Der EU-Ministerrat erhält den Big-Brother-Award für die von ihm verantwortete EUTerrorliste. Darin werden zahlreiche Organisationen und Einzelpersonen als "terroristisch" eingestuft und gravierenden Sanktionen unterworfen, die zwangsläufig zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen.
Diese Datensammlung ist weder demokratisch legitimiert noch unterliegt sie einer demokratischen Kontrolle. Lange Zeit ist den Betroffenen noch nicht einmal rechtliches Gehör gewährt, geschweige denn Rechtsschutz gegen die amtliche Stigmatisierung zugestanden worden.
Als Reaktion auf die Anschläge vom 11.09.2001 erließ die EU eine Verordnung (Nr. 2580/2001), nach der allen Mitgliedsstaaten, ihren öffentlichen und privaten Institutionen sowie allen Bewohnern untersagt wird, Terrorismusverdächtigen und deren Organisationen Gelder und sonstige Finanzmittel zur Verfügung zu stellen oder mit ihnen Geschäftskontakte zu knüpfen. Seitdem werden durch Beschlüsse des EU-Ministerrates Terrorverdächtige oder mutmaßliche Unterstützer in eine "Schwarze Liste" aufgenommen, die immer wieder aktualisiert wird. [1]
In ihr sind im Laufe der Jahre zwischen 35 und 46 Einzelpersonen aufgelistet worden sowie zwischen 30 und knapp 50 Organisationen: [2] Dazu gehören die baskische Untergrundorganisation ETA und ihr zugerechnete Einzelpersonen, die radikalislamische Hamas, die arabischen Al-Aqsa-Brigaden, die linksgerichtete türkische DHKP-C oder die kurdische Arbeiterpartei PKK – aber auch deren Nachfolgeorganisationen Kadek und Kongragel und zwar ungeachtet der Tatsache, dass diese in Europa immer wieder friedenspolitische Aktivitäten entfaltet haben; außerdem zählt dazu die iranische Widerstandsorganisation der Volksmudjahedin, obwohl diese in Europa keine Gewaltakte begeht, sich weitgehend friedlich und legal verhält. [3]
Aber auch Einzelpersonen sind betroffen – so etwa der philippinische Professor José Maria Sison. Der 66jährige Schriftsteller und Gründungsvorsitzende der philippinischen Kommunistischen Partei saß von 1977 bis 1986 unter dem philippinischen Diktator Marcos in Folterhaft und floh Ende der 80er Jahre vor der andauernden Verfolgung nach Holland, wo er seitdem als anerkannter politischer Flüchtling lebt. Der EU-Ministerrat setzte ihn am 28.10. 2002 als angeblich verantwortlichen Führer der militanten philippinischen Befreiungsbewegung New People’s Army auf die Terrorliste. Diese Entscheidung ist dem Betroffenen damals offiziell nicht mitgeteilt worden.
Die EU-Terrorliste wird von einem geheim tagenden Gremium des Ministerrates erstellt. Die Entscheidungen erfolgen im Konsens, wobei die für eine Listung vorgebrachten Verdachtsmomente und Indizien zumeist auf dubiosen Geheimdienstinformationen einzelner Mitgliedsstaaten beruhen. Eine unabhängige Beurteilung der Fälle auf Grundlage von gesicherten Beweisen findet jedenfalls nicht statt – weshalb der vom Europarat beauftragte Sonderermittler, Dick Marty, mit Entsetzen feststellt: Er habe selten "etwas so Ungerechtes erlebt, wie die Aufstellung dieser Listen", deren Verfahren er als "pervers" bezeichnet. [4]
Dick Marty, der durch die Untersuchungen zu den illegalen CIA-Geheimflügen und Gefängnissen bekannt geworden ist, hält das Listungsverfahren für höchst fehleranfällig: So reichten schon einfache Verdächtigungen aus oder es komme zu Namensverwechslungen, so dass auch völlig Unbeteiligte auf die Liste geraten können; in solchen Fällen müssen die Betroffenen unter widrigsten Umständen ihre Unschuld nachweisen. [5]
Bei Organisationen ist die Einschätzung oft schwierig, ob es sich um eine Terrorgruppe oder um berechtigten Widerstand gegen Diktaturen oder um eine legitime Befreiungsbewegung handelt – nicht selten hängt die Einstufung von politischen (Vor) Urteilen, internationalen Beziehungen und ökonomisch-militärischen Interessen ab. So galt etwa der Befreiungskampf des militanten ANC gegen das südafrikanische Apartheidsystem im Westen lange Zeit als "terroristisch" – und Nelson Mandela landete als "Terrorist" auf der Terrorliste der USA, von der er erst dieses Jahr (2008), kurz vor seinem 90. Geburtstag, wieder gestrichen wurde.
