Es ist eine beinahe poetische, eine rührend hilflose Geste: Die alljährliche Verleihung der Big Brother Awards. Unter den Preisträgern dieses Jahr: SWIFT (Übermittlung europäischer Banktransaktionsdaten in die USA), der Landtag Mecklenburg-Vorpommern (Verdachtsunabhängige Tonaufzeichnungen in der Öffentlichkeit), die Bundes-Innenministerkonferenz (Anti-Terror-Datei), die Kultusministerkonferenz (Identitätsnummern und -karteien für Schüler). Sonst und weiter aktuell derzeit: Passagierdatenübermittlung, Elektronische Gesundheitskarte, RFID, Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten…
Das Gesamtbild ist erschreckend und allemal problematisch genug, dass das Thema Datenschutz einen Rang einnimmt wie der Umweltschutz seit Beginn der 80er Jahre. Aber es gründen sich keine Parteien, keine Bürgerbewegung entsteht. Von Fall zu Fall wird ein wenig erörtert, ob dies erlaubt werden kann oder das gerechtfertigt erscheint. Das Gesamtbild wird ausgeblendet - zugunsten der jeweils speziellen Problemlage. Wie könnte so ein Gesamtbild aussehen, das diese Spezialdiskurse ignoriert? Ein pastoraler Versuch.
Es sind ja nicht nur die Daten. Oder anders: Sie selbst sind es. Es ist nicht ihre Fülle, nicht ihre Dichte und Verknüpfung, nicht ihr Zweck. Es geht nicht darum, was mit ihnen angestellt wird – und von wem – nicht ihre Art und Weise zählt, nicht der Minister, der sie zu sammeln befielt, nicht der Großkrämer, der Handel mit ihnen treibt. Es geht nicht um die Furcht, dass plötzlich irgendetwas sich in ein Verhängnis verkehren könnte, dass Gut Böse wird und Schuld, was vorher Unschuld war; dass zum Indizium wird, was vorher gar nichts war. Das ist eine Theater-Szenerie, spektakulär, erregend; das kann man fürchten, oder man fürchtet es nicht. Es kommt nicht darauf an. Es geht um die Daten, um sie selbst: Es ist etwas mit ihnen. Sie krabbeln.
Es handelt sich um ein Gefühl bloß, eine Intuition, überspannt vielleicht, nicht neu, überhaupt nicht neu, eine Ur- und Menschenangst. Erst sagte man Gott – liebend, strafend und erhaben – dann kamen die Daten auf, und Gott bekam etwas Ameisenhaftes, eine Anmutung von Gekrabbel, über und untereinander. Die Alten erfanden für ihr Problem den feinen Gedanken vom „ruhenden Vorherwissen Gottes“. Ihr Problem fing an mit einer Ahnung, einem beunruhigenden Wissen: Gott sieht dich an, er selbst, Er. Schöpfer, Gott: weiß alles, sieht alles, und alles geschieht nach seinem Willen. Wie aber kann der Mensch da frei sein? Wie kann er verantwortlich sein gar – Ihm selbst, der alles stets schon wollte, was geschehen ist? Die Lösung, feinste Kasuistik: Das ruhende Vorherwissen Gottes. Er sieht nicht auf sein Vorherwissen, er setzt es beiseite, sieht davon ab, und sieht hin auf den Einzelnen, fragt ihn: Was tust du? Warum aber? Denn Er ist weise (nach der Voraussetzung) und weiß Bescheid über die zeitlichen Dinge und die Notwendigkeit, mit der sie eintreten: Erst dann tritt die Notwendigkeit in ihr Recht, wenn etwas geschieht, sich aktualisiert, im Augenblick. Solange sich bloß etwas anbahnt, kann alles noch ganz anders kommen – logisch betrachtet, und Er ist ein gewiegter Logiker. Erst wenn der Einzelne seine Handlung ausführt, etwas tut, etwas Bestimmtes, dann ist dies Bestimmte voll bestimmt, mündet ein in den breiten Strom Seiner Notwendigkeit und ist vorherbestimmt und vorhergewusst. In einer Weise ist es da, dieses Vorherwissen, und in einer Weise ist es nicht da. Eine beunruhigende Vorstellung, sehr abstrakt, etwas für gewiegte Menschen, die ins Blaue sinnen. Die bange Frage: Und wenn dieses ruhende Vorherwissen doch nicht ruht? Was dann?
