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Datenschutz körnchenweise

Dank neuer Funkchips lässt sich der Warenfluss besser überwachen ? aber auch der Käufer, fürchten Kritiker

Ausgerechnet Rainer Fahs. Den Computer-Sicherheitsverantwortlichen der Nato-Luftstreitkräfte traf es bei jeder Kontrolle: ?Immer ging der Alarm los, wenn ich eine Sicherheitsschleuse passierte?, berichtet er. ?Jedes Mal wurde ich untersucht, ständig musste ich die Schuhe ausziehen, aber gefunden haben die nie etwas.? Bis Fahs im vergangenen November sogar beim Betreten eines New Yorker Supermarkts Alarm auslöste.

Ein grinsender Sicherheitsmitarbeiter winkte ihn beiseite ? und entdeckte, tief verborgen im Geldbeutel, in dem Fahs wegen der vielen Metalldetektoren in seinem Alltag nie Münzen aufbewahrt: einen kleinen Spezialsender. Beim Kauf des Portemonnaies musste der Kassierer vergessen haben, den so genannten Transponder zu entfernen, der beim Verlassen eines Ladens mit gestohlener Ware Alarm auslösen soll. ?Jetzt habe ich endlich Ruhe?, sagt Fahs. ?Und die Überwachungsmöglichkeiten vergleichbarer Techniken wurden mir eindrucksvoll vor Augen geführt. Sie laufen monatelang mit einem Sender rum und merken es gar nicht.?

Eine neue Generation von Transpondern, die erheblich mehr kann als das dumme Stück Metall in Fahs' Brieftasche, bringt derzeit nicht nur Hochsicherheitsspezialisten in Wallung. Tonangebende Einzelhandelskonzerne wollen besonders clevere Funkchips in Milliarden von Produkte integrieren. Das kann die Warenlogistik und den Einkauf völlig verändern (siehe Grafik) ? aber auch eine ganz neue Kontrolle von Einzelpersonen ermöglichen. So sehen sich Branchenriesen wie Wal-Mart und Metro Protesten von Datenschutzaktivisten ausgesetzt, müssen ihre Feldversuche einschränken und einzelne Tests sogar beenden. Schon warnt der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar vor der Möglichkeit, ?Kunden verdeckt auszuspähen?, und fordert gegenüber FOCUS erstmals eine Änderung des Datenschutzgesetzes.

Die US-Bundesstaaten Kalifornien, Utah und Missouri arbeiten bereits an Gesetzen, die den Einsatz der Chips regulieren. Auch die US-Verbraucherschutzbehörde FTC will prüfen, wie sich mit Transpondern möglicherweise Kunden überwachen lassen. RSA, eine der maßgeblichen Firmen für digitale Sicherheit, münzt die Sorge um die Sender schon mal zum Geschäftsmodell um: Sie hat Prototypen spezieller Blocker-Chips vorgestellt, mit denen sich die Funksignale neutralisieren lassen. Und die Schweizer Rück, eine der größten Rückversicherungen, untersucht, ob die jüngste Generation der Transponder ein Großrisiko darstellt, weil ihre Einführung teure Datenschutzprozesse nach sich ziehen könnte.

Der plötzliche Rummel um die Funk-chips lässt Insider staunen. Schließlich sind deren Vorläufer in der zivilen Nachrichtentechnik seit den 60er-Jahrengebräuchlich. Ist ein Transponder in Reichweite eines speziellen Senders, entzieht er dem ausgestrahlten Feld messbar Energie. Diesen Effekt nutzen auch die Anti-Diebstahl-Systeme in Warenhäusern. Die abgezapfte Energie reicht sogar aus, um einen Chip zu versorgen, der Daten zurückschicken kann ? je nach Design über eine Distanz von wenigen Zentimetern bis hin zu wenigen Metern. Eine Batterie ist bei der Radio Frequency Identification (Funkidentifikation, kurz: RFID) nicht unbedingt nötig. So kommt es, dass modernste RFID-Chips auf Sandkorngröße geschrumpft sind.

Sie stecken in den Schlüsseln für Autos mit elektronischer Wegfahrsperre, in berührungslosen Verkehrstickets, in Bibliotheksbüchern oder in Arbeitskleidung, die für automatisierte Großwäschereienbestimmt ist. Transponder markieren Brieftauben, Lachse, Rinder oder Hunde. Die Tickets der Fußballweltmeisterschaft 2006 werden ebenso Funkchips enthalten wie die nächste Version des deutschen Reisepasses. Und die Europäische Zentralbank überlegt, die schlauen Körner als Sicherheitsmerkmal in den Euro zu integrieren (FOCUS 23/2003).

