Der "Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs" (FoeBuD e.V.), der die fortlaufende Verwicklung von Technik und Politik in Bürgerrechte verfolgt, zu Gefahren von staatlicher und privater Überwachung recherchiert und sich beratend und journalistisch gegen die Entwicklung eines Überwachungsstaates einsetzt, vergibt jedes Jahr für Deutschland den BigBrotherAward für die unersättlichsten Datenkraken.
Seit dem Jahr 2000 vergibt der kleine Verein, der seit 1987 existiert, den BigBrotherAward, und zwar in sieben bzw. seit 2004 acht Kategorien der Überwachung: Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Kommunikation, Technik, Verbraucherschutz, Regionales und Lifetime. In den letzten Jahren haben die Rubriken ihre Namen verändert. Die Auszeichnungen gingen aber fast immer in die gleichen Ecken der Gesellschaft. Allerdings an die verschiedensten Personen und Einrichtungen. Der Preis ist, wie man sich denken kann, undotiert. Einen Pokal aber gibt es, und der ist eine gesichtslose, an den Beinen gefesselte Metallfigur, die von einer Glaswand mit binärem Code durchschnitten wird.
In diesem Jahr gewannen die "Saatgut Treuhand Verwaltungs GmbH" in der Rubrik Wirtschaft, die Regierung des Landes Niedersachsen in der Rubrik Verwaltung, der Generalstaatsanwalt von Schleswig-Holstein unter Kommunikation, das WM-Organisationskommitee des DFB im Bereich Vernraucherschutz, der hessische Innenminister im Bereich Politik und die Grundschule Ennigloh bei Bünde im Bereich Regionales, sowie zahlreiche kameraüberwachende Deliquenten in ganz Deutschland unter der Rubrik Technik. Otto Schily erhielt den Preis in der Rubrik "Lebenswerk".
Die PreisträgerInnen der letzten sechs Jahre sind mit Geschichte und Begründung auf der Seite der BigBrotherAwards nachzulesen. Zumindest aber die diesjährigen GewinnerInnen sollen auch hier durch ihr eigenes Handeln bloßgestellt werden.
Die Grundschule Ennigloh gab die persönlichen Daten ihrer SchulanfängerInnen an die Volksbank und die Sparkasse Herford weiter, die daraufhin die Möglichkeit hatten, bei den SchülerInnen ohne die Einwilligung ihrer Eltern für das erste Konto zu werben. Bei seinen Recherchen deckte der Verein ähnliche Vorkommnisse und Köderungen mit Gratiswerbung auf.
Der hessische Innenminister Volker Bouffier erhielt den Preis für die Einführung der "präventiven" Telefonüberwachung, also des Ortens und Abhörens von Mobiltelefonen, und des Speicherns von Autonummernschildern und Gesichtern ohne Verdachtsmoment, sowie der Abnahme des genetischen Fingerabdrucks bei unter 14jährigen straffälligen Kindern unabhängig von der Art ihres Vergehens.
Der DFB triumphierte, weil er, um den Weiterverkauf von WM-Tickets zu unterbinden, für den Kauf eines Tickets die Ausfüllung eines Fragebogens mit persönlichen Daten verlangte, welche "zur Sicherheit aller" an das Unternehmen Phillips, einen Ausrichter der WM, und andere Sponsoren zu Werbe- und Überwachungszwecken weitergereicht wurden. Phillips wiederum entwarf für die Tickets Spionagechips, die Deine persönlichen Angaben mit Deinem Verhalten beim Betreten des Stadions abgleichen. Die Daten werden per Funk an eine Datenverwaltung weitergegeben und betreffen Dein Konsum- und Bewegungsverhalten. Was z.B. macht ein Türke bei einem Spiel Griechenland gegen Frankreich? Bei der Aufdeckung dieses Falls half das "BAFF", das Bündnis Aktiver Fußballfans.
Zahlreiche öffentliche Kameras funktionieren mittlerweile mit einer sog. Mustererkennung. Rennst Du an einem Bekannten vorbei, entdeckst ihn erst dann und kehrst zurück, um bei ihm stehenzubleiben, wird dies in der Mustererkennung als dealertypisches Verhalten registriert und die Polizei alarmiert. Diese Mustererkennung wird bald erstmals am neu gebauten und zur WM 2006 eröffneten U-Bahnhof Brandenburger Tor eingesetzt.
