Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum automatischen Erfassen von KFZ-Kennzeichen kann weit reichende Folgen für andere Gesetze wie die Vorratsdatenspeicherung und damit für die EU-Gesetzgebung haben Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Absätze der Polizeigesetze Hessens und Schleswig-Holsteins für nichtig erklärt: Eine automatisierte Erfassung von Kfz-Kennzeichen verstößt gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Das Urteil hatten sogar die erwartet, die gewöhnlich als Lobby für mehr Befugnisse der Polizei auftreten. Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) mahnte die Parlamente, zukünftige Gesetze mit größerer Sorgfalt zu verfassen, da das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Gesetzen "korrigiert oder komplett für nichtig" erklärt habe.
Die Folgen des aktuellen Urteils sind aber weit reichender, als es auf den ersten Blick aussieht: Es betrifft nicht nur die Speicherung von Schiffspassagierdaten, den EU-Rahmenbeschluss, wonach Flugdaten 13 Jahre lang für polizeiliche Zwecke archiviert werden sollen, sondern auch die Pläne, die Daten aus der Maut-Erhebung künftig zur Strafverfolgung zu nutzen. Das hatten der ehemalige Generalbundesanwalt Kay Nehm, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und die Gewerkschaft der Polizei schon vor zwei Jahren gefordert.
Man kann aus der Begründung des Urteils zudem den Schluss ziehen, dass das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis zwischen EU-Vorgaben und deutscher Rechtspechung insgesamt schärfer ins Auge fassen wird, wenn es um die Grundrechte geht. Es wird auch immer wahrscheinlicher, dass nicht nur die Vorratsdatenspeicherung auf größtes Missfallen der Karlsruher Richter stößt, sondern auch der verfahrentechnischen "Trick", auf dem Umweg über EU-Richtlinien - die sogenannte "Dritte Säule" - den im Vergleich hohen Datenschutz-Standard in Deutschland aufzuhebeln. Das betrifft auch das immer wieder diskutierte Europäische Polizeigesetz.
Die höchsten deutschen Richter argumentieren ähnlich wie das Gutachten, das der Kasseler Professor Dr. Alexander Roßnagel im Auftrag des ADAC erstellt hatte: Eine automatisierte Erfassung der Autokennzeichen ist erlaubt, wenn die Daten anonym bleiben und sofort "spurenlos und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden". Wenn die Daten aber gespeichert werden und mit ihnen "weitere Maßnahmen" erfolgen können, ist das definitiv verboten.
Das Bundesverfassungsgericht bemängelt, wie schon in seinem Urteil über das Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalen (Nächste Runde im Streit um die Online-Durchsuchung), die fehlenden Normenklarheit: Die Bürger müssen erkennen können, wann und warum sie riskieren, dass ihr Verhalten überwacht wird, um sich gegebenenfalls dagegen schützen zu können. Der konkrete Anlass und der Zweck der Daten, wofür sie verwendet werden, müssen genau bestimmt werden. Wie man vor dem Hintergrund dieser Sätze noch hoffen kann, die Vorratsdatenspeicherung würde von den beiden Senaten des Gerichts durchgewinkt werden, ist kaum zu begründen.
Das Rechtsgutachten Roßnagels hatte insbesondere das Polizeigesetz Rheinland-Pfalz kritisiert: "Die Entscheidung über die Grenzen der Freiheit des Bürgers ist der Vorschrift nicht zu entnehmen, sondern einseitig in das Ermessen der Verwaltung gestellt." Das aktuelle Urteil präzisiert das noch: Bereits dann, wenn die Behörden nur Informationen erheben und das "als Basis für einen nachfolgenden Abgleich mit Suchkriterien" dient, handelt es sich schon um einen Eingriff in die Privatsphäre. Ab diesem Zeitpunkt verfügten staatliche Stellen über das Datenmaterial, und schon hier beginne "die spezifische Persönlichkeitsgefährdung für Verhaltensfreiheit und Privatheit."
Datenschützer und Bürgerrechtler werden insbesondere über die Sätze erfreut sein: Der Schutzumfang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beschränkt sich nicht auf Informationen, die bereits ihrer Art nach sensibel sind und schon deshalb grundrechtlich geschützt werden. Auch der Umgang mit personenbezogenen Daten, die für sich genommen nur geringen Informationsgehalt haben, kann, je nach seinem Ziel und den bestehenden Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten, grundrechtserhebliche Auswirkungen auf die Privatheit und Verhaltensfreiheit des Betroffenen haben. Insofern gibt es unter den Bedingungen der elektronischen Datenverarbeitung kein schlechthin, also ungeachtet des Verwendungskontextes, belangloses personenbezogenes Datum mehr.