Was Datenschützer umtreibt, ist jedochvor allem der geplante Masseneinsatz von RFID-Chips im Handel. Irgendwann, so die Vision, soll jedes einzelne Produkt mit einem weltweit einzigartigen Funkcode versehen sein. ?Ein Internet der Billionen Dinge wird bald entstehen?, schwärmte Kevin Ashton bereits vor einem Jahr, seinerzeit noch Direktor des federführenden Auto ID Center (FOCUS 17/2003). In der mittlerweile abgewickelten RFID-Denkfabrik am Massachusetts Insitute of Technology ließen mehr als 100 Firmen einen gemeinsamen Weltstandard entwickeln. Vollenden soll die Sisyphusarbeit am Electronic Product Code nun die Firma EPCGlobal. Sie wird von den Standardisierungsgremien EAN und UCC getragen, die auch den bekannten Produkt-Barcode verwalten.

In einer Welt, in der jede Ware eine einmalige Funknummer besitzt, sind die Kunden endlich König ? zumindest in der Theorie:

-Wollen sie ein Produkt umtauschen, lässt sich seine Herkunft dank integriertem Chip genau ermitteln.

-Verchipte Medikamente und Markenartikel sind schwerer zu fälschen.

-Die Warteschlange an der Kasse gibt es nicht mehr ? und ebenso die Kasse: Die Kunden können einfach den Laden verlassen, ein Funktor erfasst die Produkte im Einkaufswagen und bucht sie von der Funkkreditkarte ab.

-Waschmaschinen mit RFID-Leser wählen automatisch das passende Programm für Kleidungsstücke, Kühlschränke weisen auf nahende Verfallsdaten hin.

Die Möglichkeiten der neuen Technik sind kaum absehbar. Genau darin sehen Datenschützer das Problem. ?Die RFID-Chips werden vom Gesetz nicht erfasst?, erklärt der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar. ?Theoretisch müssen Sie Ihre Kunden nicht darüber informieren, wenn Sie Chips in Produkte integrieren ? sondern erst dann, wenn Sie persönliche Daten damit verknüpfen.? Erst wenn ein Kaufhaus speichert, wer einen bestimmten Anzug oder eine Kondompackung gekauft hat, muss es laut Gesetz darauf hinweisen. ?Dritte, die den Chip ebenfalls auslesen können, sind von dieser Regelung ohnehin nicht betroffen?, so Schaar. ?Was, wenn ich beim Betreten eines anderen Ladens auf teure Markenkleidung hin gescannt werde?? Kunden könnten ?sehr individuelle Daten ausstrahlen, ohne es zu wissen?, fürchtet der Experte.?Das ist gegenüber dem alten Barcode eine ganz neue Qualität.?

Nato-Spezialist Fahs, Vorsitzender des altehrwürdigen Computersicherheitsverbands EICAR, der soeben eine Arbeitsgruppe zu RFID und Privatsphäre gegründet hat, sieht bereits Erpresser mit Lesegeräten auf St. Pauli nach der Identität der Passanten fischen: ?Das klingt bizarr, ist aber denkbar, wenn ich durch irgendeine individuelle ID identifizierbar bin ? sei es mein Funkbibliotheksausweis oder meine neue Krawatte. Alle per RFID auslesbaren Informationen müssen im Grunde verschlüsselt werden.?

Deutschlands oberster Datenschützer Schaar fordert ob solcher Szenarien erstmals einen Zusatz zum Datenschutzgesetz, der speziell auf RFID-Chips abhebt: ?Dazu gehören eine Kennzeichnungspflicht für Produkte mit Chip, das Recht, die darin gespeicherten Informationeneinsehen zu können und den Transponder nach dem Kauf permanent deaktivieren zu lassen.?

Bei der Industrie rennt Schaar mit derartigen Forderungen heute offene Türen ein. In der Vergangenheit hatte sie die Empfindlichkeit der Konsumenten unterschätzt. Bereits im vergangenen Jahr nahm der Bekleidungshersteller Benetton nach einer Boykottkampagne der US-Initiative CASPIAN von seinen Plänen Abstand, Transponder permanent in Kleidungsstücke zu integrieren. Auch die Testregale in britischen Tesco-Supermärkten, die zum präventiven Diebstahlschutz ein Foto von allen Kunden schossen, die ungewöhnlicherweise mehr als drei Päckchen Rasierklingen mitnahmen, sind entfernt ? ebenso wie jene in den USA, die eine Internet-Video-verbindung zur Zentrale von Wal-Mart auslösten, wenn jemand Lippenstifte herausnahm.

