Datenkraken bekamen am Freitagabend (01.04.11) wieder eins auf die Tentakeln. In Bielefeld wurde der Big Brother Award 2011 verliehen. Der Negativ-Preis ging unter anderem an Facebook, die Daimler Benz AG und den Vorsitzenden der Zensuskommission. Der nahm ihn an, um ihn zurückzuweisen.
Sein Name und sein Konterfei sind vielen Bürgern unbekannt, von seiner aktuellen Aufgabe sind sie dagegen alle betroffen: Gert K. Wagner ist Vorsitzender der Kommission, die den "Zensus 2011" mitgestaltet und wissenschaftlich betreut. Beim Zensus würden doch vergleichsweise langweilige Daten erhoben, meinte er noch Anfang März in einem Interview. "Was Google über jemanden abspeichert, der eine Suchanfrage startet, sagt viel mehr über eine Person aus." Auch wegen Äußerungen wie dieser erhielt Wagner am Freitag (01.04.11) den Big Brother Award in der Kategorie "Behörden und Verwaltung", stellvertretend für alle, die an der Volkszählung beteiligt sind.
Wagner wehrt sich gegen Vorwürfe von FoeBuD
Begründung der Jury des Bielefelder Datenschutz-Vereins "FoeBuD": Mit dem bevorstehenden Zensus würden sensible Persönlichkeitsprofile von mehr als 80 Millionen Menschen erstellt. Diese personenbezogen zusammengeführten Daten seien bis zu vier Jahre nach dem Stichtag verfügbar. "Anonyme Statistik sieht anders aus", kritisierte Laudator Werner Hülsmann vom Arbeitskreis Zensus. Die Volkszählung greife "gravierend in das Recht auf Selbstbestimmung" ein.
Wagner selbst konterte: Der Big Brother Award verkehre Lob in Tadel, das Übliche ins Gegenteil. "Um diese Logik fortzuführen, nehme ich den Award gern an, um ihn damit formvollendet zurückzuweisen." In der Sache treffe Hülsmanns Kritik den Zensus nicht. Den sollte man nicht nur mit Angst, sondern vor allem als Chance betrachten: Er sei beispielsweise notwendig, um "Mittel dorthin zu leiten, wo sie tatsächlich gebraucht werden".
"Gezielte Ausforschung" bei Facebook
Prämiert wurden auch andere, die als "Datenkraken" besonders unangenehm aufgefallen waren, darunter Facebook in der Kategorie "Kommunikation". Hinter der Fassade eines "vorgeblichen Gratisangebotes" forsche das Unternehmen Menschen und ihre persönlichen Beziehungen gezielt aus, so die Jury. Facebook speichere die gesammelten Daten auf unbestimmte Zeit auf Servern in den USA. Per "Pathfinder" und Handy-App eigne sich das Social Network hinterhältig die Telefonnummern und Mailadressen der Nutzer an. Der "Like-Button" auf fremden Webangeboten sei ein Überwachungsinstrument über die Grenzen der Facebook-Seiten hinaus. Die "Places"-Funktion erlaube, Standorte und sogar Bewegungsprofile der Nutzer zu erfassen. Mit Facebook wuchere eine Art zentrale "Gated Community" im Netz, in der Menschen auf Schritt und Tritt beobachtet würden. "Hier herrscht die Willkür eines Konzerns, und der verdient mit systematischen Datenschutzverstößen Milliarden", so FoeBuD-Mitbegründerin Rena Tangens.
Schnüffelchip - bitte nicht entfernen!
In der Kategorie "Technik" ging der Award an die Modemarke Peuterey bzw. an den deutschen Vertreiber, die Düsseldorfer Modeagentur Torsten Müller. Laut Jury bringt Peuterey Kleidung mit verdeckt integriertem RFID-Chip auf den Markt, der berührungslos auslesbar ist, ohne dass die Kunden es bemerken. Die fest eingenähte Applikation, die diesen "Schnüffelchip" enthalte, wurde mit dem Satz "Do not remove" (nicht entfernen) bedruckt - ohne Hinweis auf den verborgenen Chip. Damit werde massiv in die Selbstbestimmung der Kunden eingegriffen, sagte Laudator Padeluun. Kein Einzelfall: 2003 bekam die Metro AG zum Thema RFID-Chip den Big Brother Award. Derzeit führe die Firma Gerry Weber das System in ihren Läden ein, erklärte der Netz-Aktivist. Er befürchtet, das sich durch Anwendung des Chips immer mehr eine Struktur ausbreitet, die genutzt werden kann, um Menschen auszuforschen und zu überwachen.
Spähende Mini-Drohnen und Schulen als Datenpool
Beim Big Brother Award wurde wie immer auch die Kategorie "Politik" bedacht. Der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) erhielt den Preis für den Einsatz von Mini-Drohnen, die Demonstranten gegen den Castor-Transport im Wendland heimlich auszuspähten. In der Kategorie "Arbeitswelt" ging der Preis, stellvertretend für andere, an Daimler Benz für "modernen Vampirismus", wie es Laudator Peter Webbe formulierte. Der Konzern habe bis Ende 2009 von allen Bewerbern bei Einstellungsuntersuchungen Blutproben verlangt, "ohne Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte" und meist, ohne dass es arbeitsrechtlich erforderlich gewesen sei. Kritische Worte auch an den Verlag für Wissen und Innovation in Starnberg: Er habe bis vor sechs Monaten in Schulen Büchergutscheine verteilt - wenn man Namen und Anschrift des Kindes oder eines Elternteiles zurückmeldete. Der Verlag, der inzwischen nicht mehr tätig ist, habe aber keine Bücher verkauft, sondern Geschäftsbeziehungen zu einem Vitaminpillenhersteller und Finanzdienstleistern unterhalten. Schulen seien so als Datenpool für die Wirtschaft missbraucht worden.
Internationale Auszeichnung
Die Big Brother Awards wurden am Freitag zum zehnten Mal an Firmen, Organisationen und Personen verliehen, die nach Ansicht der Organisatoren nachhaltig die Privatsphäre von Menschen beeinträchtigen oder persönliche Daten Dritten zugänglich machen. Der Award soll die öffentliche Diskussion um Privatsphäre und Datenschutz fördern und auf missbräuchlichen Umgang mit Technik und Informationen aufmerksam machen. Die Bevölkerung wird jedes Jahr gebeten, ihre Favoriten zu nominieren. Die Vorschläge werden von der Jury diskutiert und intensiv nachrecherchiert, um die Vorwürfe hieb- und stichfest zu machen. Die Auszeichnung ist international: Derzeit werden in 19 Ländern fragwürdige Datenpraktiken damit bedacht.
Stefanie Hallberg
Westdeutscher Rundfunk Online, Köln, 01. April 2011
Original: http://www.wdr.de/themen/politik/1/big_brother_award/110401.jhtml?rubrikenstyle=politik