FoeBuD e.V.  ·  Marktstraße 18  ·  D-33602 Bielefeld
http(s)://www.foebud.org  ·  foebud@bionic.zerberus.de

Den Datenkraken eins auf die Tentakeln

Zum Big Brother Award 2008

Eine Alarmmeldung für Köln vorweg: Im hiesigen Bundesverwaltungsamt – einer de facto geheimdienstlichen „Datenkrake“, die auch für Migrantenüberwachung „zuständig“ ist – soll künftig eine „zentrale Abhöranlage für alle Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder“ eingerichtet werden. Diesen famosen Schäuble-Plan „ehrte“ die Jury des Big-Brother-Award schon einmal vorab mit einer „tadelnden Erwähnung“.

Der schließen wir uns schärfstens an – denn „dat Hätz vun der Welt“ soll Köln schon sein, nicht aber das große Ohr des Überwachungsstaates. Auch sonst förderte der Big Brother Award wieder viele „Aufreger“ zutage. Die Redaktion.

Rosa Riese – reuevoll

Zunächst aber gibt es (fast) etwas Positives zu vermelden: Erstmals in der Geschichte des Big Brother Award hat ein Abgewatschter den „Negativ-Oscar“ für Datenschutzverstöße entgegengenommen und dabei sogar durchaus überzeugend die Rolle des reuigen Sünders gegeben.

Wie ein kleiner Junge, der beim Schokoladenklauen erwischt worden ist, stand, mit nieder- geschlagenen Augen und hängenden Schultern, Dr. Claus-Dieter Ulmer, der oberste Datenschützer der „Telekom“, auf dem Podium. Dabei ist er sicher derjenige Führungsrepräsentant des bekannten Mithör-Unternehmens, der persönlich am wenigsten mit den mafia- und juntamäßigen Lauschaktionen des Konzernvorstandes zu tun hat. Derentwegen ist momentan Schadensbegrenzung durch Renomee-Politur angesagt.

So leuchtet ein, daß ausgerechnet der integre Datenschutz-Experte statt einer der wirklich verantwortlichen „Paten“ diesen respektablen, aber auch deprimierenden Auftritt zu absolvieren hatte. Fast wie im Büßergewande wirkte er trotz seines Maßanzuges, mit gebrochener Stimme betonte er die Wichtigkeit des Datenschutzes. Alles schwieg ergriffen; nur als der wackere Ausputzer die Entschlossenheit des Sympathieunternehmens mit dem halluzinogenen Rosarot gelobte, „noch mehr“ für den Datenschutz zu tun, mußte das Auditorium ausnahmsweise dezent lachen.

Allerdings: Noch gibt es keinen Grund, Kündigungen von Telekom-Verträgen rückgängig zu machen. Zunächst bleibt abzuwarten, ob das Unternehmen wirklich einen externen Datenschutzbeirat einrichten wird, wie es sein Datenschutz-Chef in dieser Stunde der Buße und Umkehr beteuerte. Immerhin zeigte dieser bemerkenswerte Höhepunkt der „Galaveranstaltung“ im großen Saal der „Ravensberger Spinnerei“ erneut: Der Big Brother Award hat Wirkung.

Big Brother Award: Watching Big Brother

Unbehelligt können sie nämlich nicht mehr vor sich hin – und gegen uns – werkeln, die „Datenkraken“ aus Privatwirtschaft, Behörden und „Sicherheitsapparat“. Das kleine Team des Big Brother Award kann zwar nur jeweils ein paar Moleküle aus dem grenzenlosen Ozean kommerziellen Daten-Voyeurismus und amtlicher Spitzelei, der (Grund-) Rechtsverachtung, der Überwachungs-Paranoia zutage fördern.

Aber die preisgewürdigten Exempel haben es ausnahmslos in sich – sie zeigen, gerade in ihrer oft extremen Zuspitzung, welche Richtung und welches Ausmaß die Entwicklung der Datenschutz- und letztlich Verfassungsdemontage aktuell angenommen hat. Solche Einsicht ist nämlich eine zwar nicht ausreichende, aber erforderliche Voraussetzung für die Formierung gesellschaftlicher Gegenwehr.

