Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
*** "Denk ich an Deutschland in der Nacht", so dichtete einstmals der große Heinrich Heine, "dann bin ich um den Schlaf gebracht." Ein Herzliches Willkommen im Schlaflosenforum des Heise-Verlages! Wenn die Zipfelmichel in Trolle längst im Bettchen liegen, ist es eine gute Gelegenheit, sich ein paar Gedanken über das Leben in diesem unseren Land (Helmut Kohl) zu machen. Am Tag der Muttersprache ist es nicht die schlechteste Idee, mit den rasanten Sätzen des papstgroßen Münte anzufangen, der da donnerte: "Deutschland muss wissen, dass wir nicht automatisch an der richtigen Krümmung des Fluses liegen, sondern dass wir uns anstrengen müssen, um vorne zu bleiben, um Wohlstandsland zu bleiben und um ein wichtiges, entscheidendes Land in Europa zu bleiben." An der Krümmung des Flusses (Rhein? Spree? Leine?) haben wir also ein Problem. Nennen wir es frei nach Heinemünte und dem wunderschönen Mädel vom Felsen nebenan die Loreleikrümmung.
*** Die Loreleikrümmung also ist eine technische Konstante, die uns bei Großprojekten schwer zu schaffen macht. An der falschen Flusskrümmung werden die Projekte mit schöner Regelmäßigkeit unterspült. Nehmen wir nur die Iris-Erkennung am Frankfurter Flughafen, als Vorläufer künftiger Terroristenfallen von US-Minister Schily gefeiert, doch aufgestellt einzig und allein, damit die Lufthansa ihren Vielfliegern einen schnellen Check-In bieten kann. Nach den ersten Tagen soll der Ärger groß sein, wird augenzwinkernd gemunkelt. Die dahin stürmenden Vielflieger werden nicht wieder erkannt. Nehmen wir das System, das als Nachläufer der Fahndung nach Staatsterroristen die geschredderten Papierfetzel der Stasi zusammensetzen soll. Intern wird es bei der Birthler-Behörde als "völlig unbrauchbar" bezeichnet. Oder nehmen wir die LKW-Maut, die diese Woche gekündigt wurde, aber nicht so richtig. "Das beste System der Welt" ist so toll, dass Toll Collect eilends versichert, die Probeläufe hätten funktioniert. Mit 600 OBU-bestückten Lastwagen! Eine schöne Nachricht, die leider nur verschweigt, dass eigentlich mit 1000 Lastwagen getestet werden sollte.
*** Die Loreleikrümung setzt den deutschen Projekten nicht allein deshalb zu, weil Terminpläne zu eng und technische Anforderungen zu hoch gesetzt wurden. Sie entsteht aus dem Umstand, dass man über Fehler in Deutschland nicht angstfrei redet oder gar frozzelt, sondern sie einfach "abstellt". Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Deutschland verlernt, über Fehler zu reden, hüben wie drüben. "Aber das Wichtigste wäre gewesen, über Fehler zu reden", heißt es in einem Buch über das Scheitern der Arbeiterbewegung. Der Vergleich mit Microsoft und seinem Windows mag gewagt erscheinen, aber dass selbstbewusste Code-Arbeiter in deutschen Code-Kommentaren über die Verrückten aus einer anderen Abteilung lästern und geduldig undokumentierte Funktionen für die Kollegen nachprogrammieren oder emulieren, das halte ich für unwahrscheinlich. Aber die Programmierer im Schlaflosenforum, die weder Tod noch Teufel scheuen, suchen sicher schon das Gegenteil in ihren abgelegten Sourcen. Ich bezweifele übrigens nicht die deutsche Ingenieurskunst: Mit einem Telefon, das Schreiben kann, bringt sie genau den gleichen Mist hervor wie andere mit dem Rasierer mit RJ-45-Anschluss. Oder war da Ethernet im Spiel?
*** Wenn Hal durchknallt und die Arbeiterbewegung mit Microsoft in einen Absatz zwängt, dann hat das natürlich einen Grund: Heute findet in Stuttgart eine Gedenkveranstaltung für Willi Hoss statt, den größten Gewerkschaftler, den dieses kleinteilige Land jemals gehabt hatte -- natürlich wurde er von der Gewerkschaft rausgeworfen und musste die Grünen verlassen, die er mitgründete. Seit Leitspruch "Komm ins Offene, Freund" klingt heute, wo die Bobos wieder bis nach Kalifornien kommen, einfach nur anachronistisch. Willi Hoss starb vor einem Jahr; in dieser Woche nahm Jean Rouch im hohen Alter einen plötzlichen Abschied. Als ich jung war und Hannover noch eine stolze Stadt, lief in einem Kino im hässlichen Stadtteil Limmer immer ein Vorfilm, die Chronik eines Sommers: "Sind Sie glücklich?" Wenn wir schon lachend bei den Toten verweilen, darf Papa Joch Creach nicht fehlen, der Allespieler, Allesfiedler, gegen den ein Andre Rieu ...., na, lassen wir das. Ich werde von einem zivilisierten Verlag bezahlt und werde mich zivilisiert verhalten.