Die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig Holstein erhielt den Preis für die telefonische Verfolgung von potentiellen Zeugen von Verbrechen. Dabei wurden Mobilfunkbetreiber gezwungen, Daten all ihrer Kunden zwecks Handy-Überwachung herauszugeben.
Ministerpräsident Christian Wulf nahm für Niedersachsen den BigBrotherAward entgegen, nachdem er für den 1.1.2006 die Angliederung der bis dato unabhängigen Datenaufsicht an das niedersächsische Innenministerium durchgesetzt hatte. Abgesehen davon, daß dies der EU-Datenschutzrichtlinie widerspricht, ist damit der unabhängige Datenschutz gänzlich ausgeschaltet und kann von der niedersächsischen Landesregierung kontrolliert werden.
Die Saatgut Treuhand Verwaltungs GmbH bekam die Auszeichnung für ihre Spionageaktivität bei zahlreichen Bauen, die daraufhin geklagt hatten. So wurde ohne Verdachtsmoment kontrolliert, ob sie Feldfrüchte aus eingekauftem Saatgut wieder aussäten. Dieses ist nach dem Agrargesetzt verboten. Einzig die Konzerne haben das Recht, ihr Saatgut nachzuproduzieren. Die Natur nicht.
Zu guter letzt erhielt Otto Schily den Preis in der Kategorie Lebenswerk für sein Projekt der europaweiten Überwachung von Telefondaten, die Einführung von biometrischen Daten auf deutschen Personalausweisen, seine Infragestellung des Postens des Bundesdatenschutzbeauftragten, den großen Lauschangriff, bei dem massenhaft Telefone ohne Verdachtsmoment abgehört wurden, und den Beschluß von Überwachungsmaßnahmen am Parlament vorbei. Sein Nachfolger wird sein Werk ohne störende Startschwierigkeiten fortsetzen können.
Bei der Nominierung für den nächsten Award, aber auch bei der jährlichen Arbeit des Vereins kannst Du mithelfen. Hinweise sollten mit dem Namen der Datenkrake, einer ausführlichen Begründung und Links zu benutzten Informationsquellen zugesandt werden.
Weitere Big Brother Awards gibt es in Australien, Dänemark, Frankreich, Belgien, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Japan, Finnland, Österreich, Schweiz, Spanien, Ukraine, Ungarn, den USA und Kanada, Neuseeland, Tschechien und Bulgarien. Sie werden dort von ähnlichen Gruppen vergeben.
Für seine ganzjährige Arbeit unterhält der Verein ein Büro in der Marktstraße 18 in 33602 Bielefeld. Finanzhilfen, sprich Spenden, sind gerne gesehen und erleichtern die Arbeit ebenso wie Informationen zu weiteren Datenkraken. Denn um der anwachsenden Arbeit nachzukommen, braucht der Verein entweder mehr ehrenamtliche Helfer - da bist Du gefragt - oder Deine Spende, um Stellen zu schaffen. Den Kontakt findest Du auf der Seite des Vereins.
Geschichten zu allen ermittelten Datenkraken sind ausführlich auf der Homepage der Awards nachzulesen. Beim Lesen begreift man sehr schnell, daß in unserem Staat alle Mittel vorhanden sind, einen konstitutiven oder privaten Überwachungsstaat einzuführen, daß die Umsetzung dieses Ziels im jeweils eigenen Interesse sowohl von Wirtschaft als auch den Regierungen befürwortet wird, aber daß wir auch einiges dagegen tun und uns mit etwas Vorsicht und Weitblick vor einem Teil der Überwachung schützen können, nämlich dem, der uns nicht aufgezwungen wird. Dem anderen Teil müssen wir zivilen Widerstand entgegensetzen.
Der Soziologe Richard Sennett sagte zur Situation der staatlichen Überwachung sinngemäß: "Der moderne Kapitalismus ist in seiner Grundtendenz antidemokratisch. Er begünstigt das, was ich eine weiche Spielart des Faschismus genannt habe. In der neuen Politik ist das Diktat auf dem Vormarsch - sie führt zu willkürlichen und autoritären Entscheidungen, und ihr ist es völlig gleichgültig, was die Mehrheit der Menschen denkt." Er wird recht haben, aber es liegt an uns, ob ein solches System überdauert.
Fredi Büks
berliner Linker Berliner, Berlin, 29. Oktober 2050
Original: http://www.linker-berliner.de/volltexte/g0510291.html