»Datenschutz bedeutet den Schutz von Menschen- und Persönlichkeitsrechten und nicht etwa den Schutz der Daten selbst.« Mit diesen Worten sprach Jury-Mitglied Rena Tangens die Laudatio zur Verleihung des Big Brother Awards an die Lidl-Stiftung. Alljährlich wird der Negativ-Preis in verschiedenen Kategorien für besonders grobe Verstöße gegen den Datenschutz vergeben. Die Lidl-Kette zeige, dass es dabei keineswegs immer um neueste Technik gehen müsse: In Tschechien verbietet das Unternehmen Toilettengänge in der Arbeitszeit. Für Frauen besteht während der Menstruation eine Ausnahmeregelung: an den fraglichen Tagen haben sie ein Stirnband zu tragen - eklatantes Beispiel für eine Verletzung des Datenschutzes ohne technische Hilfsmittel. Neben Lidl standen weitere Unternehmen am Pranger der Big Brother Awards: Versandhändler Tchibo Direkt versichert seinen Kunden lauthals: »Alle persönlichen Daten werden vertraulich behandelt«, verhökert diese aber heimlich, still und leise an Adresshändler. Etwas fragwürdig erscheint die Nominierung einer Firma, die Eltern die Lokalisierung ihrer Kinder per Mobiltelefon anbietet: Zwar macht erst das Angebot der Firma solche Überwachungsmaßnahmen möglich, in Anspruch nehmen diesen Dienst aber letztlich die Eltern. Ebenso viele Auszeichnungen wie die Privatwirtschaft erhielten öffentliche Institutionen. So sind breite Bevölkerungsteile von den Fragebögen für das ALG II betroffen, die umfassende Angaben nicht nur zu den eigenen Lebens- und Vermögensverhältnissen verlangen, sondern auch zu denen von Verwandten oder Mitbewohnern. Sogar nach Einsicht der Bundesagentur für Arbeit selbst verstoßen die Bögen in Teilen gegen den Datenschutz, neue seien aber nicht vor Februar verfügbar.
Eine andere Mentalität offenbart das Gesundheitsministerium mit dem »Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenkassen«. Seither rechnen die Kassen nicht mehr anonymisiert ab, sondern verarbeiten ein umfassendes Behandlungs- und Medikationsprofil von Patienten. Damit wird nicht nur die ärztliche Schweigepflicht ausgehebelt, sondern darüber hinaus wird Patienten ein »Morbiditätsfaktor« zugewiesen, kritisiert die Jury. Damit können die individuell in Zukunft erwarteten Krankheiten und deren Kosten eingestuft werden: ein wichtiger Schritt in Richtung Mehrklassenmedizin.
Die Big Brother Awards zeigen in ihrem Auswahlspektrum, wie Verstöße gegen die informationelle Selbstbestimmung weit in alle Lebensbereiche eingreifen. Die verliehenen »Preise« verleiten zu einem Szenario: Wir sehen das per Handy überwachte Kind, das später womöglich als ALG II-Empfänger seine Vermögensverhältnisse darlegt, während man seine Einkaufsgewohnheiten per Adresskauf bei Tchibo erfahren kann. Wenn dieser Mensch dann schließlich als bettlägeriger und gläserner Patient der Kasse zu teuer wird, braucht es keinen geheimdienstlichen Big Brother mehr, um einen Menschen bis in den letzten Winkel seiner Persönlichkeit auszuspionieren.
Martin Brust
Unbekannt, 05. November 2004
Original: Nicht bekannt