*** Was zivilisiertes Verhalten ist, zeigt sich nicht nur an der Lage in den richtigen Krümmungen und am Müntefering-Faktor, der zum schnellen Aufbrauch des Wortschatzes und zu weiteren Blähungen durch all die Worthaufen führt, die sich leider nicht aufbrauchen. Die große Freiheit Internet steckt im Worthaufen und will nicht verschwinden, sie ist eines dieser Blähworte, die zur Verkleisterung der Gehirne führen. Da erscheinen dann Script-Kiddies als lustige Begleiterscheinungen und die Verfolgung unzivilisierten Verhaltens mutiert in manchen Äußerungen zur Blockwart-Mentalität. Die Ideologen des rechtsfreien Internet aber merken nicht, wie sie das Netz zerstören, das sie so sehr in den Himmel loben, das aber noch nie ein rechtsfreier Raum war. Organisierte Kriminalität, so muss man die Professionalisierung der Kiddies nennen, ist kein Spaß. Und erst recht kein Anlass, den libertären Ideologen herauzuhängen. Wobei -- amerikanischer Marktanarchismus, wie ihn dortige Libertäre in ihrer extremen Form prägen, lässt auch Platz für die Mafia -- solange sie sich nur den reinen Gesetzen des freien Marktes unterwirft und Profit macht: "Ich habe ihm ein Angebot gemacht, das er nicht ausschlagen konnte." Das mag für manche auch eine Art von Zivilisation sein -- aber dies reicht nicht für eine Gesellschaft, in der ich leben, und nicht für ein Netz, in dem ich mich bewegen und in dem ich schreiben möchte. Statt Heine sei an dieser Stelle Brecht gegen die vermeintlich absolute Internet-Freiheit ins Feld geführt: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch..." Offensichtlich aber merken weder die Libertären auf der einen noch die Kontroll- und Zensurfreaks auf der anderen Seite, wem gerade die Stunde schlägt.
*** Wie man sieht, hat jede Zivilisation ihre Grenzen. Andere Länder, andere Flüsse, andere Krümmungen und anderen Code. Die SCO-Group hat es dieser Tage sensationell geschafft, die USB-Unterstützung in ihr marktführendes Betriebssystem unterzubringen. Dafür gibt es Lob und ein Gedicht von Helpdesk, der sicherlich die Lorelei von Heine codebereinigt unter die SCO-Fans bringen kann: "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten... ". Die Klage steht aus und es dunkelt.
Hören wir in dunkelnden Zeiten mit den erhellenden Dingen auf. Am Donnerstag wird der Aufbau 70 Jahre alt. Das Blatt gehört zu meinen komischen Erinnerungen in der Jugendzeit, hat es einigen seltsamen Tanten und Onkeln doch das Überleben ermöglicht, die die besten Judenwitze erzählen konnten.
Zur Feier der Loreleikrümmung gibt es am kommenden Samstag sogar eine richtige Demonstration, in Rheinberg beim Future-Store der Metro. Dort kann man wieder sehen, wie ein technisch anspruchsvolles Großprojekt baden geht: Die Alltagstransponder kommen, die Chips, die seit Jahren in Bierfässern und Mülltonnen stecken. Nun erobern sie Frischkäse, Shampoo und den ein oder anderen Sisley-Pullover und anderen Klamotten. Keine Frage, dass der lausige, ständig fehlerhafte Barcode mit seinen müden Speicherfähigkeiten von den RFID-Chips abgelöst werden muss. Wenn die Logistik jedoch auf den Mensch und seine Kundenkarte übertragen wird, ist eine gentechnische Grenze überschritten. jeder kann sich ausrechnen, was seine Daten wert sind und wo sie beispielsweise aus den Metro-Kundenkarten ausgelesen werden. Und wem das Thema zu prollig ist: In den Prada-Karten steckt dieselbe Technik. (Hal Faber) / (jk/c't)
Heise Online, 22. Februar 2004
Original: http://www.heise.de/newsticker/meldung/44885