Den Begriff Datenpranger mag sie nicht, jedoch Datenkraken zerrt sie an das Licht der Öffentlichkeit. Die Künstlerin Rena Tangens hat heute im Namen des Vereins zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD) zum siebten Mal die Big Brother Awards vergeben. Technology Review sprach mit Tangens über Datenschutz, Anti-Terror-Kampf und Bürgerjournalismus.
TR: Frau Tangens, sie kämpfen schon seit mehr als 20 Jahren für den bewussten Umgang mit privaten Daten, wachen über die Wirkung von Technologie auf unsere Gesellschaft. Die jährlichen Big Brother Awards haben Sie eben zum siebten Mal vergeben. Wie können Sie bei diesen Anstrengungen die „Auszeichnungen für Datenkraken“ mit einem Lächeln vergeben?
Rena Tangens: Mehr Freude würde es uns machen, wenn die Big Brother Awards überflüssig würden, weil die Übeltäter nicht mehr sich an den Daten anderer vergreifen. Dennoch haben wir viel Spaß, weil wir sehen, dass wir etwas bewirken können. Wir sind eine relativ kleine Organisation. Der FoeBuD hat 100 Mitglieder mittlerweile und wir schaffen es, weltweit tätige Handelskonzerne zu beeinflussen. So musste die Metro AG ihre heimlich mit RFID-Chips versehen Payback-Karten zurückziehen, weil FoeBuD das entdeckt und öffentlich gemacht hatte.
TR: Wie reagieren die potenziellen Preisträger, wenn die Nominierung im Postfach liegt?
Rena Tangens: Mittlerweile haben viele gemerkt, dass es besser ist, Stellung zu beziehen. Deswegen bekommen wir von den meisten sehr schnell eine Stellungnahme zugesandt, die wir dann auch an die Öffentlichkeit bringen. Zur der Preisverleihung erscheinen sie noch eher selten. Eine erstaunliche Ausnahme war Microsoft Deutschland, die im Jahr 2002 den Preis für das Lebenswerk erhielten. Sie haben tatsächlich den Konzern-Datenschutzbeauftragten aus München eingeflogen, der den Preis persönlich entgegen genommen hat.
TR: Was steht in den Stellungsnahmen?
Rena Tangens: Die meisten streiten ab, ein andere großer Teil gibt an, dass Vorgehen wäre mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten oder Datenschutzbehörden abgesprochen. Das ist sehr oft eine Lüge. Denn die Verfahren wurden vielleicht den Behörden mitgeteilt, aber keineswegs von ihnen für gut befunden oder abgesegnet. Tchibo beispielsweise bekam einen Preis für das Weiterverkaufen ihrer Kundenadressen, obwohl sie in ihren Datenschutzbestimmungen Vertraulichkeit zusichern. Die Formulierungen lautete: „Ihre Daten werden grundsätzlich nicht an unberechtigte Dritte außerhalb des Unternehmens weitergegeben“ Für den Verbraucher hört sich das gut an, jedoch der Jurist versteht unter grundsätzlich, dass es Ausnahmen gibt. Unberechtigte Dritte impliziert juristisch, dass es auch berechtigte Dritte gibt. In diesem Fall war es die Bertelsmann-Tocherfirma AZ Direkt. Sie kauft die Daten angereichert mit Alter, Wohnortgröße, Kaufkraft und Versandhandelsneigung. Tchibo schickte uns eine kurze E-Mail, ihr Vorgehen sie legal.
TR: Klare Begriffe scheinen umso wichtiger zu sein. Frank Rieger vom Chaos Computer Club hat auf der Konferenz „Informatik und Rüstung“ aggressivere Begriffe wie „Datenverbrecher“ oder „Daten-Dealer-Ring“ verwendet. Ist da ein Preis nicht noch zu positiv?
Rena Tangens: Der Big Brother Award ist keineswegs positiv. Schließlich schreiben wir eine seriöse, fundierte Begründung. Dadurch ist er keineswegs auf die leichte Schulter zu nehmen, das ist auch allen Betroffenen durchaus klar. Dennoch ist es wichtig, klare Begriffe anstatt juristischer oder bürokratisch belegter zu verwenden. Daher betitulieren wir auch RFID-Chips als „Schnüffelchips".
TR: Zusätzlich gehen sie auch auf die Straße. Heute demonstrierten sie gegen Sicherheits- und Überwachungswahn? Braucht Deutschland heute eine Art Greenpeace für den Datenschutz?
Rena Tangens: Dieser Vergleich gefällt mir, weil man auch Umweltschützern in ihren Anfangszeiten mit sehr viel Unverständnis begegnete und ihnen sagte: „Fortschritt und saubere Luft zugleich sind nicht machbar!“ Das Bewusstsein ist inzwischen ganz anders in der Bevölkerung verankert und sogar schon in die Produktentwicklung mit eingeflossen. Allerdings: Für den Datenschutz benötigen wir keine Kader-Organisation. Wir möchten eher, dass viele Menschen in vielen Organisationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln sich dieses Problems annehmen. Denn es geht ja nicht nur um Datenschutz, es geht um Freiheit, um eine gemeinsame Vorstellung davon, wie wir morgen leben wollen. Wenn wir uns für morgen Freiheitsrechte erhalten wollen, dann müssen wir heute auf unsere Daten achtgeben.
