Lutz DONNERHACKE (33), Jenaer Datenschutzexperte, übergibt heute den Big Brother Award an die Landesregierung.
Fühlen Sie sich durch die Video-Affäre in der Preisverleihung bestätigt?
Ja, insbesondere mit den Maßnahmen, die zur Abwendung der Kritik getroffen worden sind. Die Überwachung wurde nur an den Stellen zurückgenommen, wo sie aufgefallen sind. Ansonsten wird thüringenweit weiter überwacht.
Müssen sich die Menschen in Weimar nach dem Abbau der Kameras unsicherer fühlen?
Kameras verhindern keine Verbrechen. Sie verschieben möglicherweise deren Fokus. Das ist in England nachgewiesen worden. Die Verbrechensrate ist noch genauso hoch wie vorher, die Orte haben gewechselt.
Greift die Politik also leichtfertig in Grundrechte ein?
Auf jeden Fall, und nicht nur in Thüringen. Die Politik allgemein geht sehr leichtfertig um mit Überwachungsmaßnahmen. Die Innenminister holen sich auf diese Art und Weise ein Dauerabo auf den Preis.
Wie sollte eine verantwortungsbewusste Videoüberwachung aussehen?
Das Wichtigste ist, dass transparent gemacht wird, wer Zugriff hat und wie lange die Daten hinterlegt werden. Dann muss man auch so ehrlich sein zu sagen, welche Bedrohungs-szenarien entstehen können für die Privatsphäre der einzelnen Bürger. Dann gilt es abzuwägen. Dieser Prozess hat nie stattgefunden. Insofern werden die Menschen im Moment einfach überrumpelt.
Wie weit gehen die Eingriffe in die Privatsphäre?
Die Preisverleihung an Thüringen und die anderen beteiligten Länder erfolgt für die Verschärfung der Polizeigesetze. Das bedeutet, vorverdächtige Personen - Personen, die eventuell in Zukunft eine Straftat begehen könnten - dürfen inklusive ihrer Angehörigen und ihres Umfeldes überwacht werden, auch deren Gespräche mit Polizisten, Anwälten, Journalisten oder Ärzten. Das ist ein massiver Eingriff. Thüringen ist dabei der Vorreiter.
Das heißt, Thüringen ist bun desweit am weitesten vorgeprescht bei der Verletzung der Grundrechte?
Der Big Brother Award ging an vier Bundesländer. Thüringen hat den Preis für die Schaffung der Fakten bekommen, die anderen lediglich wegen der Vorbereitung.
Was sollte die Landesregierung nun tun?
Sie muss zurückkehren auf den Boden des Grundgesetzes. Außerdem müssen Möglichkeiten zur demokratischen Kontrolle der Überwachung geschaffen werden. Sicherheit darf nicht auf Kosten der verfassungsmäßigen Grundrechte erkauft werden.
Gespräch: Thomas ROTHBART
Thüringische Landeszeitung, 29. Oktober 2003
Original: http://www.thueringer-allgemeine.de/ta/ta.standard.volltext.php?id=886022&zulieferer=ta&kategorie=INT&rubrikHomepage®ion=National