Elektronischer Produktcode und die Funkübertragung per Chip werden Logistik und Konsumgüterindustrie verändern. Der technische Aufwand ist enorm - die Privatsphäre der Kunden steht zur Disposition.
Die Idee für den elektronischen Produktcode (EPC) entstand 1999 in der Hightech-Schmiede Amerikas, dem MIT (Massachusetts Institute of Technology). Das Ziel ist der Aufbau eines Systems, das jedem auf dem Globus gefertigten Produkt eine eindeutig identifizierbare Nummer zuordnet. Egal ob ein deutsches Automobil, Turnschuhe aus Vietnam oder eine Getränkedose aus Australien - jedes dieser Produkte soll einen individuellen Code erhalten.
Gespeichert wird dieser Code in einem oft nur wenige Millimeter großen RFID-Chip (Radio Frequency Identification). Dieser, auch Transponder genannt, ist in der Lage ohne Batterie und berührungslos per Funk den Code an entsprechende Lesegeräte zu übertragen. Der Informationsinhalt des 64 oder 96 Bit langen Codes ist variabel, beinhaltet aber zumindest Rahmendaten wie den Hersteller, die Objektklasse und eine Seriennummer.
Die auch "Smart-Tags" genannten Sender sind so klein, dass sie in Preisetiketten oder sogar im Produkt selbst angebracht werden können. Der Vorteil gegenüber dem heute eingesetzten Barcode liegt auf der Hand: dieser wird per Scanner eingelesen, wozu aber meist Handarbeit notwendig ist. Stecken die Waren in großen Gebinden oder Containern lohnt die Zerlegung der Ladung nicht, Schwund wird in Kauf genommen.
Fährt dagegen eine Palette mit RFID-Transponder durch eine Antennenschleuse, wird binnen Sekunden jedes Produkt registriert. Doch damit sind die technischen Möglichkeiten von RFID und EPC längst nicht ausgeschöpft, in den Vorstellungen der Handelskonzerne entstehen durchstrukturierte und hochkontrollierbare Warenwelten.
Ihr Ziel ist es zu jeder Zeit zu wissen, wo und in welchem Zustand sich jedes Produkt in der Warenkette befindet. Noch sind RFID-Chips mit rund 50 Cent für den Masseneinsatz viel zu teuer, was sich voraussichtlich erst in rund fünf Jahren ändern wird. Zunächst wird sich RFID, da sind sich die Experten einig, an Fahrzeugen und großen Transportverpackungen durchsetzen.
"Bei der Verfolgung von Ladeeinheiten mithilfe von RFID dürfte es innerhalb der nächsten fünf Jahre zu einer nennenswerten Durchdringung kommen", sagt Winfried Krieger, Professor für Logistik und E-Business an der Fachhochschule Flensburg. Hierbei sei der Vorteil, so Krieger, dass die teuren RFID-Transponder nach Gebrauch zum Lieferanten zurückgesandt werden könnten, um dort erneut beschrieben zu werden.
Auch die Auswirkungen auf die Lagerprozesse seien frappant, meint Krieger. Bei der Anlieferung könne sofort kontrolliert werden, ob die Ware mit der Bestellung übereinstimme, im IT-System sei jederzeit genau vermerkt, welche Produkte sich zu welchem Zeitpunkt an welcher Stelle im Lager befänden und komplexe Kommissionierungsvorgänge würden enorm vereinfacht.
Erst in einem zweiten Schritt werden sich RFID und das damit zusammen hängende EPC-System auf Artikel- und damit auf Endverbraucherebene durchsetzen. Dann soll die Inventur in Echtzeit möglich sein und der gefürchtete Satz des Verkäufers: "das haben wir gerade nicht auf Lager" soll der Vergangenheit angehören. Die Haltbarkeit des Frischkäses funkt dieser höchstselbst an den Manager, der diesen dann unter Umständen als Sonderangebot neu positionieren lassen kann.
Manche Pläne gehen noch weiter: Transponder an Medikamenten-Verpackungen sollen dem Patienten zukünftig Einsatzgebiet und Kontraindikationen mitteilen und der Reader in der Waschmaschine wird darauf hinweisen, dass die weißen RFID-bestückten Hemden und die roten Socken besser nicht zusammen gewaschen werden sollten. Dem Endkunden könnten über die Etiketten auch Hinweise auf die korrekte Entsorgung des Produkts gegeben werden. Um alle diese Anwendungen zu realisieren, müsste das RFID aber dauerhaft am oder im Produkt verbleiben und wäre von daher mit geeigneter Hardware immer und für jeden auslesbar.