Hinsichtlich der verhängten Sanktionen spricht Marty von "ziviler Todesstrafe" und schildert Ende 2007 in einem Bericht sehr anschaulich, [6] was eine Aufnahme in die EU- oder auch in die UN-Terrorliste für Betroffene bislang bedeutete: [7] Sie wurden nicht verständigt, sondern erfuhren davon, wenn sie etwa eine Grenze überschreiten oder über ihr Bankkonto verfügen wollten. Es gab keine Anklage, keine offizielle Benachrichtigung, kein rechtliches Gehör, keine zeitliche Begrenzung und keine Rechtsmittel gegen diese Maßnahme. Wer einmal auf der Liste steht, hat kaum mehr eine Chance auf ein normales Leben. Er ist quasi vogelfrei, wird politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert.
Das gesamte Vermögen wird eingefroren, alle Konten und Kreditkarten werden gesperrt, Barmittel beschlagnahmt, Arbeitsund Geschäftsverträge faktisch aufhoben; weder Arbeits entgelt noch staatliche Sozialleistungen dürfen noch ausbezahlt werden; hinzu kommen Passentzug und Ausreisesperre sowie geheimdienstliche Überwachungsund polizeiliche Fahndungsmaßnahmen. Mit dem Verweis auf die Terrorliste werden Vereins- und Wohnungsdurchsuchungen, Beschlagnahmungen, Festnahmen oder erkennungsdienstliche Maßnahmen begründet und auch härtere Strafen gegen Aktivisten verhängt. Zu den Fernwirkungen zählen die Verweigerung von Einbürgerungen und Asylanerkennungen sowie der Widerruf des Asylstatus von Mitgliedern oder Anhängern gelisteter Gruppen – was hierzulande, unter Berufung auf die EU-Terrorliste, in zahlreichen Fällen geschehen ist. [8]
Alle EU-Staaten, alle Banken, Geschäftspartner und Arbeitgeber, letztlich alle EU-Bürger sind rechtlich verpflichtet, die drastischen Sanktionen gegen die Betroffenen durchzusetzen, ansonsten machen sie sich strafbar. Um dies zu vermeiden, setzen zahlreiche Behörden und Unternehmen teure Spezialsoftware ein, um die personenbezogenen Daten ihrer Kunden, Lieferanten und ihres Personals mit der Terrorliste in der jeweils aktuellen Fassung ab zugleichen. [9]
Als José Maria Sison auf die EU-Terrorliste gesetzt worden war, ist seine bürgerliche Existenz von einem Tag auf den anderen praktisch ausgelöscht worden. Die niederländische Regierung strich ihm die monatliche Sozialhilfe. Seine Konten wurden gesperrt. Allen Finanzdienstleistern, auch der Krankenversicherung, sowie anderen Handelspartnern ist bei Strafe untersagt, Verträge mit ihm abzuschließen oder Leistungen an ihn auszuzahlen. Er sollte sogar aus dem Haus ausziehen, in dem er und seine Familie eine Sozialwohnung bewohnen – aus rein humanitären Gründen durfte er dort wohnen bleiben.
Seine Anwälte kämpfen seit Oktober 2002 gegen die Entscheidung des Ministerrates. Sie erhielten keine Einsicht in die Akten, weil diese der Geheimhaltung unterliegen. Eher zufällig erfuhren sie aus seiner "Ausländerakte", dass Geheimdienstinformationen vorlägen, wonach der Professor Chef der im Untergrund kämpfenden New People’s Army auf den Philippinen sei – obwohl er doch nachweislich seit fast zwei Jahrzehnten in den Niederlanden lebt und zuvor zehn Jahre entweder in Haft gesessen oder unter Überwachung des philippinischen Staates gestanden hatte.
Dieser Fall ist vielleicht der drastischste. Aber auch die Folgen für andere gelistete Personen und Organisationen sind gravierend – mit unmittelbaren Auswirkungen auf deren Familien und Anhänger, deren soziale und wirtschaftliche Existenz damit in höchstem Maße beeinträchtigt und beschädigt wird. Manches Mal eilen Freunde und Bekannte den Geächteten zu Hilfe – was einem Akt zivilen und humanitären Ungehorsams gleichkommt, denn sie setzen sich dem schweren Verdacht der Terroristenunterstützung aus oder machen sich gar strafbar.
Die EU greift mit ihrer Terrorliste im "Kampf gegen den Terror" gewissermaßen selbst zu einem Terrorinstrument aus dem Arsenal des sogenannten Feindstrafrechts – eines menschenrechtswidrigen Sonderrechts gegen angebliche "Staatsfeinde", die praktisch rechtlos gestellt und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Ihre drakonische Bestrafung erfolgt vorsorglich und wird im rechtsfreien Raum exekutiert – ohne Gesetz, ohne fairen Prozess, ohne Beweise, ohne Urteil und ohne Rechtsschutz. Ein Serienkiller habe mehr Rechte, so Dick Marty, als ein Mensch, der auf einer Terrorliste steht. Das haben inzwischen auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates und der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof erkannt.
