Alljährlich wird in Bielefeld der„BigBrotherAward" vergeben, ein Negativpreis für liderlichen Umgang mit Datenschutz. Preisträger unter anderem: die Uni Paderborn.
Die erste Reaktion ist Unglauben. Ein Arbeitgeber der seinen Verkäuferinnen auferlegt, während der Menstruation Stirnbänder zu tragen, um in den Genuss zusätzlicher Toiletten-Gänge in der Arbeitszeit zu kommen?
Da kann die Jury des „Big Brother Award" doch nur einer Falschmeldung aufgesessen sein. Wären da nicht die Quellen, auf die sich die Verleiher des „Oscars für Datenkraken" berufen: Hat die Anweisung, erlassen in tschechischen Filialen des Einzelhandels-Discounters Lidl, im Sommer doch zu erheblichem Wirbel in dortigen Medien geführt. „Die tschechische Presse empörte sich", schrieb die Lebensmittelzeitung, renommiertes Branchenblatt; die tschechische Gewerkschaft Ospo bat die deutsche Partnerorganisation ver.di um Hilfe, diese „protestierte in aller Form". Im August, so die Lebensmittelzeitung, nahm Lidl die Anordnung „in aller Stille" zurück.
Bei Lidl allerdings verwahrt man sich gegen die Vorwürfe. Sie seien „diffamierend und geschmacklos" und entbehrten „jeder Grundlage", heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. Die Jury, getragen vom Bielefelder Verein FoeBuD, hält aber Eingriffe ins Privatleben der Lidl-Angestellten für erwiesen: Der Konzern arbeite systematisch mit verdeckter Videoüberwachung, kontrolliere nicht nur Taschen des Personals sondern auch Pkws und nehme sogar private Treffen zum Anlass für Sanktionen.
Belege für diese Vorwürfe zu finden, ist nicht ganz einfach. Nur unter der Bedingung, anonym zu bleiben, haben etliche Mitarbeiter beispielsweise dem Journalisten Andreas Hamann Auskunft über ihre Arbeitsbedingungen gegeben. „Die haben Angst", sagt Hamann, der derzeit am „Schwarzbuch Lidl" arbeitet, das im Dezember von ver.di herausgegeben werden soll.
In seinem Buch schildert Hamann Fälle wie den der Verkäuferin Christine C., der per versteckter Video-Aufzeichnung ein Diebstahl nachgewiesen werden sollte. Dass versteckt beobachtet wird, bestreitet Lidl auch nicht - allerdings „nur, soweit es um die Überführung von Straftätern geht".
Lidl habe den Preis unter anderem bekommen, weil an dem Fall gezeigt werden könne, dass „Daten nicht um ihrer selbst willen geschützt werden müssen, sondern Datenschutz eine Frage von Persönlichkeitsrechten ist", sagt Laudatorin Rena Tangens.
Um Persönlichkeitsrechte geht es auch bei dem Preis in der Kategorie „Kommunikation": Ausgezeichnet wird das Unternehmen Armex für sein Handy-Suchsystem „Track your Kid". Mit dem System, ausgelegt für die Überwachung von Kindern, werde „mit den Ängsten von Eltern Geld gemacht", heißt es zur Begründung. Wer von Kindesbeinen an an Überwachung gewöhnt werde, könne persönliche Freiheitsrechte auch als Erwachsener kaum als wertvolles Gut begreifen, fürchtet die Jury, in der unter anderem der Chaos Computer Club, die Humanistische Union und die Deutsche Vereinigung für Datenschutz vertreten sind.
Mit Überwachung hat auch der diesjährige „Regionalpreis" zu tun, den die Uni Paderborn bekommt, weil sie in ihren Hörsälen Video-Kameras installiert hat „stellvertretend für den Trend, alles und jedes technisch zu überwachen", wie es padeluun von FoeBuD ausdrückt. Statt die in den Hörsälen installierten Projektoren mit Metallkäfigen vor Diebstahl zu schützen - wie das in anderen Universitäten geschehe - habe man in Paderborn gleich auf Videokameras gesetzt.
Das aber vermittele den Studierenden das Gefühl, „du bist nirgendwo mehr unbeobachtet" - ein Vorwurf, den Uni-Sprecher Tibor Werner Szolnoki für falsch hält: Die Kameras hätten ausschließlich die Projektoren im Blick und taugten nicht für die Rundum-Überwachung. Padeluun widerspricht: „Die verwendeten Dome-Kameras lassen nicht einmal erkennen, wohin sie gerade gucken".
In der Kategorie Verbraucherschutz hält die „Big Brother"-Jury dieses Jahr den Versandhandel von Tchibo für preiswürdig. Tchibo versichere zwar in den Geschäftsbedingungen, man werde die Adressen der Kunden vertraulich behandeln, verkaufe sie aber über das Bertelsmann-Tochterunternehmen AZ direkt - gekoppelt mit Daten über Haushaltseinkommen, Altersstruktur und „Versandhandelsneigung". In der Tat hält sich Tchibo im sehr Kleingedruckten Hintertürchen auf: „Alle persönlichen Daten werden vertraulich behandelt", heißt es zwar im Katalog, aber auch: „Gelegentlich geben wird die Anschriften unserer Kunden an Unternehmen weiter, deren Produkte für Sie interessant sein könnten."
Persönliche Daten weitergeben müssen seit Anfang des Jahres auch Ärzte - nämlich an die jeweiligen Krankenkassen. Abgerechnet wird nicht mehr anonymisiert mit Fallpauschalen, sondern anhand konkreter Patienten - auch sensible Daten wie ungewöhnliches Sexualverhalten gelangten so auf die Schreibtische der Krankenkassen-Sachbearbeiter, fürchtet die Jury: „Die ärztliche Schweigepflicht wird de facto ausgehebelt."
Weitere „Auszeichnungen" gehen an Justizministerin Brigitte Zypries für die Neufassung des Gesetzes zum „Großen Lauschangriff", an die Bundesagentur für Arbeit für die „inquisitorischen Fragebögen", die Arbeitslose ausfüllen müssen, und an die Firma Canon. Deren neueste Farbkopierer drucken auf jede Kopie einen für das bloße Auge nicht erkennbaren Code, der Rückschlüsse auf das Kopiergerät ermöglicht. Das soll Geldfälschern das Geschäft erschweren, sei aber auch ein willkommenes Instrument für andere Formen der Überwachung. In welcher Abteilung wurden beispielsweise die Unterlagen über den betriebsinternen Skandal kopiert, die nun an die Öffentlichkeit gelangt sind? Auch dafür einen „Big Brother Award".
Sigrun Mueller-Gerbes
Neue Westfälische, Bielefeld, 30. Oktober 2004
Original: Nicht bekannt