Neu ist am Urteil auch, dass die informationelle Selbstbestimmung in Details noch schärfer als bisher gefasst wird. Ein wichtiges Kriterium, ob ein Eingriff in ein Grundrecht vor den strengen Augen der Karlsruher Richter Bestand hat, war und ist die Verhältnismäßigkeit. Das Grundrecht ist, wie schon bei der Entscheidung über die so genannten "Online-Durchsuchung", "nicht schrankenlos." Hier hat das Urteil den Länderparlamenten, die die Polizeigesetze schlampig zusammengestoppelt haben, eine geharnischte Gardinenpredigt gehalten, die sich indirekt auch auf alle staatlichen Versuche bezieht, die Totalüberwachung als Marginalie und Routinemaßnahme zu deklarieren.
Der hessische Innenminister Volker Bouffier, der gleich mehrfach mit dem "Big Brother Award" ausgezeichnet wurde, hatte in der mündlichen Verhandlung im November von einem "Grundrechtseingriff an der Bagatellgrenze" gesprochen. Diese Argumente sind jetzt hinfällig, zumal klar geworden ist, dass eine Ermittlungsmaßnahme, die ein Grundrecht berührt, wenn sie heimlich vonstatten geht, in den Augen der Verfassungsrichter immer "erheblich" ist und deshalb kassiert wird.
Werden Personen, die keinen Erhebungsanlass gegeben haben, in großer Zahl in den Wirkungsbereich einer Maßnahme einbezogen, können von ihr auch allgemeine Einschüchterungseffekte ausgehen, die zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung von Grundrechten führen können. Die Unbefangenheit des Verhaltens wird insbesondere gefährdet, wenn die Streubreite von Ermittlungsmaßnahmen dazu beiträgt, dass Risiken des Missbrauchs und ein Gefühl des Überwachtwerdens entstehen. Das aber ist gerade bei der seriellen Erfassung von Informationen in großer Zahl der Fall.
Die Vertreter Hessens und Schleswig-Holsteins hatten in der mündlichen Verhandlung erklärt, die erhobenen Daten würden mit mehreren Datenbanken abgeglichen, vor allem mit INPOL, dem polizeilichen Informationssystems des Bundeskriminalamts, das die Fahndungsdateien "Personenfahndung" und "NSIS-Personenfahndung" (Nationales Schengener Informationssystem) betreibt. Ob die Datenerhebung im europäischen Rahmen im Licht des aktuellen Urteilsspruchs noch Bestand haben wird, ist fraglich. Vermutlich nicht zufällig führt das Bundesverfassungsgericht detailliert an, wie die Praxis in anderen europäischen Ländern aussieht.
In Großbritannien wird die Kennzeichenüberwachung unter dem Titel "automatic number plate recognition" (ANPR) flächendeckend und grenzenlos angewendet - "in dem derzeit weltweit wohl größten Umfang". Interessant ist, dass das Urteil Hinweis auf Berichte der englischen Zeitungen Guardian und der Times enthält, die die Überwachung der britischen Straßen als "Big Brother"-Maßnahme kritisieren. Auch in Frankreich werde die allgegenwärtige automatisierte Kontrolle der Fahrzeuge eingesetzt, um zahlreiche Formen der Kriminalität, unter anderem des Diebstahls, zu bekämpfen - also bei Anlässen, die in Deutschland jetzt nicht mehr rechtmäßig sind.
Man kann jetzt besser vorhersehen, bei welchen Anlässen das Bundesverfassungsgericht gegen europäische Gesetze vorgehen wird. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hatte vor zwei Jahren schon Zweifel, ob in bestimmten Fällen das "Nationale Schengener Informationssystem überhaupt Teil des polizeilichen Informationssystems sein darf". Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit seinem Urteil vom 18. Juli 2005 das Europäische Haftbefehlsgesetz für nichtig erklärt.
Der letztere Fall hat mit Datenspeicherung und Überwachung nichts zu tun, verdeutlicht aber die Grenzen, die das nationale deutsche Recht auch den Vorgaben der europäischen Union setzt. Der zweite Satz des Artikels 16 Absatz 2 des Grundgesetzes lautet:
Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.
Europäische Vorgaben, die die deutsche Rechtsprechung berühren oder deutschen Gesetzen gar widersprechen, müssen also nur dann berücksichtigt und umgesetzt werden, "soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind".
Das Bundesverfassungsgericht würde also vermutlich, falls die britischen oder französischen Standards der Polizeigesetze zum Maßstab europäischen Rechts gemacht würden, diejenigen deutschen Politiker abstrafen, die meinen, das müsse brav und widerspruchslos in deutsches Recht umgesetzt und abgenickt werden. Man darf angesichts der letzten beiden Urteile aus Karlsruhe mit großer Spannung darauf warte, mit welcher Begründung der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Vorratsdatenspeichung abgelehnt - oder ihm stattgegeben wird.
Burkhard Schroeder
Telepolis, 12. März 2008
Original: http://www.heise.de/tp/artikel/27/27480/1.html