LEVERKUSEN. Mutter ist ganz aufgeregt. Ihr Junge hat heute ein Vorstellungsgespräch bei Bayer. Letzter Check: Anzug adrett? Schuhe geputzt? Urin sauber?
Wer beim Leverkusener Chemiekonzern eine Lehrstelle haben will, wird um eine Urinprobe für ein sogenanntes Drogenscreening gebeten. Damit wird geprüft, ob der Bewerber in letzter Zeit Kokain, Amphetamine oder Cannabis konsumiert hat. Nach dem Test urteilt der Werksarzt "geeignet" oder "nicht geeignet". Theoretisch kann jeder Bewerber den Test ablehnen, dürfte damit aber gegenüber seinen Mitbewerbern ins Hintertreffen geraten.
Der Bielefelder Datenschutzverein Foebud formuliert es drastischer: "Faktisch kann hier von freiwilliger Zustimmung keine Rede sein." Der Verein verleiht im Rahmen des "Big Brother Award" Preise an Firmen, Institutionen oder Einzelpersonen, die es mit Persönlichkeitsrechten und Privatsphäre nicht so genau nehmen sollen. Und in diesem Jahr "gewann" Bayer für sein Drogenscreening den Preis in der Kategorie Arbeitswelt.
In der - sofern man sie so nennen kann - Laudatio verurteilte Foebud den "entwürdigenden" Urintest aus mehreren Gründen. Bayer überschreite persönliche Grenzen und könne die Seriösität der Untersuchung nicht nachweisen, weil etwa auch Müsli-Esser erhöhte Cannabis-Werte haben könnten. Ferner stelle Bayer alle Bewerber unter Generalverdacht, statt zunächst von ihrer Unschuld auszugehen.
Die wichtigste Botschaft, die Bayer und laut Foebud Konzerne wie VW, Höchst oder die Deutsche Bahn mit Drogenscreenings aussenden, ist eine andere: "Du wirst keine Geheimnisse vor uns haben", flüstert das Unternehmen frei nach Schriftstellerin Barbara Ehrenreich mit jeder Urinprobe ins Ohr. Damit weiß der Bewerber schon im Vorfeld, wo es lang geht. Ehrenreich hat für ihr Buch "Arbeit poor" in den USA recherchiert, wo bereits vier von fünf Großfirmen Drogentests durchziehen. Ein Trend, der dort bereits andere nach sich zieht: Der Markt mit Medikamenten, die Drogen aus dem Körper schwemmen, boomt. Und für 69 Dollar ist eine Probe mit garantiert drogenfreiem Urin zu erstehen.
Dass der Big Brother Award kein beliebter Preis ist, versteht sich. Und zeigt sich daran, dass Bayer niemanden zur Verleihung entsandte. Stattdessen verweist der Chemieriese in einer Erklärung darauf, dass seit 1997 eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen bestehe, solche Tests aus Gründen der Arbeitssicherheit durchzuführen. Weitere der insgesamt acht Big Brother Awards erhielten die Post, NRW-Innenminister Fritz Behrens und Microsoft Deutschland. (NRZ)
RALF KUBBERNUSS
Neue Ruhr/Rhein Zeitung, 02. November 2002