Von Detlef Borchers
Genuss fürs Ohr haben die meisten Nutzer im Sinn, die neue Abspielprogramme installieren. Wer dabei zu schnell klickt, wird ausgespäht.
(SZ vom 30.10.2001) - Diesen Preis will keiner: Er ist sozusagen die „goldene Zitrone“ der Internet-Branche, benannt nach der Figur in George Orwells Roman „1984“: Der „Big Brother Award“ prangert den schluderhaften Umgang mit Daten an. In der Kategorie Technik hat ihn die Jury aus Hackern, Surfern und Datenschützern am vergangenen Freitag der Firma RealNetworks für ihr Produkt „RealPlayer“ verliehen. So haben die Preisrichter auf ein Problem aufmerksam gemacht, das viele Computernutzer im wahrsten Sinne des Wortes nicht einmal sehen: Moderne Software wie der „RealPlayer“ oder der neue „MediaPlayer“ in Windows XP stehen in ständigem Kontakt zu vielen Servern.
Von ihnen beziehen sie Verzeichnisse über empfangbare Radiostationen im Internet, Spiellisten der beliebtesten Songs und Sonderangebote für das Herunterladen von Musik oder Videos aus dem Netz. Mitunter macht diese Art von Abspielprogrammen dem Hörer an der Tastatur Vorschläge, bestimmte Stücke nach seinem Geschmack doch einmal anzuspielen. Da wundert sich der Laie, was denn der Computer so alles über den persönlichen Geschmack weiß. Dem Fachmann ist das Verfahren klar: Die Abspielsoftware sendet immer dann, wenn sie eine Mediendatei aus dem Internet holt, eine Meldung zu einem Server. In dieser Meldung findet sich der Titel oder der Speicherort des Stückes und ein GUID. Ausgeschrieben ist dies der Global Unique Identifier, eine weltweit einzigartige Kennnummer, die einem bestimmten Computer zugeordnet ist.
Wer viel Musik über das Internet hört, mag es als angenehm empfinden, dass der Computer aus dem Bestand der bereits gehörten und gespeicherten Stücke die Geschmacksrichtung zu schätzen versucht. Er mag es aber auch als Eingriff in die Privatsphäre empfinden: Was hat es RealNetworks oder Microsoft zu interessieren, was jemand hört? Die Antwort ist einfach: Beide Firmen bieten nicht nur Software zum Abspielen von Multimedia-Dateien auf dem PC an, sie wollen im Geschäft mit bezahlten Inhalten ganz vorne mitspielen. RealNetworks ist beispielsweise an der Musikplattform MusicNet beteiligt, bei Microsoft hat man mit dem Dienst Pressplay angebandelt und im eigenen Microsoft Network einen weiteren Musikbereich installiert.
Das Nicht-Sehen der Computer-Anwender liefert den Herstellern der Software wertvolle Daten. Denn die Nutzer installieren die Player ohne Federlesen und klicken „Akzeptieren“, wenn die Lizenzbedingungen eingeblendet werden. Und das ungeduldige Abnicken des Kleingedruckten hat Folgen für den Anwender.
Ahnungslos muss der Computernutzer jedoch nicht sein: Gerade die jetzt mit dem „Big Brother Award“ ausgezeichnete Firma RealNetworks klärt darüber auf, was sie mit dem GUID anstellt. In der Vergangenheit installierte sie ein System, das ungefragt Kennungen und sogar die E-Mail-Adresse des Anwenders ungeschützt über das Internet schickte. Dafür kassierte die Firma schon mehrere Schmäh-Preise von Datenschützern.
In der neuesten Version des „RealPlayers“ hat RealNetworks zwar die standardmäßige Installation der Schnüffelfunktion ausgeschaltet. Doch Fehlermeldungen beim Verändern der Einstellung erwecken den Eindruck, Datenschutz sei schlicht eine Fehlfunktion. Und in den Lizenzbedingungen akzeptiert der Nutzer immer noch die Daten-Weitergabe – doch wer liest schon das Kleingedruckte? Nach einer Untersuchung des Datenschutzexperten Richard Smith von Privacy International werden Lizenzbedingungen umso aufmerksamer gelesen, je kleiner die Firma ist: den Großen vertraut man, bei Shareware-Programmierern wird die Lupe gezückt.
Was bei RealNetworks und vielen anderen Software-Firmen fehlt, ist eine große Hinweistafel gleich im ersten Installations-Bildschirm, die nicht auf die Schnelle weggeklickt werden kann – ein großes Zeichen wie auf der Tankkappe, das angibt, mit welchem Benzin der Wagen fährt. Doch keiner der Verbände der Softwareindustrie, die Zertifikate en masse vergeben, hat ein solches Warnzeichen standardisiert.
Daher ermuntern Datenschützer den mündigen Anwender, die Lizenzbedingungen komplett zu lesen, auch wenn sie ausgedruckt 20 Seiten lang sind. Denn zum Großen Bruder gehört auch immer der kleine Untertan, der „Big Brother“ gewähren lässt.
Süddeutsche Zeitung, 29. Oktober 2001