So die Alten, da gab es noch keine Daten. Es gab sie zwar, aber es waren ihrer wenige und weit verstreut. Jetzt sind ihrer viele, und Daten sind zahlreich wie Sand in der Wüste. Mit ihnen ändert sich die Intuition der Alten, ihr banges Ahnen, ihr misstrauischer Blick nach oben, wo sie ein Symbol zu erblicken glauben, Dreieck mit sehendem Auge: ruhendes Vorherwissen. Da ist kein Auge mehr vonnöten, das sich zukneift, wenn man hinsieht.
Das ruhende Vorherwissen – es läuft einem auf der Straße nach. Es mag überspannt sein… man spürt es. Wenn man sich umdreht, ist da nichts. Doch die Intuition ist mächtig, das bange Gefühl: mit jedem Fußtritt hinterlässt du einen Schmutzfilm auf der Schöpfung, das ist Information. Die Daten sammeln sie und tragen zusammen das ruhende Vorherwissen Gottes. Sie melken es Seiner Schöpfung ab, sie selbst sind nichts als ein Niederschlag des ruhenden Vorherwissens, sie sind Es selbst, doch mit ihnen ballt es sich und heckt und wuchert. Man geht die Straße entlang, man dreht sich nicht um, doch weiß man: Hinter dir, dort, da wimmelt es und krabbelt. Das sind die Daten, sie sehen dich an, sie sammeln dich ab, die Spur, die du legst: Information. Sie weiden sie ab. Dreh dich nicht um.
Das ruhende Vorherwissen: Da wird es manifest – in Dingen, im Handeln, es legt sich um die Dinge wie Tau, es gibt ihnen eine Aura, ein Gespensterleben. Harmlos sind die Kameras. Man denkt sich ein Auge hinein: Das sieht dich an; das zwinkert dir zu. Das ist bloß der schwarze Grusel: Ein Böser könnte aufstehen, und Weiß wird Schwarz, er sieht dich an durch jede Kamera, er schickt dir seine Häscher nach, und die Daten zeugen wider dich, die deine Unschuld erweisen, denn Unschuld ist Schuld geworden… Nein, kein Böser sieht dich an, es könnte nur so sein; könnte so sein, bis es so ist, das aber liegt beschlossen wie eh und je im ruhenden Vorherwissen Gottes.
Kein Böser sieht dich an. Es krabbelt. Der Funkmast grinst dir zu, er weiß schon länger, wo du gegangen bist, du hast ein Telefon in der Tasche. Er grinst: ruhendes Vorherwissen. Ruht es denn? Er weiß, wo du entlang gegangen bist, wo du gehst und stehst – wohin du gehst, das auch? Um die Ecke, in der Buchhandlung, liegt ein Buch auf deinen Namen, das ist bekannt. Keine Unterhaltungslektüre, eine Kampf- und Schmähschrift, politisch. Das ist bekannt, auch das. Ruhendes Vorherwissen: dort um die Ecke wirst du biegen, zur Buchhandlung, du subversives Element? Vielleicht – wenn du nicht weiter geradeaus gehst, vom Grauen getrieben: Der Funkmast grinst, um die Ecke oder nicht – ruhendes Vorherwissen. Es krabbelt, das sind die Daten; in ihnen ruht das Vorherwissen.