?Inzwischen werde ich von vielen Herstellern kontaktiert, um sie zu beraten?, berichtet die CASPIAN-Gründerin Katherine Albrecht, eine Harvard-Doktorandin, die mittlerweile nicht nur in den USA große Aufmerksamkeit genießt. So wie der Bielefelder Verein für digitale Bürgerrechte, FoeBuD, der seinen alljährlichen ?Big-Brother-Award? 2003 Metros FutureStore in Rheinberg verlieh. Dort wird allerlei Zukunftstechnologie erprobt ? so auch RFID (FOCUS 18/2003). Im Februar fand der FoeBuD Funkchips in den Kundenkarten des Zukunftsladens, die dort ohne jeden Hinweis eingebaut waren ? eine Entdeckung, die weltweit ihren Niederschlag fand, von ?Business Week? bis ?Sydney Morning Herald?.

?Im Grunde ist damit ein Albtraum wahr geworden?, so der FoeBuD-Sprecher mit dem amtlich registrierten Künstlernamen Padeluun. ?Sie laufen mit einem individuellen Kundencode herum, der theoretisch beim Betreten des Ladens ausgelesen werden kann ? und das, ohne es zu wissen.? Kurze Zeit später tauschte Metro die Chipkarte gegen gewöhnliches Plastik aus. ?Am liebsten sähen wir die RFID-Technik völlig aus den Verkaufsräumen in Deutschland verbannt?, erklärt Padeluun. ?Es ist für Kunden schwer zu kontrollieren, ob die Chips beim Verlassen eines Ladens wirklich deaktiviert wurden.? Bisherige Modelle haben kein spezielles Selbstzerstörungskommando, das sie komplett unbrauchbar macht, wie es auch die Spezifikation des Auto ID Center vorsieht.

Der größte Wunsch Padeluuns deckt sich derzeit noch mit den Plänen der Industrie: Niemand wird in nächster Zeit flächendeckenden Produktfunk einführen. ?Die eigentliche Revolution geschieht nicht im Laden, sondern bei der Steuerung des Warenflusses?, erklärt der St. Gallener Ökonom Elgar Fleisch, Forschungsvorstand der Auto ID Labs, eines Zusammenschlusses der ehemals am Auto ID Center beteiligten wissenschaftlichen Einrichtungen. ?Die Auszeichnung aller Einzelhandelswaren mit RFID-Chip liegt noch zehn bis 15 Jahre in der Zukunft?, schätzt er. Noch kosten die Funketiketten einige zehn Cent und sind damit eigentlich zu teuerfür Frischkäse, Shampoo oder Rasierklingen, die in Metros Future Store zum Test schon verchipt sind. Außerdem funktioniert der fragile Datenfunk nur, wenn kein Metall und keine Flüssigkeiten den Empfang stören.

Die Großen der Branche konzentrieren sich deshalb auf die Logistik hinter den Läden. ?Dank RFID läuft das Einbuchen der Ware im Lager zehnmal so schnell?, berichtet etwa Rüdiger Bentrup, Geschäftsführer von Gerry Weber. Gemeinsam mit Kaufhof hat der Bekleidungshersteller im Rahmen eines Feldtests Chips in Etiketten integriert, die an der Kasse entfernt wurden. ?Plötzlich konnten wir im Lager ganze Kartons mit Waren einbuchen, ohne sie zu öffnen?, schwärmt Bentrup.

US-Gigant Wal-Mart hat seine 100 wichtigsten Lieferanten darauf eingeschworen, Paletten oder Kartons in einem Pilotversuch bis 2005 mit RFID auszustatten. Auch die Metro-Gruppe briefte in der vergangenen Woche ihre Top-Zulieferer fürs RFID-Zeitalter. Bereits ab November sollen sie größere Ladungseinheiten mit Funkchips ausliefern. Im Gegenzug stattet der Konzern 90 Real-Märkte, 60 Metro-Großmärkte, alle Kaufhof-Filialen und diverse Zentrallager mit den nötigen Lesesystemen aus. ?Die Kunden werden davon nichts mitbekommen?, erklärt Projektleiter Gerd Wolfram. ?Erst im nächsten Jahr werden wir entscheiden, ob wir die Chips an einzelnen, teuren Markenartikeln anbringen ? und sie an der Kasse dann wieder entfernen.?

Irgendwann werden die ersten funkenden Produkte bundesweit Einzug in die Läden halten. ?Wir müssen sehr aufpassen, dass damit nicht die Überwachung von Einzelpersonen möglich wird?, warnt Nato-Spezialist Rainer Fahs. ?,1984' wäre ein Witz dagegen.?

Jochen Wegner

Focus, München , 17. Mai 2004
Original: Nicht bekannt;

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