Krankheit kann erst im Fall einer Abhängigkeit gesprochen werden. Eine solche Abhängigkeit lässt sich nicht mit den praktizierten, vergleichbar einfachen Messmethoden feststellen.
Auch in anderen Bereichen ist die Aufhebung der klaren Trennung zwischen "gesund" und "krank" festzustellen, z. B. bei den Angeboten von Krankenkassen oder bei besonderen Prämienpflichten für bestimmte Umstände und Verhaltensweisen bei privaten Kranken- und Lebensversicherungen. Es gibt keine klare Trennung zwischen Gesundheit und Kranksein; diese Grenze wird nicht ausschließlich medizinisch, sondern immer auch gesellschaftlich definiert. Und zweifellos hat die Lebensführung eines Menschen direkte Auswirkungen auf sein Risiko zu erkranken.
Eine klare rechtliche wie gesellschaftliche Abgrenzung ist aber nötig, um zu vermeiden, dass besondere Formen der Lebensführung oder besondere persönliche Merkmale als Krankheit ausgegrenzt werden. (. . .) Zweitens: Die Fortschritte in Medizin und Biotechnologie machen es immer einfacher und billiger, zunehmend aussagekräftige Feststellungen über den körperlichen und seelischen Zustand eines Menschen bzw. Arbeitnehmers zu treffen. Was liegt da für einen Arbeitgeber näher, als diese technischen Möglichkeiten zu nutzen, um die Produktivität zu steigern, Risikopersonen auszusondern und die Arbeitnehmerschaft bzw. deren Einsatz gesundheitlich zu optimieren? Einer solchen Beschäftigtenoptimierung steht entgegen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur als Produktionsmittel behandelt werden dürfen; sie sind Menschen mit einer personalen Würde, mit einem Anspruch auf Privatsphäre und mit Freiheitsrechten. (. . .)
Nur dort, wo direkte negative Effekte auf die Arbeit festzustellen sind, dort kann und darf unter Abwägung der Interessen beider Seiten sich der Arbeitgeber z. B. auch für die Gesundheit der Mitarbeiter interessieren. Solche Auswirkungen sind gegeben, wenn eine Ansteckungsgefahr bei der Kundenschaft oder im Kollegenkreis besteht oder wenn durch Gesundheitsbeeinträchtigungen Risiken für die Produktqualität oder im Arbeitsablauf entstehen. Natürlich ist einem alkoholabhängigen Mitarbeiter der arbeitsbedingte Zugang zu hochexplosiven Stoffen zu verweigern. Natürlich darf die Gefahr epileptischer Anfälle zu einem Betätigungsverbot bei Berufspiloten führen. Aber es geht den Meister nichts an, wenn ein Lehrling in seiner Freizeit ab und zu einen Joint raucht.
Die medizinische Privatsphäre Unser Arbeitsrecht kennt zu dem Spannungsverhältnis zwischen privater Gesundheit und arbeitsrechtlich relevanter Krankheit, zum Verhältnis von Offenbarungspflicht und Geheimhaltungsrecht des Arbeitnehmers in Sachen Gesundheit nur wenige Regelungen. Dennoch hat sich durch eine sehr ausdifferenzierte Rechtsprechung ein relativ funktionsfähiges Gesamtgefüge entwickelt. Es ist weniger die Verschlagenheit der Arbeitgeber, die das empfindliche Gleichgewicht zwischen gesundheitlicher Privatheit und Transparenz im Verhältnis Arbeitgeber - Arbeitnehmer gefährdet als die technische Entwicklung.
Der medizinische Fortschritt mag für die Patienten im Hinblick auf die verbesserten Behandlungsmöglichkeiten ebenso ein Segen sein, wie der technische Fortschritt bei der Gestaltung der Arbeitplätze die Risiken für die Gesundheit zurückdrängt. Hinsichtlich des Schutzes der medizinischen Privatsphäre ist der Fortschritt aber eine gewaltige Herausforderung.