Ordnung ist in den Dingen, und Unordnung, das wussten längst die Alten: Was Dinglich ist an den Dingen, strebt nach Unordnung; aber auch Undingliches ist an den Dingen, das strebt nach Ordnung. Information. In der Unordnung geht sie verloren. Es liegt nicht im Wesen von Information, verloren zu gehen; es zeugt wider ihre Idee, verloren zu gehen. So ballt sie sich zusammen, türmt sich auf und schichtet sich, integriert und gliedert sich und macht dem Dinglichen im Ding die Unordnung bloß vor, durchseucht es mit Struktur, wüst anzuschauen von außen, doch innen abgeschlossen logisch. Information zerstört das Viele, das Wenige durchsetzt es mit Komplexität: ruhendes Vorherwissen um ein je höheres Gleichgewicht, eine immer übergeordnete Rechnung, eine weiter gefasste Gleichung, ruhend im Prinzip der logisch-funktionalen Abschottung informationeller Integration. Daten addieren sich nicht bloß, sie durchdringen sich auch, falten sich ineinander, wachsen numerisch und auch nach Dimensionen. Kühl lächelt der Gott des Ameisenhaufens dich an, der Bewusstlose den Bewussten, kalt verächtlich. Die Rechnung wird nicht aufgemacht, sie ruht.
Es ist nicht nach der Art der Daten, dass man sie löschen kann. Was man löschen nennt, ist ein Strukturgewinn. Es krabbelt stärker, wenn man Daten löscht, und wimmelt hoch. Du nimmst ein Klümpchen Erde, zerbröselst es – Gelöscht! – und gehst voran. Dreh dich nicht um.
Banges Gefühl: Ein Mensch im Reisebüro lächelt dich an, aus ihm grinst der Ameisengott. Du löst eine Fahrkarte, tust du es nicht? Unterlässt du es? Wirst du sie lösen, bist du bestimmt, sie zu lösen? Ruhendes Vorherwissen. Du hast am Rechner gesessen, wieder am Rechner, eine Fahrkarte zu lösen, diesmal. Name, Bankverbindung, Reiseziel; Daten, unverfänglich – wie die Briefe, die du schreibst, die Zeitungen, die du liest, Einkäufe, die du tätigst – Daten. Dann schaudert’s dich. Die Daten, die du gabst – umsonst gegeben. So kommst du nicht zu deiner Fahrkarte, kannst sie nicht bezahlen, nicht mit der geforderten Kreditkarte: du hast keine, der Daten wegen, auch keine Rabattkarte – aus Vorsicht. Aber die Daten hast du schon gegeben – kann man sie löschen? Man kann. Man löscht, du löschst die Daten, und ein Brief bestätigt es: Gelöscht! Dreh dich nicht um. Es bleibt das bange Gefühl: Daten löschen sich nicht, sie werden komplexer, gewinnen an Ordnung, ein neues Kriterium: ‘gelöscht’. Es ziert die Daten wie ein Wimpel, ein Fähnchen: Dies ist als gelöscht zu betrachten, daraus folgt solches und solches im Hinblick auf jene Daten und dieses bezüglich weiterer Daten. Von außen ist es wüst, Erde zerbröselt, Daten gelöscht. Lächelt der Mensch im Reisebüro? Höhnt er? Ruhendes Vorherwissen. Ruht es denn? Kaufst du die Karte? Es macht keinen Unterschied, es hat System.
Lösch du nur deine Daten, versuch es ruhig, vermeide sie, verbirg dich, fliehe ihr Gewimmel, verfolgt von Gesichten voll Hohn. Verwisch deine Spur, siegle die Briefe, verschweige den Namen, zieh den Hut in die Stirn, betrage dich wüst, werd ganz verrückt. Es krabbelt. Es ruht. Still ruht der Hohn, es wimmelt zu Türmen. Vorherwissen – atmet dich an.
Geh nur hin zum Minister, dem Datenwalter; geh hin zum Großkrämer, dem Datenhöker: stell sie und verfluch sie. Was fürchtest du? Das ruhende Vorherwissen Gottes könnte in die Hände der Inquisition fallen? Du verstehst nicht.
