Die Verleihung der Big Brother Awards, der Preise für Personen und Unternehmen, die sich durch einen besonders negativen Umgang mit Daten hervorgetan haben, fand tatsächlich statt. Sie konnte sogar in der ganzen Welt per Livestream im Internet verfolgt werden. Damit müssten sich alle Anhänger der Bielefeld-Verschwörung, die besagt, die Stadt sei eine bloße Erfindung und existiere folglich gar nicht, zumindest virtuell widerlegt fühlen.
Über 250 Vorschläge lagen vor, acht Preisträger wurden ermittelt. So erhielt die Bundesagentur für Arbeit ihren Preis für die »inquisitorischen Fragebögen« zum Arbeitslosengeld II. Um die Kontrolle über die Erwerbslosen zu perfektionieren, greife die Arbeitsagentur auch auf »Antiterrorgesetze« zurück, erklärt das Jurymitglied Rolf Gössner. Danach müssen etwa alle Geldinstitute Informationen über sämtliche Konten aller Bankkunden zum Abruf bereithalten. »Hausbesuche«, die die Bundesagentur zur Überprüfung von Angaben zum Vermögen und zu dem Wohnverhältniss zukünftig abstatten will, dürfte es ohne die Einwilligung der Betroffenen gar nicht geben. Wer diese verweigert, mache sich aber verdächtig, ist sich Gössner sicher.
Ein weiterer unglücklicher Preisträger ist die Armex GmbH. Sie verkauft das Produkt »TrackYourKid«. Statt sie umständlich an der langen Leine zu halten, können Kinder damit ? dem technischen Fortschritt sei Dank ? elektronisch kontrolliert werden. Die Eltern senden der Firma eine Anfrage per SMS und erhalten daraufhin die Position ihres Sprösslings, der dafür lediglich ein Handy bei sich tragen muss. Dies biete keine Sicherheit, sondern greife vielmehr in die Rechte des Kindes ein, kritisiert die Jury. Auch biete das System die Möglichkeit, fremde Handys orten zu lassen, genauer gesagt: die Sim-Karten der Geräte. Die aber ließen sich unbemerkt austauschen. Und wenn in Unternehmen Beschäftigte mit Firmenhandys arbeiten, könnten sie zukünftig mittels »TrackYourKid« perfekt überwacht werden.
»Des Weiteren möchten wir anmerken, dass wir alle willige Untertanen einer Kontrollgesellschaft sind. Nutzen Sie keine Payback-Karten?«, fragte Armex nach der Bekanntgabe der Gewinner und trat damit voll ins Fettnäpfchen. Denn Loyality-Partner, die Betreibergesellschaft der Payback-Karte, erhielt bereits vor vier Jahren einen Big Brother Award. Aus Sicht des Bielefelder Vereins zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD), der alljährlich die Big Brother Awards verleiht, dienen diese Rabattkarten einzig dazu, personalisierte Daten zum Kaufverhalten der Verbraucher zu gewinnen und kommerziell zu nutzen.
Richtig sauer soll die Supermarktkette Lidl auf ihren Preis reagiert haben. Schließlich ist Lidl billig. Den gab es für den »nahezu sklavenhalterischen Umgang mit ihren Mitarbeitern«, wie Rena Tangens vom FoeBuD es formulierte. So sei unter anderem berichtet worden, Lidl verbiete seinen Angestellten in Tschechien Toilettengänge ? mit einer Ausnahme: Weibliche Arbeitskräfte, die gerade ihre Tage haben, dürfen zwischendurch auf die Toilette, wenn sie für alle sichtbar ein Stirnband tragen. Lidl dementiert indes und behält sich rechtliche Schritte vor.
Keiner der Award-Gewinner kam nach Bielefeld, um seinen Preis entgegenzunehmen. Dabei gab es Sekt, leckere Lebkuchen und sogar Datenschutz-T-Shirts zu gewinnen. Vielleicht hörten sie davon, dass bei den Preisverleihungen vor allem schwarz gekleidete Menschen zugegen sein sollen. Die sich bei genauerer Betrachtung jedoch nicht als Autonome, sondern als Angehörige der freien Computerszene identifizieren. Oder aber die Preisträger halten Bielefeld für eine unglückselige Fiktion, die ihnen das Geschäft verderben will.
Manfred Horn
Jungle World, Berlin
, 03. November 2004
Original: http://www.jungle-world.com/seiten/2004/45/4264.php