Dies ist ein zentraler Hintergrund für die Erwägung der Europäischen Kommission, von den EU-Staaten den Erlass von Regelungen zum Schutz von Arbeitnehmer-Daten zu fordern. Neben der Problematik, dass im Arbeitsverhältnis selten freiwillige Einwilligungen möglich sind, und dem zunehmenden Umstand technischer Überwachung am Arbeitsplatz sind die Verarbeitung medizinischer Daten und die Durchführung von Drogen- und Gentests die Auslöser, eine entsprechende Richtlinie vorzubereiten. Ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, seit knapp zwanzig Jahren von schwarz-gelben und rot-grünen deutschen Bundesregierungen immer wieder angekündigt und versprochen, ist weiterhin nicht in Sicht. Angesichts des Auseinanderklaffens von Recht und Praxis, z. B. bei den Drogenscreenings, wird dieser Mangel immer mehr zu einem Problem. Durch das Verschwimmen der Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit und den immer ausgefeilteren medizinischen Prognosemöglichkeiten droht unsere Gesellschaft in zwei Lager zu zerfallen: Gesunde werden beschäftigt, tatsächlich oder potenziell Kranke bleiben arbeitslos. (. . .)
Die Verwertbarkeit hoch qualifizierter Arbeitskraft wird bei uns u. a. dadurch erhalten, dass sie frühzeitigen, differenzierten prognostischen Gesundheitschecks ausgesetzt wird. Wer bei diesen sehr berufs- oder gar arbeitsplatzspezifischen Checks mehrfach durchfällt, hat auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr. Wohl lassen sich bestimmte körperliche oder seelische Defizite durch andere besondere arbeitsrelevante Vorzüge kompensieren. Und sicherlich liegt es auch im Interesse des Arbeitnehmers, dass sich seine gesundheitlichen Dispositionen mit den Anforderungen des Arbeitsverhältnisses vertragen.
Doch wird das Abchecken diskriminierend, wenn es sich nicht mehr an realen Erkrankungen und einfach messbaren körperlichen Zuständen orientiert, sondern am Messen psychischer Kompetenzen und noch nicht manifester, disponierter Anlagen. Diese Verfahren sind einer individuellen Hinterfragung durch den einzelnen Arbeitnehmer, der kein ausreichendes medizinisches, biotechnisches oder psychologisches Wissen hat, nicht mehr zugänglich. Sie können nur schwer durch kollektive arbeitsrechtliche Mechanismen überprüft werden.
Doch gerade hierin liegt im Verhältnis von gesundheitlicher Privatheit und Transparenz eine zentrale Aufgabe von Betriebsrat und Gewerkschaften: die Diskriminierungsfreiheit und Rationalität psychologischer und medizinischer Untersuchungen zu hinterfragen. (. . .)
Risiko Gentest Die Gefahr realisiert sich derzeit in Psychotests oder in den Drogenscreenings. Mittelfristig geht aber insofern von den genetischen Arbeitnehmerchecks noch ein erheblich größeres Risiko aus. Dabei kulminieren in absehbarer Zeit die dargestellten Tendenzen: Genetische Prognosen bezüglich der Vermarktbarkeit als Arbeitskraft erlauben nicht mehr nur kurz- und mittelfristige, sondern Langzeitaussagen über den Arbeitnehmer. (. . .) Sie sind nicht mehr bzw. kaum vom Arbeitnehmer durch besonderen Fleiß oder durch besonderes gesundheitliches Engagement kompensierbar. Sie sind schicksalhaft und scheinbar unveränderbar. (. . .) Haben wir derzeit schon Ansätze einer gesundheitsspezifischen Klassengesellschaft, so droht uns mit der Genomanalyse im Arbeitsbereich die genetische Klassengesellschaft, wenn nicht früh gegengesteuert wird. Derzeit überschreiten die Kosten genetischer Untersuchungen meist noch den ökonomischen Nutzen, den sie versprechen. Mit der Weiterentwicklung der Gen-Chip-Technologie und der Ausdifferenzierung genetischer Dispositionsanalysen wird sich dies binnen kurzem ändern. Insofern hat die zunächst sehr individualrechtlich scheinende Argumentation des Arbeitnehmerdatenschutzes gerade im Gesundheitsbereich eine eminent gesellschaftspolitische Bedeutung. (. . .)
* Zum Autoren Dr. jur. Thilo Weichert ist Jurist und Politologe. Er war in den 80er Jahren Rechtsanwalt und Politiker in Baden-Württemberg. Er ist seit 1990 Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Datenschutz (DVD) und nach Tätigkeiten in Dresden und Hannover seit 1998 stellvertretender Landesbeauftragter für den Datenschutz Schleswig-Holstein bzw. stellvertretender Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein in Kiel (www.datenschutzzentrum.de).
Thilo Weichert
Frankfurter Rundschau
, 24. Januar 2004
Original: http://www.linxxnet.de/aktuell/25-01-04_glaeserner-arbeitnehmer.htm