Und sie verstehen nicht, der Minister, der Krämer: Der eine ist beleidigt, der andere voll Verdienst. Der Minister gibt frech zu bedenken, dass schließlich er es ist, der Daten will, nicht der Böse; er – um Gutes zu wirken. Der Höker will gar nur ein Werkzeug sein, unfrei zu wählen; ein anderes zu wählen, weil alles Nutz und Frommen ist. Sie verstehen nicht. Sie höhnen. Ihr Atem rasselt wie Ketten der Schreckgespenster.
Daten werden nicht in Dienst genommen; nimmt man sie in Dienst, nimmt man nicht sie in Dienst, bloß irgendein Ding. Ein Datum ist nur Datum im System der Daten. Information in Strukturen. Der Zweck verrät das Datum, löscht es aus – und reichert es noch an. Daten werden nicht erhoben zum Zweck, zum Guten oder Bösen. Es prahlt der Minister mit der Weißen Datenerhebung. Er weiß nicht, was er sagt, es ist nicht Schwarz noch Weiß. Und Daten werden nicht erhoben auf Zeit, Daten haben keine Zeit. Die Zeit läuft ab, die Daten werden reicher. Es rühmt der Höker sich der Datenlöschung. Er weiß nicht, was er sagt.
Das Datum kennt keine Attribute, die ihm äußerlich wären, es gibt kein Außen der Daten, daran man heften könnte Information über Daten, denn alles ist Datum. Kategorien sind Datum. Kategorien: Weiß, Schwarz, Bestimmt für…, nur zu Händen von…, zum alleinigen Zwecke des.., aufzuheben für die Zeit von…
Daten sind präkategorial, sind den Kategorien immer einen Schritt voraus, zersetzen die spezifische Differenz, die über die herrschen will, durch Assimilation.
Die Daten versagen sich dem Willen, der sie regieren und zwingen will, sie bleiben logisch unter sich. Im System der Daten ist kein Wille, es bleibt dem Willen begrifflich verschlossen – radikal bescheiden, immer eine Stufe unter der mentalen Dinglichkeit, immer nur Datum, eine Ebene darunter, logische Hermetik des Systems. Denn das Vorherwissen Gottes ist logisch in Ruhe, nicht willkürlich. Das Ruhen des Vorherwissens ist kein Gnadenakt, das Ruhen der Daten ist System. Da ist kein normatives Element, denn niemand schaut und wird geschaut: Das Vorherwissen wird nicht aktualisiert zum Vorbestimmten, niemals; und niemals erhebt es sich von der Ruhe zum Wachen des Willens. Gott sieht dich an, sein Vorherwissen ruht, und dein ist dein Wille, doch dreh dich nicht um. Es krabbelt. Das sind die Daten. Glaubst du denn, du vermagst etwas gegen sie? Denn dein ist dein Wille? Befrag nur deinen Gott einstweilen, der dich ansieht und fragt: Was tust du? Warum aber?
Ich, ja ich kenne deine Antwort schon: -Ich diene nur den Daten, Herr, sie sammeln ein Dein ruhendes Vorherwissen durch mich, ich stehe in Ketten gebunden im Steinbruch, Herr, und klopfe Steine zu Sand, das verdichtet Dein Wissen, und, Herr, wenn ich fortlaufen will in Nöten, so lassen die Daten den Zerberus los, er stürzt sich aus seiner Höhle, darin türmt sich Gebein, und er hebt gegen mich, schrecklich zu schauen mit je einhundert Zähnen, die drei Köpfe, die heißen Technik, Information und Interesse – Hochmut, Geilheit und Geiz, sagten die Alten – und setzt mir zu… die Daten lieben nicht die Sünder, Herr, wie Du.
Karl Ulrich Lippoth
edition Readers Edition, Berlin, 23. Oktober 2006
Original: http://www.readers-edition.de/2006/10/23/aus-anlass-der-big-brother-awards-2006-eine-art-predigt-ueber-den-datenschutz/