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Wenn Datenkraken Preise erwarten: die Big Brother Awards 2006

Zur Stunde beginnt in der Ravensberger Spinnerei in Bielefeld die feierliche Verleihung der deutschen Big Brother Awards 2006. Zum siebten Mal werden Datenkraken auf einer der Oscar-Verleihung nachempfundenen und aufwendig gestalteten Gala "geehrt", die im letzten Jahr 150.000 Euro verschlungen hätte, wenn denn alle Beteiligten Lohn für ihre Arbeit verlängt hätten. Die Veranstaltung ist als gebührenfreier Stream im Internet zu empfangen.

Während die US-amerikanischen Awards schwächeln, ist man in Mitteleuropa mit Eifer bei der Sache. 350 Vorschläge musste die deutsche Jury begutachten und vor einigen sogar kapitulieren, obwohl die Vorschläge das Kriterium des Negativ-Preises erfüllen, dass der Datenschutz nicht ernst genommen wird. So wurde mehrfach die brandenburgische E-Mail-Affäre um den ehemaligen CDU-Generalsekretär Sven Petke für den Datenkrakenpreis nominiert, doch von der Jury abgelehnt: "Die Geschichte ist so kriminell, dass wir uns in diesem Fall nicht mehr zuständig fühlen", erklärte ein Jurymitglied vorab gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Aber die Juroren, die traditionell von FoeBuD, dem Chaos Computer Club, der Deutschen Vereinigung für Datenschutz, der Humanistischen Union, der Internationalen Liga für Menschenrechte sowie dem FifF und dem FITUG gestellt werden, hatten auch so genug zu tun. Jeder musste 1700 Seiten Hintergrundmaterial durcharbeiten.

Gerade die Politik sorgte dafür, dass es im Jahr 2006 kein Mangel, sondern ein deutliches Überangebot an Kandidaten für den Big Brother Award gab. Dementsprechend entschied sich die Jury dafür, in der Kategorie Politik gleich zwei Preise zu vergeben. Zum Ausgleich entfiel der Regionalpreis. Mangels eingereichter Nominierungen entfiel auch der Preis in der Kategorie Arbeitswelt. "Auffällig in diesem Jahr ist, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die im Alltag oft gezwungen sind, ihre Bürgerrechte am Fabriktor abzugeben, offenbar scheuen, Vorschläge einzureichen", kommentierte die Jury.

Die Preisträger im Einzelnen

Ein Preis in der Kategorie Politik geht an den bayerischen Innenminister Günther Beckstein als Vorsitzender der Innenministerkonferenz für die Einrichtung der Anti-Terror-Datei und das "Gemeinsame-Dateien-Gesetz". Die einstmals als Islamisten-Datei in die Diskussion eingebrachte Datensammlung wird von der Jury besonders deshalb beanstandet, weil vertuscht werde, dass es sich bei der Datei nicht um eine Speicherung rechtskräftig verurteilter Straftäter handele, sondern um eine Präventivdatei mit Daten von Verdächtigen. Die Erfassung eines bloßen Verdachts zusammen mit einer Einspeicherungspflicht von fast 40 Sicherheitsbehörden schaffe die Gefahr, dass ein großer Datenhaufen entsteht. Außerdem werde die Trennung zwischen Polizei- und Geheimdiensten aufgehoben. Noch bestehe die Hoffnung, dass das Bundesverfassungsericht das entsprechende Gesetz für verfassungswidrig erkläre, meinte die Jury.

Einen weiteren Politikpreis bekommt der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, vertreten durch die Landtagspräsidentin Sylvia Breitscheider, für die Verabschiedung der verdachtsunabhängigen Tonaufzeichnung in öffentlichen Gebäuden, Plätzen und Verkehrsmitteln. Mit dem im Juli verabschiedeten neuen "Sicherheits- und Ordnungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern" (SOG M-V) werde 16 Jahre nach der Vereinigung die Abteilung "Horch" wieder aktiviert, wenn es im Gesetz heißt, dass Bild und Tonaufnahmen offen aufgezeichnet werden dürfen, "sofern Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass an oder in Objekten dieser Art Straftaten begangen werden sollen, durch die Personen, diese Objekte oder anderen darin befindliche Sachen gefährdet sind". Die Freiheitsrechte, für die die Bundesregierung im Jahre 2002 mit dem Slogan "Flirten, Lästern, Tratschen. Und niemand hört mit" geworben habe, werden nach Ansicht der Jury in Mecklenburg-Vorpommern besonders gründlich abgebaut.