Die Kaufhof AG prüfte jüngst in einem Praxistest ein neues Lagersystem, bei welchem die Fabrikate des Textilherstellers Gerry Weber mit RFID-Tags ausgestattet waren. Der Test verlief, nach Angabe von Gerd vom Bögel vom Fraunhofer-Institut für Mikroelektronische Schaltungen, das den Praxis-Einsatz wissenschaftlich begleitete, "für alle Beteiligten sehr zufrieden stellend". Der Serieneinsatz sei für Anfang 2005 geplant, mit Chips, die nur die Identifikation und keine weiteren Produktdaten enthalten. Da die smarten Etiketten zurzeit noch rund 50 Cent pro Stück kosten, würden sie an der Kasse entfernt und zurück in den Prozess gelotst. Über eine interne Datenbank sollen dann neben Kaufhof auch Hersteller, und Spediteur Zugriff auf die Daten erhalten, die den genauen Stand des Warenflusses anzeigen.
Spätestens wenn die RFID-Etiketten vom Lager in den Verkaufsraum gelangen, stellt sich für Hersteller und Händler die Frage, ob und wie der Endverbraucher an die elektronische Warenkette mit angeschlossen werden soll. Einen ersten Versuch des kundennahen Einsatzes der Antennen-Chips führt die Metro Group durch. Der weltweit fünftgrößte Handelskonzern sieht enormes Potenzial in RFID und evaluiert dies in seinem "Future-Store" in der Nähe von Duisburg. Waren auf über 4000 Quadratmetern Verkaufsfläche funken hier ihren Daten auf das Display des Einkaufswagens und auch zum Management auf den Schreibtisch.
Mithilfe der Transponder lässt sich auch erkennen, wie lange ein Kunde ein Produkt in der Hand hält und wie oft ein Artikel zurückgestellt wird. Und: Die RFID-Sender sitzen auch in den Einkaufswagen selbst. So kann der Future-Store messen, wie lange ein Käufer im Laden bleibt. Obwohl die damit erhobenen Daten anonym sind, sehen einige Datenschützer schon hier einen weiteren Schritt in Richtung des "gläsernen Kunden" getan. Damit aber nicht genug: Datenschutzexperten vom FoeBuD (Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs) fanden im Februar in den Kundenkarten des Future Shops implementierte RFID-Chips.
Damit war ein Horror-Szenario der Privatsphären-Apologeten Realität geworden: Das Einkaufsverhalten jedes Kartenbesitzers lässt sich ohne sein Wissen genau studieren. Denn nicht nur die Produkte selbst funken ihre Identifikation, ihre Beschaffenheit und ihren Standort im Geschäft an die Empfänger, mehr noch, diese Daten lassen sich mit dem dazugehörigen Einkäufer auch verknüpfen. Es hagelte Proteste, die Metro teilte daraufhin mit, das über 10.000 Payback-Kundenkarten ausgetauscht werden können. Metro-Sprecher Albrecht von Truchseß begründete den Rückzug damit, dass das Thema "zu sehr emotionalisiert" worden sei.
Aber auch Experten, die den Datenschutz nicht für das vorrangige Problem beim Einsatz von RFID halten, geben zu bedenken, dass die Erfassung von Produkt- und Kundenbewegungen im Verkaufsraum für die Marketingabteilungen der Konzerne viel zu reizvoll sind, als dass sie diese Chance vorüberziehen lassen werden. Winfried Krieger nennt dies vorsichtig "den Vorteil der Planungssicherheit, der sich aus den erfassten Informationen ergibt". Krieger sagt weitere massive Proteste gegen RFID voraus, wenn die betroffenen Firmen ihre RFID-Konzepte für den Endkundenbereich nicht besser öffentlich vermitteln.
Kern des Problems ist der auch außerhalb des Ladens funkende Chip. Bleibt nämlich der RFID-Chip nach dem Einkauf aktiv, kann die gekaufte Ware auch außerhalb des Ladens noch einmal gescannt werden. Das ergibt nicht nur verbesserte Auswahlchancen für Taschendiebe, sondern gibt auch dem benachbarten Kaufhaus die Möglichkeit, nach dem Scanvorgang am Eingang seine Werbung im Verkaufsraum gezielt auf den neuen Kunden abzurichten. "Sie haben Wiener Würstchen erworben? Fehlt Ihnen vielleicht unser Senf dazu?"
Der Future-Store bietet seinen Kunden mittlerweile die Möglichkeit den Chip am Ausgang zu deaktivieren. Doch auch hier entdeckten die Datenschützer einen Pferdefuß: Es wurden nicht alle Daten auf dem Chip gelöscht, die weltweit eindeutige ID blieb erhalten.
Aus den USA kommt jetzt der erste Gesetzesvorschlag, der den Einsatz der RFIDs regeln und die Privatsphäre schützen soll. Die von der demokratischen Abgeordneten Debra Bowen als "Senate Bill 1834" eingebrachte Vorlage soll für alle Firmen und Behörden gelten, welche die Technologie einsetzen. Der Vorschlag sieht vor, dass die Besucher einer Einrichtung über den Einsatz von RFIDs informiert und diesem ausdrücklich zustimmen müssen. Bei Verlassen eines Ladens müssten die Tags entfernt oder zerstört werden.
