Gestern wurden in verschiedenen Städten Europas - auch in Zürich - Big Brother Awards verliehen, um auf Datenschutzverletzungen aufmerksam zu machen. In Zürich fand zudem an der ETH ein Datenschutz-Symposium statt. Die verschiedenen Veranstaltungen verfolgten nicht exakt dieselben Ziele, ihre Koinzidenz zeigt aber, dass angesichts der zunehmenden Informatisierung die Sorge um die Privatsphäre steigt.
In seinem Buch «The Database Nation - The Death of Privacy in the 21st Century» beleuchtet der Amerikaner Simon Garfinkel die unvorstellbaren Datenmassen, die Versicherungen, Kreditagenturen, Steuerbehörden und viele andere sammeln, kneten und untereinander austauschen. Jeder Mensch ist ein Datenbündel, das nur richtig gelesen werden muss. Es ist ein sehr amerikanisches Buch vom Ende der Privatsphäre; internationale Beispiele sind die Sache von Garfinkel nicht. Aber die Anleitung für den Kauf des Buches ist international: Kaufen Sie dieses Buch nicht mit ihrer Kreditkarte; nehmen Sie ein öffentliches Transportmittel, wenn Sie zur Buchhandlung fahren; schauen Sie nicht direkt in Videokameras; geben Sie eine falsche Postleitzahl an, wenn die Verkäuferin nach ihr fragt. Big Brother ist bei Garfinkel keine einzelne Behörde ineinem totalitären Staat, keine konkrete Organisation, sondern eine lose Ansammlung von Rechnern, die Datenbestände «abgleichen».
Der Alarmismus, der bei Garfinkel anklingt, weckt diesseits des Atlantiks nostalgische Gefühle: Bücher dieser Art sorgten hier in den sechziger und siebziger Jahren für Aufregung. Verglichen mit den USA in Garfinkels düsterer Beschreibung ist Europa vergleichsweise idyllisch dran. In allen Ländern gibt es Gesetze, die das Datensammeln im amerikanischen Stil einschränken, und es gibt staatlich besoldete Datenschützer, die über die Einhaltung dieser Gesetzewachen. Inspiriert möglicherweise durch Debatten in den USA und Bücher wie dasjenige von Garfinkel, angeregt aber auch durch die Einsicht, dass bei einem weltumspannenden Datennetz nationale Gesetze zu kurz greifen, beginnen sich jedoch auch in Europa die Diskussionen rund um den Datenschutz zu intensivieren.
Vor diesem Hintergrund ist die Verleihung des Big Brother Award ein Symptom: Gleichzeitig wurde dieser Preis gestern Abend in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland verliehen. Jedes Land kürte die schlimmsten Verletzer des Datenschutzes, und jedes Land setzte dabei eigeneAkzente. In der Schweiz wurden die Nominierungen im Vorfeld bekannt gegeben und in aller Öffentlichkeit diskutiert, in Deutschland machte man bis zum Schluss ein grosses Geheimnis daraus. Die Schweiz kennt einen «Winkelried- Award» für Personen, die sich beim Widerstand gegen die Datensammler Verdienste erworben haben, und einen «Lebenswerk-Award», der für lebenslange «Unverdienste» verliehen wird. In Deutschland gibt es auch regionale Preise, die diesmal den Bielefelder Raum berücksichtigen.
Zu den nominierten Schweizer Datensammlern gehören viele Bundesämter und Polizeikommandos, Telekommunikationsunternehmen wie zumBeispiel Swisscom und Sunrise sowie Grosskonzerne wie Migros und Roche. Mit dieserMischung weicht die Schweiz nicht von den anderen Ländern ab, etwa von England. Dort befindet sich die «Wiege» des Big Brother Award, dort wurde er im Jahre 1998 erstmals verliehen.
Wer sieht, wie schwer sich Grossunternehmen tun, ihre verschiedenen Datensammlungen im Rahmen von Data-Warehouse-Projekten zusammenzuführen, wer beobachtet, wie beispielsweise Grossbanken ihre Kunden, für die sie bereits mehrere Kreditkarten-Konti führen, immer wieder aufs Neue von den Vorteilen einer Kreditkarte zu überzeugen suchen, hat es schwer, an die Allmacht der «grossen Brüder» zu glauben. Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass die Möglichkeiten, mit Hilfe des Internets über beliebige Leute aussagekräftige Informationen zu sammeln, immer vielfältiger werden und dass diese Möglichkeiten auch rege genutzt werden.
Viele Surfer denken nicht daran, dass vieles von dem, was sie im Web unternehmen, in Cookies, die auf ihrer Festplatte lagern, dokumentiert wird. Sie wissen nicht, dass sie, wenn sie einen Web-Server kontaktieren, unter Umständen durch Web-Bugs auch noch andere Web-Server mit Informationen über sich versorgen, und sie sind sich nicht bewusst, dass sie, wenn sie irgendwo ihren wahren Namen in ein Formular eintippen, einer Firma möglicherweise den entscheidenden Anhaltspunkt liefern, um die in Cookies gespeicherten oder von Web-Bugs gesammelten Daten zu einem umfassenden Profil zu verdichten.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, bei Streifzügen im Netz seine wahre Identität mit Hilfe von Vermittlern wie Anonymizern zu verbergen (NZZ 19. 3. 99). Diese sind in der Bedienung jedoch umständlich. Es sind deshalb zuerst einmal die Softwarehersteller gefordert. Von ihnen werden Werkzeuge erwartet, um einfach definieren zu können, wem welche Informationen zugänglich gemacht werden sollen. Doch die Anwender selbst sind ebenfalls gefordert: Dass ein Kauf per Karte festgehalten und ausgewertet werden kann, ist noch im Bewusstsein; dass ein Klick mit der Maus auf ein Internet-Angebot eine ähnliche Datenspur erzeugt, wird verdrängt. Einen besonderen Big Brother Award müsste weltweit allen Surfern verliehen werden, die sorglos im Cyberspace herumnavigieren.
Detlef Borchers
Neue Zürcher Zeitung, 27. Oktober 2000