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Nie war er so wertvoll wie früher

25 Jahre nach seiner Einführung im Kampf gegen die RAF taugt Kommissar Computer kaum noch zur Verbrecherjagd

Von Detlef Borchers

Weil ein Fernschreiben vergessen wurde, musste Hanns Martin Schleyer sterben. "ZumRenngraben 8" in Erftstadt-Liblar stand auf dem Papier, es war die Adresse, nach der die Polizei so hektisch suchte vor 25 Jahren, im so genannten Deutschen Herbst. Denn im 3.Stock des Hochhauses unweit Köln hielt die Terroristengruppe RAF den entführten Arbeitgeber-Präsidenten seinerzeit zehn Tage lang fest.

Als die RAF ihr Opfer sechs Wochen nach der Entführung ermordete, war das eine persönliche Niederlage für den Präsidenten des Bundeskriminalamts (BKA). Horst Herold hatte das Datenbanksystem "Pios" konzipiert, in dem 70000 Hinweise auf mögliche Terroristenverstecke zusammengelaufen waren, nur der entscheidende war auf dem Dienstweg hängengeblieben. Der oberste deutsche Polizist hatte den Computer zum Kommissar gemacht und eine völlig neue Fahndungstechnik eingeführt.

Welche Emotionen "Kommissar Computer" noch heute auslöst, zeigte sich Ende der vergangenen Woche. Während in Trier die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder über die Rasterfahndung debattierten, konnte sich in Bielefeld der hessische Innenminister Volker Bouffier einen wenig ehrenvollen Preis abholen: einen Big-Brother-Award 2002. Damit ehrt eine Gruppe von Datenschutzaktivisten seit einigen Jahren Politiker und Firmen, die besonders schludrig mit dem vom Bundesverfassungsgericht garantierten "Recht auf informationelle Selbstbestimmung" umgehen. Der hessische CDU-Politiker bekommt den Preis für seinen Versuch, nach dem 11.September 2001 die Gesetze so zu ändern, dass eine Rasterfahndung ohne richterliche Kontrolle und ohne die bis dato notwendige "Gegenwärtigkeit einer Gefahr" möglich wird.

Ob Bouffier viel davon gehabt hätte, ist fraglich: "Kommissar Computer" leistet heute deutlich weniger als vor 25Jahren - wegen der rasanten Zunahme an Daten und Rechenkapazität. Heute ertrinken die Fahnder geradezu in einem Datenmeer, jeder Erwachsene erzeugt schließlich täglich Dutzende von Spuren (SZ, 10.9.2002): Geldtransfers, Einkäufe, E-Mails, Handygespräche.

Diese Menge ist ein Fluch: Erstens müssen sich die Fahnder mit Daten zufrieden geben, die von Dritten erhoben worden sind. Sie wissen oft nur wenig darüber, wie sauber und vollständig die Sammlung ist. Zweitens können die Polizisten die Myriaden von Hinweisen nicht mehr selbst eingeben und dabei auf offensichtliche Fehler kontrollieren. Stattdessen müssen sie die Daten automatisch bearbeiten. Und dabei geht so manche Zusatzinformation verloren, etwa in den Abrechnungsdaten eines Stromlieferanten, der sich in einem Kommentarfeld notiert, wie oft in einer bestimmten Straße der Strom ausfällt.

Und drittens sind manche Daten schlicht veraltet, und keiner merkt's. Nach einer Untersuchung der Bestände des amerikanischen Geheimdienstes CIA sagte der Dokumenten- Theoretiker David Bearman vor fünf Jahren, die Fahndung in Dokumenten sei so erfolglos, weil die "Metadaten" nicht ausreichend berücksichtigt werden. Sie geben Hinweise, bis wann der Leser den Angaben in einem Datensatz trauen darf, etwa einer Angabe zum Gewicht einer Person, das vor 10 Jahren registiert wurde.

Die Qualität der Daten aber ist entscheidend, wenn eine Rasterfahndung Erfolg haben soll (Infokasten). Außerdem brauchen die Fahnder eine genaue Vorstellung davon, wonach sie suchen; sie müssen die Merkmale von Täter oder Schlupfwinkel genau definieren können. Dann kann der Computer zwar eine große Menge von Daten völlig Unschuldiger durchrastern, wird aber nur auf sehr wenige Personen stoßen, die dann mit herkömmlichen Polizeimethoden untersucht werden müssen.