TR: Umweltschützer haben oft die Frage zu hören bekommen „Wo soll das enden? Zurück auf die Bäume?“ Datenschutz - Zurück in das analoge Zeitalter?
Rena Tangens: Eben nicht. Genau deshalb betone ich auch immer, dass der FoeBuD eine technikbegeisterte Organisation ist, in der eine ganze Anzahl von Entwicklern tätig ist. Wir wollen keineswegs in das analoge Zeitalter zurück, möchten aber einen bewussteren Umgang und eine andere Gestaltung von Technik.
TR: Gibt es aktuelle Techniken, die uns helfen, diese Freiheit zu garantieren?
Rena Tangens: Ja, beispielsweise betreiben wir einen TOR-Server. TOR steht für The Onion Router und ermöglicht anonymes Surfen. Man wird automatisch über mehrere Server weitergeleitet, wobei der letzte Server nicht weiß, woher die Anfrage kam. Wir sehen aber nicht, dass das die komplette Lösung ist. Aber wir können so darauf aufmerksam machen, dass so etwas wie Vorratsdatenspeicherung existiert und auf eben auch auf der technischen Ebene angegangen werden kann. Es muss aber auch auf der politischen und juristischen behandelt werden.
TR: Terror-Anschläge machen die Rufe nach Überwachungstechnologie salonfähig. Was machen Sie, wenn die Definition und der Schutz von Privatsphäre dem Allgemeinwohl untergeordnet wird?
Rena Tangens: Das wichtigste ist erstmal wieder auf den Boden zurückzukommen und klar zu machen, dass die Reaktionen vor allem hysterisch sind. Die Angst vor Terror, oft noch geschürt, ist übertrieben. Heute habe ich noch den Satz gelesen: „Wenn die Menschen die Klimafolgen, den globalen Treibhauseffekt, mit der gleichen Hysterie “ aufnehmen würden wie die Terror-Warnungen, dann würden wir im Alltag nur noch mit Schwimmweste herumlaufen. Auch muss man kritisch beleuchten, ob die Maßnahmen überhaupt wirksam sein können. Videokameras verhindern nicht, dass eine Tat passiert. Selbstmord-Attentäter mit Videokameras zu fangen ist ein absurdes Unterfangen.
TR: Bei einem Sexual-Mord an einem jungen Mädchen ist diese Aufklärung im Nachhinein erwünscht. Im Raum Dresden fand deswegen vor wenigen Monaten ein so genannter DNA-Reihentest (Technology Review 09/2006) statt. Viele Getestete entgegneten bei der Frage nach Datenschutz: „Ich habe nichts zu verbergen!“ Lassen Sie diese Antwort gelten?
Rena Tangens: Der Satz wird oft hervorgeholt. Er hat so etwas wunderbar Einfaches, Plakatives. Aber wenn einer das sagt, spricht er nicht nur für sich, sondern stellt eine Forderung an alle anderen, es ihm gleich zu tun. Zweitens: Damit gibt er ein Versprechen ab, dass er auch in Zukunft niemals etwas zu verbergen haben wird. Wer alle Daten von sich preisgibt, verliert die Kontrolle. Er kann diese nicht zurückholen, sie sind dann vorhanden und können ausgewertet werden. Darüber sollten wir noch mal nachdenken; auch mit der Überlegung im Hinterkopf, wie viel Diktatoren es im 20. Jahrhundert in Europa gegeben hat. Die wären nämlich froh über die heutigen Technologien. Demokratie ist nichts Naturgegebenes, sondern wir müssen wachsam sein und sie pflegen.
TR: Stichwort Demokratie. Viele Zeitungen gehen dazu über, ihren Leser zum Reporter zu machen. Dieser dringt nun mit Foto-Handy und Digital-Kamera in die Privatsphäre von Prominenten und Nicht-Prominenten ein. Zieht es Ihnen da nicht den Magen zusammen?
Rena Tangens: Ich finde es sehr bedenklich, wenn Zeitungen den Voyeurismus fördern. Das ist sehr kritisch, dass sollten seriöse Zeitungen nicht tun.
TR: Demokratie, zweiter Teil. Innenminister scheinen natürliche Gegner ihrer Bemühungen zu sein. Otto Schily hat zweimal den Big Brother Award (Politik, Lebenswerk) bekommen, Wolfgang Schäuble fordert die flächendeckende Video-Überwachung. Wenn Sie Innenministerin wären, was würden Sie tun?
Rena Tangens: Dafür müsste ich erstmal die Ruhe und Zeit haben, darüber nachzudenken und nicht in die Betriebsamkeit und den Populismus zu verfallen, die Geschäftigkeit, die die anderen Innenminister an den Tag legen. Ich glaube, dass ein grundsätzliches Nachdenken über unser Gesellschaftssystem dringend notwendig ist. Wie können wir erreichen, dass möglichst viele Leute glücklich sind, ein sinnvolles Leben führen, nicht nur für sich, sondern auch für eine demokratische Gesellschaft? Dazu braucht es mehr Zeit zum Nachdenken, als die paar Minuten, die ich gerade habe.
Gordon Bolduan
review deutschland Technology Review Deutschland, Hannover, 20. Oktober 2006
Original: http://www.heise.de/tr/artikel/79812