TERROR GEGEN TERROR: Einer der deutschen Big Brother Awards für 2008 geht an den EU-Ministerrat in Brüssel. Die Laudatio erklärt, warum.
Als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 erliess die EU eine Verordnung, mit der sie allen Mitgliedsstaaten, deren öffentlichen und privaten Institutionen wie auch allen BewohnerInnen untersagt, des Terrorismus verdächtigen Personen und deren Organisationen jede Art von Finanzmitteln zur Verfügung zu stellen oder mit ihnen Geschäftskontakte zu knüpfen. Seither werden durch Beschlüsse des EU-Ministerrates Terrorverdächtige oder mutmassliche UnterstützerInnen in eine schwarze Liste aufgenommen, die regelmässig aktualisiert wird.
Darauf standen im Laufe der Jahre zwischen 35 und 46 Einzelpersonen sowie 30 bis 50 Organisationen: Darunter sind die baskische Unabhängigkeitsbewegung ETA und ihr zugerechnete Einzelpersonen, die islamistische Hamas, die arabischen Al-Aksa-Brigaden, die linksgerichtete türkische DHKP-C, die kurdische Arbeiterpartei PKK oder die iranische Widerstandsorganisation der Volksmudschaheddin.
Die EU-Terrorliste wird von einem geheim tagenden Gremium des Ministerrates erstellt. Die Entscheidungen erfolgen im Konsens, wobei die vorgebrachten Verdachtsmomente und Indizien zumeist auf dubiosen Geheimdienstinformationen einzelner Mitgliedsstaaten beruhen. Eine unabhängige Beurteilung der Fälle auf Grundlage von gesicherten Beweisen findet nicht statt. Deshalb stellte der vom Europarat beauftragte Sonderermittler Dick Marty mit Entsetzen fest, er habe selten «etwas so Ungerechtes erlebt wie die Aufstellung dieser Listen».
Dick Marty, der durch die Untersuchungen zu den illegalen CIA-Geheimflügen und -Gefängnissen bekannt geworden ist, hält das Verfahren zur Aufnahme auf die Liste für «pervers» und für höchst fehleranfällig: So reichten dafür schon einfache Verdächtigungen aus oder es komme zu Namensverwechslungen, sodass auch Unbeteiligte auf die Liste geraten können; in solchen Fällen müssen die Verdächtigten unter widrigsten Umständen ihre Unschuld nachweisen.
Hinsichtlich der verhängten Sanktionen spricht Marty von «ziviler Todesstrafe» und schilderte Ende 2007 sehr anschaulich, was eine Aufnahme in die Uno- oder auch in die EU-Terrorliste für Betroffene bislang bedeutete: Sie wurden darüber nicht informiert, sondern erfuhren erst davon, wenn sie etwa eine Grenze überschreiten oder über ihr Bankkonto verfügen wollten. Es gab keine Anklage, keine offizielle Benachrichtigung, kein rechtliches Gehör, keine zeitliche Begrenzung und keine Rechtsmittel gegen diese Massnahme.
Wer einmal auf der Liste steht, hat kaum mehr eine Chance auf ein normales Leben. Er ist quasi vogelfrei, wird politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert. Das gesamte Vermögen wird eingefroren, alle Konten und Kreditkarten werden gesperrt, Barmittel beschlagnahmt, Arbeitsund Geschäftsverträge faktisch aufgehoben; weder Löhne noch staatliche Sozialleistungen dürfen weiter ausbezahlt werden; hinzu kommen Passentzug und Ausreisesperre sowie geheimdienstliche Überwachungsund polizeiliche Fahndungsmassnahmen. Alle EU-Staaten, alle Banken oder Unternehmen, letztlich alle EU-BürgerInnen sind rechtlich verpflichtet, die drastischen Sanktionen gegen die Betroffenen durchzusetzen, sonst machen sie sich strafbar.
Die EU greift mit ihrer Terrorliste im «Kampf gegen den Terror» gewissermassen selbst zu einem Terrorinstrument aus dem Arsenal des sogenannten Feindstrafrechts – eines menschenrechtswidrigen Sonderrechts gegen angebliche «Staatsfeinde», die praktisch rechtlos gestellt und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Ihre drakonische Bestrafung erfolgt vorsorglich und wird im rechtsfreien Raum vollstreckt: ohne Gesetz, ohne fairen Prozess, ohne Beweise, ohne Urteil und ohne Rechtsschutz. Ein Serienkiller habe mehr Rechte, so Dick Marty, als ein Mensch, der auf einer Terrorliste steht.
Trotz der systematischen Entrechtung der Aufgelisteten sind beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einige Klagen von Betroffenen eingegangen. Und auch Urteile gibt es inzwischen, mit denen die Aufnahme bestimmter Personen und Organisationen (zum Beispiel der PKK und der Volksmudschaheddin) auf die Terrorliste und das Einfrieren ihrer Gelder für rechtswidrig und nichtig erklärt worden sind. Ihr Anspruch auf rechtliches Gehör und effektive Verteidigung, so die RichterInnen, sei grob missachtet worden.
Zwar sind die Betroffenen inzwischen pro forma benachrichtigt und angehört worden, doch konkrete Abhilfe geschaffen wurde nicht: Weder wurden sie von der Liste gestrichen noch die eingefrorenen Mittel wieder freigegeben oder die Sanktionen aufgehoben. Die Geheimgremien des EU-Ministerrats sind in ihrem nach wie vor undemokratischen Listungsverfahren – ohne Anflug von Unrechtsbewusstsein – stur bei ihren ursprünglichen Beurteilungen geblieben. Die Verfemten blieben also verfemt – mit allen freiheitsberaubenden Konsequenzen, unter Verstoss gegen die Unschuldsvermutung und die Europäische Menschenrechtskonvention. Und ohne Aussicht auf Entschädigung, selbst wenn sich die Sanktionen im Nachhinein als ungerechtfertigt herausstellen.
Dieser Text ist die bearbeitete Version der Laudatio, die ROLF GÖSSNER – Anwalt und Publizist in Bremen – bei der Verleihung der Big Brother Awards Ende letzter Woche hielt. Gössner gehört der Jury an. Ausserdem ist er Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte.
www.bigbrotherawards.de
Rolf Goessner
Wochenzeitung, Zürich, Schweiz, 30. Oktober 2008
Original: Nicht bekannt