Doch an dieser genauen Vorstellung, wonach man sucht, haperte es bei der neuen Rasterfahndung nach den Terroranschlägen in New York und Washington im September 2001. Die vermeintliche Wunderwaffe sollte so genannte Schläfer unter den islamischen Studenten an deutschen Universitäten ausfindig machen. Doch die Kriterien waren viel zu vage: ein reiselustiger Student mit islamischem Hintergrund ohne Finanzprobleme und ohne Konflikte mit dem Gesetz. Damit gefüttert, förderte Kommissar Computer einen großen Satz an Daten, aber nichts Verwertbares zu Tage. Erfolge haben die Ermittler mit der klassischen Fahndung erzielt, die das Umfeld der Terroristen ausleuchtete.

Bei einem Seminar an der Fachhochschule Ulm versuchten angehende Informatiker, die Rasterfahndung mit eigenen Mitteln nachzustellen. Über Monate recherchierten sie in externen Daten, wie sie etwa bei der Krankenkasse oder im Amt für Ausbildungsförderung entstehen. Das Ergebnis war mager, sagt der betreuende Professor Gerhard Kongehl: "Wir kriegen mit der Rasterfahndung viele harmlose Bürger, aber nicht die Terroristen. Die teilweise massiven Eingriffe in den Datenschutz sind nicht zu rechtfertigen." Zu einem ähnlichen Resümee kommt der amerikanische Fahndungsexperte Stan Hawthorne: "Unser System wäre effektiv, wenn sich jeder Ausländer alle 30 Tage, jeder Amerikaner alle 120 Tage bei einer Meldestelle vorstellen muss. Die Frage ist, ob wir das wollen."

Weil auch die wenigsten Polizisten einen solchen Polizeistaat wollen, setzen sie ihre Hoffnungauf die Macht der Maschinen - allerdings bislang weit gehend vergeblich. Seit über zehn Jahren versucht das BKA ein neues System zur Verwaltung seiner Ermittlungsergebnisse aufzubauen. "Intelligente" Computerprogramme sollten darin selbstständig nach Zusammenhängen suchen. Obwohl das keine klassische Rasterfahndung ist, gibt es eine enge Verbindung: Entscheidend wichtig ist in beiden Fällen, verstreute Daten zu vergleichen und dabei Zusammenhänge zu entdecken und neue Suchmuster zu definieren.

Gibt es zum Beispiel bei einem Verbrechen den Hinweis, dass der Täter an Diabetes leidet, könnte das Programm selbstständig die Abrechnungsdaten von Krankenkassen oder Apotheken heranziehen. Um das vorzubereiten, arbeiten in den Landeskriminalämtern bereits Spezialisten, die den möglichen Nutzen von Datenbanken bewerten. Gefüttert von diesen "Daten-Profilern" sollte sich das neue Polizei- Informationssystem (im Jargon Inpol-Neu genannt) dann selbst optimieren und gewissermaßen ein Raster aufstellen, das automatisch immer feiner wird. Einziger Nachteil: Das ehrgeizige Projekt musste nach mehreren Probeläufen abgebrochen werden, weil der Computer seine Aufgabe nicht lösen konnte.

In der freien Wirtschaft heißt diese Technik Data Mining. Programme für diesen "Bergbau", etwa "Clementine" der Firma SPSS, helfen zum Beispiel Versicherungen, die Eigenschaften neuer Produkte und die Bedürfnisse ihrer Kunden abzugleichen, um zu erfahren, wen sie mit einer neuen Police gezielt ansprechen können. Auch die Polizei der britischen West Midlands hat es mit dem Programm angeblich geschafft, Einbrüche der Arbeitsweise "alter Bekannter" zuzuordnen und so aufzuklären.

Beim BKA hingegen werden die ehrgeizigen Pläne zurückgenommen. Allenfalls eine so genannte dispositive Datenbank soll entstehen. Sie dient nicht der Routinearbeit, sondern "komplexen Recherche- und Analysezwecken". Genaueres weiß noch niemand, doch als Modell könnte vielleicht Amazon dienen. Der Online- Buchhändler macht bei jedem Buch Vorschläge zur Erweiterung der Bibliothek. Da steht dann: "Kunden, die Bücher von Agatha Christie gekauft haben, haben auch Bücher dieser Autoren gekauft: Francis Durbridge, Raymond Chandler, Patricia Highsmith."

Süddeutsche Zeitung, 29. Oktober 2002
Original: http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel4657.php

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