Auch in der Kategorie Behörden und Verwaltung ist eine föderale Institution mit einem Preis bedacht worden. Die von der Kultusminister-Konferenz (KMK) geplante Schülerdatenbank ist der Jury einen Award wert. Das vollständige Ignorieren von Datenschutzanforderungen beim Versuch, eine bundesweit einheitliche, lebenslange Schüler-ID einzuführen, sei nur damit zu erklären, dass KMK-Mitglieder keine juristischen Kenntnisse besäßen, wenn sie das deutsche Bildungssystem durchlaufen haben, erklärte die Jury. Sie vermisst bei der Schülerdatenbank die enge Zweckbindung der Daten, ein Zugriffsschutzkonzept und ein Konzept, wie die Daten wieder gelöscht und (von Datenschützern) kontrolliert werden können.

In der Kategorie Verbraucher und Verbraucherschutz darf sich die gesamte deutsche Versicherungswirtschaft über den Erhalt des Big Brother Awards freuen. Die Uniwagnis-Datei, die mit "phonetischer Verschlüsselung" so arbeitet, dass bis jetzt 10 Millionen angebliche Versicherungsbetrüger gespeichert sind, ist eine Datei, in der man nach Recherchen der Jury schnell landen kann. Es reiche aus, wenn man als Zeuge bei einem Unfall ausgesagt hat, der später von einer Versicherung als betrug klassifiziert wird. Noch "besser" ergehe es Inhabern von Rechtsschutzversicherungen: Wer drei Mal nachfragt, ob er in einem bestimmten Fall Rechtsschutz bekommt, wandere in die Uniwagnis-Datei, selbst wenn er den Rechtsschutz nicht beantragt hat.

Wenig überraschend geht der Preis für den schlimmsten Datenkraken in der Kategorie Wirtschaft an die Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunications (S.W.I.F.T.). Sie sorgt seit Monaten für Schlagzeilen, nachdem bekannt wurde, dass sie Bankdaten an amerikanische Behörden weitergibt und diesen Begehrlichkeiten auch weiterhin nachkommen will. Dabei verurteilt die Jury nicht allein die Praxis der illegalen Datenübermittlung, sondern auch die Tatsache, dass SWIFT seine innereuropäischen Daten zu "Sicherungszwecken" auf SWIFT-Server in den USA spiegele. Die deutschen SWIFT-Aufsichtsratsmitglieder Roland Böff (Bayerische Hypo- und Vereinsbank) und Wolfgang Gärtner (Deutsche Bank) dürfen sich über die Preisurkunden aus Bielefeld freuen, stellvertretend für das gesamte europäische Bankwesen, das im Fall des SWIFT-Skandals eine unrühmliche Figur abgegeben habe.

Auch in der Kategorie Technik gibt es einen Stellvertreterpreis. Ihn kassiert die Firma Philips (PDF-Datei) in Vertretung all der Hersteller, die ihre CD- und DVD-Brenner einen Recorder Identification Code (RID) auf die Rohlinge schreiben lassen. Das Schreiben eines RID werde mit der Notwendigkeit begründet, Raubkopierer ermitteln zu können. Dabei sei es in Deutschland nicht strafbar, Musik-CDs oder Filme für den privaten Gebrauch zu brennen. Lediglich der technische Kopierschutz darf nicht umgangen werden. Für diesen aber sei eine RID unerheblich, betonte die Jury.

Eine immer wieder spannende Frage bei der Gala ist nicht nur, wer die "Sieger" sind, sondern wer es schafft, nach Bielefeld zu kommen und den Preis persönlich abzuholen. Bisher hatte nur ein Vertreter von Microsoft im Jahre 2002 den Mut gehabt, zur Preisverleihung zu erscheinen und den höchsten Preis, den Big Brother Award für das Lebenswerk, entgegen zu nehmen. Für diesen Preis, der hohe Anforderungen an Datenschutzverletzer stellt, fand sich 2006 kein geeigneter Kandidat. Microsoft jedenfalls hat aus dem Preis und der allgemeinen Kritik an seiner Geschäftspraxis gelernt: Mit den neuen "Datenschutzrichtlinien für die Entwicklung von Software-Produkten und Dienstleistungen" erntete die Firma dieser Tage Lob und Anerkennung vom unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz.

Die deutschen Big Brother Awards machen in diesem Jahr den Auftakt zu einer Serie von Preisverleihungen. Am 25. Oktober folgt die österreichische Gala, bei der die Preisträgerin in neue Preiskategorie "Pro Stupidiate" (Dümmste Ausrede) bereits bekannt wurde: Brigitte Ederer, Chefin von Siemens Österreich, erhält den Sonderpreis für ihre zur Eröffnung des Biometriezentrums geäußerte Ansicht, dass Technologie-Firmen nicht für den Einsatz der Biometrie verantwortlich seien.

Am 30. Oktober werden zum zweiten Male die tschechischen Awards verliehen, am 16. November sind die Eidgenossen dabei, die auch einen Positivpreis verleihen. Andere Länder bepreisen ihre Datenkraken 2006 erst im nächsten Jahr.

Detlef Borchers

Heise Online, Hannover, 20. Oktober 2006
Original: http://www.heise.de/newsticker/meldung/79815

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