Auch in diesem Jahr präsentierte die Big-Brother-Jury wieder eine Fülle von – längst zum Normalzustand geronnenen – Datenschutzskandalen und Bürgerrechtsverstößen, die eigentlich Mehrheiten in diesem Land schon im eigenen Interesse auf die Barrikaden treiben müßten.

(Alp-) Traumpaar 2008: Michael und ELENA

So etwa die Dreistigkeit der Bundesregierung, vertreten durch den Big-Brother-„ausgezeichneten“ CSU-Wirtschaftsminister Glos, eine Zentraldatei einzuführen, in der zwangsweise die Einkommensdaten aller ArbeitnehmerInnen gespeichert werden sollen. Allerlei Behörden, ob ARGE oder Verfassungs-„Schutz“, sollen diese monströse Sammlung privatester Lebensdaten grenzenlos ausschnüffeln können. „ELENA“ lautet der charmante Gesetzesname dieses höchst uncharmanten Ausschnüffelungs- und Totalerfassungs-Projektes.

Diese Arroganz eines Allwissenheitsrechte sich anmaßenden Machtstaates fügt sich in einen ganzen Reigen ähnlicher Übergriffe gegen den privaten Lebensbereich, ja die Menschenwürde, ein. Die Zwangszuteilung der berüchtigten (über-) lebenslangen Steuernummer durch SPD-Finanzminister Steinbrück beispielsweise kann man als „Elenas“ häßlichen Schwippschwager betrachten. Dieser Homunculus staatlicher Menschenerfassung wurde als schlecht getarnte, verfassungswidrige Durchnummerierung der Bevölkerung schon mit dem Big Brother Award 2007 „gewürdigt“.

Die EU-„Terrorliste“

Freilich könnte selbst ELENA als Alltagskleinkram erscheinen im Vergleich zu der rabiaten, an Diktaturmaßnahmen grenzenden Entrechtungswillkür im Zusammenhang mit der sogenannten „Terrorliste der EU“. Für diese erhielt der EU-Ministerrat verdientermaßen den Big Brother Award. In dieser wahrhaft „schwarzen Liste“ werden „zahlreiche Organisationen und Einzelpersonen als terroristisch eingestuft und gravierenden Sanktionen unterworfen, die zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen“, so Jurymitglied Rolf Gössner.

Der Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte prangerte an: „Diese Datensammlung ist weder demokratisch legitimiert noch unterliegt sie einer demokratischen Kontrolle. Lange Zeit ist den Betroffenen noch nicht einmal rechtliches Gehör gewährt, geschweige denn Rechtsschutz gegen die amtliche Stigmatisierung zugestanden worden. “ Ein exzessives, aber kennzeichnendes Symptom für den mittlerweile schon galoppierenden Verfall auch nur elementarer „bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit“ stellt dieses Verfahren potentiell lebensgefährdender Brandmarkung dar – das an Polizeistaatsmethoden nicht nur erinnert, sondern diesen schlichtweg entnommen ist.

Für diesen Befund spricht überdies der Umstand, daß die „Terrorliste“, wie Gössner kritisierte, „von einem geheim tagenden Gremium des Ministerrates erstellt wird. “ Dabei, so unterstrich der stellvertretende Richter am Bremischen Staatsgerichtshof die rechtspolitische „Qualität“ dieser Abschußliste, beruhten „die für eine Listung vorgebrachten Verdachtsmomente und Indizien zumeist auf dubiosen Geheimdienstinformationen einzelner Mitgliedsstaaten“.