Trotz der systematischen Entrechtung der Gelisteten sind beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einige Klagen von Betroffenen eingegangen. [10] Und auch Urteile gibt es inzwischen, mit denen die Aufnahme bestimmter Personen und Organisationen auf die Terrorliste und das Einfrieren ihrer Gelder für rechtswidrig und nichtig erklärt werden. Ihr Anspruch auf rechtliches Gehör und effektive Verteidigung, so die Richter, sei grob missachtet worden. So ist mittlerweile die Aufnahme der iranischen Volksmudjahedin, der kurdischen PKK und der niederländischen Stiftung Al-Aqsa in die EU-Terrorliste ebenso für rechtswidrig und nichtig erklärt worden wie die von Jose Maria Sison. Zwar sind die Betroffenen inzwischen pro forma benachrichtigt und angehört worden, doch konkrete Abhilfe geschaffen wurde nicht: Weder wurden sie von der Liste gestrichen noch die eingefrorenen Mittel wieder frei gegeben oder die Sanktionen aufgehoben. Und so ist auch Professor Sison weiterhin auf der Terrorliste zu finden, nunmehr im sechsten Jahr.
Das heißt: Die Geheimgremien des EU-Ministerrats sind in ihrem nach wie vor undemokratischen Listungsverfahren – ohne Anflug von Unrechtsbewusstsein – stur bei ihren ursprünglichen Beurteilungen geblieben. Die Verfemten blieben also verfemt – mit allen freiheitsberaubenden Konsequenzen, unter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und die Europäische Menschenrechtskonvention. [11] Und ohne Aussicht auf Entschädigung, selbst wenn sich die Sanktionen im Nachhinein als ungerechtfertigt herausstellen.
"Herzlichen Glückwunsch" für diese antiterroristische Meisterleistung.
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist in Bremen, Vizepräsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte", Berlin, seit 2007 stellv. Richter am Staats gerichtshof der Freien Hansestadt Bremen sowie Mitglied und stellv. Sprecher der De putation für Inneres der Bremer Bürgerschaft. Sachverständiger in Gesetzgebungsver fahren des Bundesund von Landtagen, u.a. zu den Antiterror- Gesetzen. Mitherausgeber des "Grundrechte-Reports". Mitglied in der Jury zur Vergabe des "BigBrotherAwards". Autor zahlreicher Sachbücher zu Bürgerund Menschenrechts themen, zuletzt: Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der "Heimatfront", Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2007. www.rolf-goessner.de
[1] Vgl. Council Decision of 15 July 2008, und Concil Common Position 2008/586/CFSP of 15 July 2009, in: Official Journal of the European Union v. 16.07.2008, L 188/21 und L 188/71. Ergänzend hierzu listet die EG-Verordnung Nr. 881/2002/EG bestimmte Personen auf, die mit Usama Bin Laden, dem "Al-Qaida"-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen.
[2] Stand 16.07.2008: 46 Personen und 48 Gruppen und Stiftungen; vgl. European Union – Factsheet: The EU List of persons, groups and entities subject to specific measures to combat terrorism, 15 July 2008.
[3] Im Mai 2008 hat das britische Berufungsgericht entschieden, die Volksmudjahedin von der britischen Terrorliste zu streichen, weil sie seit 2001 keine Gewalttaten verübt und der Gewalt abgeschworen hätten (ND 9.5.08). Die Qualifizierung der letztgenannten Organisationen als europaweit weitgehend gewaltfrei und friedlich sagt nichts über deren, auch kritikwürdige, politische Ausrichtung und Aktivitäten. Hier geht es lediglich um die Frage, ob eine Aufnahme in die EU- Terrorliste überhaupt gerechtfertigt erscheint und nach welchen Kriterien und unter welchen Bedingungen eine solche Aufnahme entschieden und vollzogen wird.
[4] www.humanrights.ch
[5] Kruse, "Zivile Todesstrafe", in: Süddeutsche Zeitung 12.11.07.
[6] Martys Bericht vom Nov. 2007 trägt die Doc. Nr. 11454. http: /assembly.coe.int/Documents/WorkingDocs/Doc07/EDOC11454.pdf
[7] Ebda. ; die Sanktionen, die aus der UN-Terrorliste resultieren, werden aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtung auch in der EU, zumeist kritiklos und gehorsam, vollzogen – ohne Beweise gegen die Beschuldigten und bislang ohne Rechtsschutz. Dieser Rechtlosstellung hat der Europäische Gerichtshof inzwischen einen Riegel vorgeschoben: vgl. Pressemitteilung Nr. 60/08; Urteil des EuGH v. 3.9.08, Az. C-402/05 P und C-415/05 P.
[8] S. dazu Gössner, "Abschiebungsreife auf Vorrat" und Existenzvernichtung per Willkürakt, in: ders., Menschenrechte in Zeiten des Terrors, Hamburg 2007, S. 176 ff., 186 ff.
[9] S. dazu ausführlich mit zahlreichen Beispielen: Meyer/Macke, Rechtliche Auswirkungen der Terroristenlisten im deutschen Recht, HRRS Dez. 2007, S. 445 ff.
[10] Gössner, a.a. O., S. 194 ff. m.w. N.
[11] Finckh, In Verruf geraten, in: Grundrechte-Report 2008, Frankfurt/M. 2008, S. 168 ff.
Rolf Goessner
Frankfurter Rundschau, 25. Oktober 2008
Original: Nicht bekannt