Nach der Schweiz, den Niederlanden und Österreich werden auch in Deutschland die Big Bother Awards des Jahres 2004 verliehen. Die Juroren aus Verbänden, die sich für den Datenschutz (CCC, DVD, Fitug) oder für die Menschenrechte (HU, ILMR) engagieren, vergeben die Preise in einer vergnüglichen Veranstaltung. Sie beginnt zur Stunde unter dem Dach der Ravensberger Spinnerei in Bielefeld und wird als Live-Stream im freien Videoformat Theora von Fluendo verbreitet.
Während die Preise für die Großprojekte Arbeitslosengeld-II (in der Kategorie Behörden und Verwaltung) und elektronische Gesundheitskarte (in der Kategorie Gesundheit und Soziales) wenig überraschen und bekannte Namen ausgezeichnet werden, zeigen die Preisträger in den Kategorien Technik und Kommunikation, wie unbemerkt die Privatsphäre im Alltag schrittweise ausgehöhlt wird. In der Kategorie Technik gewinnt die Firma Canon als Hersteller von Geräten, die bei jeder Kopie eine ID-Nummer des Gerätes auf das Papier setzen. Diese Technik, usprünglich gegen das Fälschen von Banknoten eingesetzt, macht es möglich, dass die Herkunft einer einzelnen Kopie ermittelt werden kann. Erst gestern hatte die Süddeutsche Zeitung berichtet, wie Fahnder Druckfehler von Druckern ausnutzen, um Erpressern auf die Spur zu kommen. Im besagten Zeitungsartikel kritisieren Datenschützer die Erhebung personenbezogener Daten, wenn Händler die ID-Nummern der Drucker und die Adressen der Käufer notieren.
In der Kategorie Kommunikation wurde die Gladbecker Firma Armex ausgezeichnet, die Produkten wie "Track your Truck" und "Track your Kid" vertreibt. Durch die Standortbestimmung des Netzbetreibers wird bei der Suche der entsprechenden SIM-Karte der Kraftwagen oder das Kind bis auf 100 Meter genau geortet, was bei Armex als "zeitgemäße und aus pädagogischer Sicht sanfte Kontrollmöglichkeit der Kinder" lobt. Die simulierte Beruhigung des elterlichen schlechten Gewissens zerstört dabei das Recht auf Privatsphäre, das auch für Kinder gilt: Kinder ab 14 Jahren müssen der Ortung ihrer SIM-Karte oder des Handys zustimmen. Besonders bedenklich erscheint der Jury bei der von Armex angebotenen Technik, dass es relativ einfach ist, einer zu überwachenden Person eine SIM-Karte unterzuschieben. Bleibt die Frage, ob der Ruf zur Vorsicht bei den heutigen überwachungssozialiserten, Handy-begeisterten Kindern nicht auf taube Ohren stößt. Vielleicht hören sie noch Rage Against The Machine singen: "And Orwell's hell, a terror era comin true. But this little brother's watching you too." Hoffnungsvoll geht die Jury davon aus, dass die Kinder bei Peter Lustig gelernt haben, den kleinen Knopf zu bedienen, der das Handy ausschaltet. Jedoch gibt es längst Geräte wie das von Chueh Lee für Nokia entwickelte Kidcom, das keinen Ausschaltknopf mehr hat.
Stimmenlos sind die Beschäftigten der Firma Lidl aus Neckarsulm, die sich gemäß der eigenen Philosophie mit starken Mitarbeitern umgibt. Lidl bekommt den Datenkraken-Preis in der Rubrik Arbeitswelt gleich für ein ganzes Bündel von Maßnahmen, unter denen eine in Tschechien erprobte Verordnung der Jury besonders ins Auge stach. Dort mussten menstruierende Frauen ein Stirnband tragen, das sie berechtigte, auch während der Arbeitszeit die Toiletten aufzusuchen. Neben dieser inzwischen wieder abgeschafften Maßnahme qualifizierte sich Lidl für den Preis mit der Installation von Überwachungskameras, die die Pfandkasse abfilmen sowie der Kleidungs- und Kofferaum-Kontrolle der Mitarbeiter. Besonders störend findet die Jury, dass eine Firma, die die Privatsphäre ihrer Mitarbeiter missachtet, selbst ein großes Geheimnis um ihren Aufbau macht. So ist Lidl unter dem neutralen Namen Alpha Finanz in Nordfriedrichskroog präsent und muss keine Gewerbesteuer zahlen, wie dies Ernst Schmiederer und Hans Weiss in ihrem Buch "Asoziale Marktwirtschaft" enthüllten. Mit einem schwer überschaubaren Geflecht aus mehr als 600 Einzelfirmen und Stiftungen entzieht sich der Billiganbieter jeglicher Publizitätspflicht.
Im Westfälischen beheimatet, macht sich der Big Brother Award immer wieder in der Region beliebt und zeigt, dass die Überwachung bei großen Konzernen, Großstädten und Großprojekten fröhliche Urständ feiert. In diesem Jahr ist es die nahebei gelegene Universität Paderborn, die selbst ernannte "Universität der Informationsgesellschaft", die den Regionalpreis kassiert. Dort sind in Hörsälen und Rechnerräumen Dome-Kameras installiert worden, um den Studierenden ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Dabei moniert die Jury besonders, dass die Universität Paderborn den selbst gesetzten Anspruch nicht richtig verstanden hat, eine Universität der Informationsgesellschaft zu sein. Die installierte Videotechnik zeichnet eher die Leitidee einer Überwachungsgesellschaft. Wie der Regionalpreis, so hat auch der Preis für den schlechtesten Verbraucherschutz seine Tradition bei den deutschen Big Brother Awards. Seitdem dieser Preis verliehen wird, gibt es Jahr für Jahr eine Firma, die die Adressen ihrer Kunden entgegen aller Verinbarungen verkauft. In diesem Jahr ist es die Firma Tchibo, die zwar zusichert, alle persönlichen Daten vertraulich zu behandeln, die der "Tchibo-direct"-Kunden jedoch umstandslos an den Adressenhändler Arvato/AZ direct weiterverkauft.
Einen besonders schaurigen Preis hat diesmal die Kategorie Politik zu vergeben. Bundesjustizministerin Zypries erhält ihn für ihr Beharren, am Großen Lauschangriff festzuhalten, obwohl dieser in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes am 3. März kritisiert wurde. Das Minderheitsvotum der Richterinnen Hohmann-Dennhardt und Jaeger in der Beurteilung des großen Lauschangriffes liest sich dabei wie eine Kurzbeschreibung der Intentionen, denen der Big Brother Award seine Existenz verdankt: "Wenn (...) die Intimsphäre () kein Tabu mehr ist, vor dem das Sicherheitsbedürfnis Halt zu machen hat, stellt sich (...) die Frage, ob das Menschenbild, das eine solche Vorgehensweise erzeugt, noch einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie entspricht." Es sei insofern "nicht mehr den Anfängen, sondern einem bitteren Ende zu wehren." (Detlef Borchers) / (jk/c't)
Heise Online, Hannover
, 29. Oktober 2004
Original: http://www.heise.de/newsticker/meldung/52728