Vogelfrei dank „Terrorliste“

Was wie das Szenario eines (schlechten) Agentenreißers wirkt, ist allerdings eine „Spitzenleistung“ der sogenannten gemeinsamen Sicherheitsstrategie innerhalb der EU – und kann, wenn politisch irgend opportun, letztlich jeden treffen, dessen Ansichten den einschlägigen Sicherheitskreisen und Polit- Paten vielleicht nicht in den Kram passen. Mit Auswirkungen, die Rolf Gössner so beschrieb:

„Wer einmal auf der Liste steht, ist quasi vogelfrei, wird politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert. Das gesamte Vermögen wird eingefroren, alle Konten und Kreditkarten werden gesperrt, Barmittel beschlagnahmt, Arbeits- und Geschäftsverträge faktisch aufhoben; weder Arbeitsentgelt noch staatliche Sozialleistungen dürfen noch ausbezahlt werden; hinzu kommen Passentzug und Ausreisesperre sowie staatliche Überwachungsund Fahndungsmaßnahmen. “

Vogelfrei wie im Mittelalter und per Computer Elektronik sozial ausradiert – weit hat es der real existierende Big Brother gebracht; jedenfalls weit jenseits aller menschenrechtlicher Mindeststandards. Hier zeigt die „demokratische Wertegemeinschaft“, wozu sie letztendlich fähig und entschlossen ist – einstweilen „nur“ gegen mehr oder minder freihändig als „Terrorverdächtige“ stigmatisierte (Un-) Personen. Darin aber liegt schon eine Drohung, eine Vorwegnahme dessen, was womöglich bald, etwa im Zeichen permanenter Kriegsführung in aller Welt, jedem blühen könnte, der vom vorgeschriebenen Pfad der Untertanentugend abweicht.

Big Brother Award: Anstiftung zu rechtzeitigem Widerstand

Lohnt es sich angesichts solcher Exzesse, sich noch aufzuregen, wenn etwa die DAK intime Patientendaten 200.000 chronisch kranker Versicherter an eine US-Privatfirma namens Healthways Incorporated im schönen Nashville/Tennessee verscherbelt? (Big Brother Award in der Kategorie Gesundheit und Soziales). Oder sich von Yello-Strom, RWE und Co. demnächst nicht zu einem digitalen Stromzähler zwingen zu lassen, mit dem gerätegenau die Gewohnheiten des Stromverbrauchs protokollierbar sind und – so Laudatorin Rena Tangens – eine „detaillierte Überwachung aller Aktivitäten im häuslichen Bereich“ möglich wird? Oder es unverhältnismäßig zu finden, wenn die Polizei in Brandenburg mit Bildern aus der Videoüberwachung nach Kindern fahndet, die einem Mitschüler in der Bahn den Schulrucksack geklaut haben sollen?

Genau dazu aber will der Big Brother Award geradezu anstiften: nicht erst aufzuschreien, wenn die blanke Diktatur vor der Tür steht. Die bereitet sich vielmehr in den vielen kleinen Übergriffen und Rechtsanmaßungen vor, mit denen Staatsinteressenten und Privatprofiteure unsere Privatsphäre verletzen, uns als Handelsobjekt vermarkten, uns zur Nummer degradieren, uns vorab als permanent Verdächtige de facto kriminalisieren. Wenn derlei als Normalität des Alltages sich bis zur Gewohnheit einschleift, könnte es zur Abwehr der autoritären Systemtransformation irgendwann zu spät sein.

Wer weiß, welche „undenkbaren“ Normalitäten der Big Brother Award in, sagen wir, fünf Jahren konstatieren muß – wenn er bis dahin nicht selbst auf irgendeiner „Terrorliste“ gelandet ist. Das aber hängt auch davon ab, ob Datenschutz und Bürgerrechte, mehr noch als bislang, von relevanten Teilen der Gesellschaft, optimal von Mehrheiten, als ihre ureigene Angelegenheit erkannt werden.

Hans-Detlev v. Kirchbach

Neue Rheinische Zeitung, Köln, 29. Oktober 2008
Original: Nicht bekannt

© WWW-Administration, 13 Nov 08