Angelehnt an die Utopie "1984" von George Orwell, in der eine Gesellschaft unter totaler Überwachung durch Big Brother steht, gibt es seit acht Jahren die Bielefelder "BigBrotherAwards". Eine Jury aus Datenschützern und Bürgerrechtlern kürt Personen, Firmen und Institutionen, die besonders durch die Verletzung von Datenschutz und Bürgerrechten aufgefallen sind. FTD-Online stellt die acht "Preisträger" vor.
Die Novartis Pharma GmbH erhält die Negativ-Auszeichnung für die Bespitzelung von Außendienstmitarbeitern durch Detektive. Agenturen werden damit beauftragt, die Arzt- und Apothekenbesuche der Vertreter minutiös zu protokollieren. Desweiteren verletze die Firma vorsätzlich die zugesicherte Anonymität bei internen Erhebungen, so die Jury.
Die Generalbundesanwältin Monika Harm erhält den BigBrotherAward für ihre Antiterror-Maßnahmen für Gegner des G8-Gipfels. Besonders bemerkswert seien die systematischen Briefkontrollen sowie die Anordnung, bei Gipfelgegnern Körpergeruchsproben aufzunehmen und zu konservieren.
Sie bestellen sich ein zweites Kissen, Champagner aufs Zimmer - das wird alles registriert. Das Hotelpersonal internationaler Ketten wie etwa Hyatt, Mariott oder Intercontinental speichern nicht nur die Ess- und Trinkgewohnheiten, Pay-TV-Nutzung oder Allergien ihrer Gäste, sondern auch die privaten und beruflichen Adressen und Telefonnummern, die sie von da aus kontaktiert haben. Ebenso die Kreditkarten-Daten, Passnummern, Rechnungen - alles was bei einem Aufenhalt zu erfahren ist. Der Grund: ein "Kundenbindungsprogramm", um lukrativen Gästen bessere und gezieltere Angebote machen zu können. Die Daten werden nicht nur in Deutschland, sondern konzernweit gespeichert.
Die Hamburger Behörde für Bildung und Sport hat ein Schüler-Zentralregister eingerichtet. Nach Meinung der BigBrotherAwards-Jury diene dies auch dem Zweck, ausländische Familien ohne Aufenthaltserlaubnis aufzuspüren. Deshalb geht der regionale Anti-Datenschutz-Oscar an die Bildungsenatorin Alexandra Dinges-Dierig (parteilos).
Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) wird für den Gesetzentwurf ge(t)adelt, mit dem in Deutschland die Vorratsdatenspeicherung für Telekommunikations-Verbindungsdaten eingeführt werden soll. Sie ignoriere damit bewusst die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das hatte bereits 1983 im Volkszählungsurteil festgelegt, dass die Sammlung von nicht anonymisierten Daten zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken mit dem Grundgesetz unvereinbar ist.
Der Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) erhielt für die Einführung einer lebenslangen Steuer-Identifikationsnummer für alle Steuerpflichtigen den BigBrotherAward. Sie gleiche einer verfassungsrechtlich unzulässigen Personen-Kennziffer, so die Jury. Zusammen mit der Identifikation per Biometrie und Kameras könnten auch noch finanzielle Transaktionen direkt mit einer Person verknüpft werden.
Die Jury hat entschieden der Deutschen Bahn AG den Negativ-Preis zu verleihen, weil sie "systematisch anonymes Reisen unmöglich macht": durch Automaten ohne Bargeld-Annahme, personilisierten Kauf im Internet, flächendeckende Video-Überwachung sowie einem Chip in der Bahncard 100, der unbemerkt per Funk gelesen werden kann. Der Staatskonzern erhalte so eindeutig zu viele persönliche Informationen, befindet die BigBrother-Jury.
In der Kategorie Technik wird die Planung Transport Verkehr AG (PTV) für ihr System zur individuellen Berechnung der Kfz-Versicherung ausgzeichnet. Mittels eines "Pay as you drive"-Systems ("Zahle wie du fährst"), werden Fahrtroute und Fahrverhalten aufgezeichnet und an die Versicherung übermittelt. Vor allem Fahranfänger sollen so zu gemäßigter Fahrweise motiviert werden. Das System funktioniert über Satelliten-Navigation und Datenübertragung per Mobilfunk. Die Polizei könnte sich direkt auf das Gerät aufschalten, jedes Auto wäre ständig ortbar. Eine Auswertung der Fahrtrouten dürfte noch Monate später möglich sein, so die BigBrotherAwards-Jury
Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) - ein Traumkandidat für den Award, so die Juroren - erhält in diesem Jahr keine Auszeichnung. "Obwohl er den Preis wie kein anderer verdient hätte." Nachdem er im letzten Jahr mit seiner Anti-Terror-Datei schon einen Award abgesahnt hatte, wird ihm in diesem Jahr für die unfreiwillige Mobilisierung oppositioneller Kräfte gedankt, sowie die Ehrenmitgliedschaft in der Deutschen Vereinigung für Datenschutz (DVD) angetragen.
Ulrike Linzer
Financial Times Deutschland, Hamburg, 13. Oktober 2007
Original: http://www.ftd.de/technik/medien_internet/264786.html?nv=sbar