Noch sind es weniger die Datenschützer, die einem Big-Brother Szenario im Weg stehen, sondern die Physik: Die in Europa üblichen Chips funken auf einer Frequenz von 13,56 Megahertz, die dazugehörigen Hand-Lesegeräte können Signale aus maximal 20 Zentimetern empfangen. "Stationäre Antennen kommen auf 60 Zentimeter und erst die großen, heute nur an Lagereingängen eingesetzten Gate-Antennen erfassen RFID-Etiketten in bis zu 2 Meter Entfernung", erklärt Gerd vom Bögel vom Fraunhofer Institut. Sind die Transponder aber von Metall umgeben, dringen die Signale nicht bis zur Antenne durch. Auch Flüssigkeiten bremsen die Übertragung. "Dazu kommt", so vom Bögel, "dass zwei Transponder nicht genau aufeinander liegen dürfen, denn dann kommt es zu Funk-Kollisionen".
Trotz technischer und sozialer Herausforderungen will die Metro RFID möglichst bald entlang der gesamten Prozesskette einsetzen. Schon ab November 2004 sollen die rund 100 größten Lieferanten ihre Paletten und Transportverpackungen für zehn Zentrallager und 250 Märkte mit RFID-Etiketten versehen. Der US-Handelsgigant Wal-Mart verpflichtete jüngst seine 125 größten Zulieferer zur Implementierung von RFID bis 2005. Die betroffenen Hersteller müssen beachtlich investieren: Wie die Marktforscher von AMR-Research errechneten, ergeben sich für einen Wal-Mart-Lieferanten Kosten zwischen 13 und 23 Millionen US-Dollar bei der Einführung von RFID, wobei die eine Hälfte für die Bereitstellung der Funketiketten und Reader, die andere Hälfte für das Redesign der IT-gestützten Warenkette anfällt.
Wie genau diese Investitionen auf die Teilnehmer verteilt werden, ist noch unklar, damit aber das "Return on Investment" möglichst flink erfolgt nehmen Analysten und Logistik-Experten die Lieferanten ins Gebet. "Mit RFID fallen ungeheure Datenmengen an und die meisten Unternehmen wissen noch gar nicht, wie sie diese Daten in verwertbare Informationen transferieren", bemerkt James Weir vom Analystenhaus IDC.
Mittlerweile liest sich die Allianz der RFID-Unterstützer wie das "Who is Who" der Global-Player. Hardware-Hersteller wie Texas Instruments, Handelskonzerne, Speditionen und Händler zeigen sich gleichermaßen überzeugt, dass die funkenden Chips Logistik und Warenbestandshaltung revolutionieren werden. Um den Masseneinsatz zu ermöglichen will Chiphersteller Infineon die Herstellungskosten für die Chips schnell drücken, und Siemens eröffnet noch dieses Jahr zusammen mit Intel ein "RFID-Technology Center" in der Nähe von München.
Softwarehäuser entwickeln zurzeit die nötige Software zur Verwaltung der Datenmengen, die durch das Einscannen und Weitergeben der RFID-Daten entstehen. SAP bietet Middleware an, und auch Microsoft plant nach eigenen Angaben die Integration von Transponder-Daten in ihr Warehouse Management System.
Die Organisation "EPCglobal", Gralshüter der Normierungs-Architektur hinter EPC, denkt schon weiter. Sie bietet eine einheitliche Infrastruktur für die per RFID erhobenen Daten und hat für den neuen Standard schon jetzt die wichtigsten internationalen Unternehmen im Boot. Ihr Vorteil: Es ist kein Konkurrenz-Standard in Sicht, zudem spielen die funkenden Chips ihre größten Vorteile nur dann aus, wenn die für den jeweiligen Teilnehmer in der Warenkette relevanten Informationen über das Produkt jederzeit abrufbar sind.
Der Chip selbst fasst nur wenige Informationen, er verweist aber auf eine dahinter liegende Datenbank. Diese soll dezentral als EPC-Netzwerk aufgebaut werden. Zurzeit entwickelt die als Internet-Domainverwalter bekannte Firma VeriSign im Auftrag von EPCglobal dieses weltweite Netzwerk. Die Struktur dieses weltweit erreichbaren Verzeichnisdienstes lehnt sich dabei an das aus dem Internet bekannte DNS (Domain Name System) an.
Die Änderungshäufigkeit der Daten spricht dagegen, diese jedes Mal, wenn sich der Lagerort ändert, an den Geschäftspartner zu übertragen. Was beim Barcode noch funktionierte, soll sich beim EPC grundlegend ändern. Jeder der Beteiligten hält seine Daten in seinem System, erlaubt jedoch autorisierte Zugriffe durch seine Partner. Die auf XML basierenden Metasprache PML (Physical Markup Language) soll plattformübergreifend für ein gemeinsames Datenbankformat sorgen.
Die Grundelemente für den weltweiten RFID-Datenaustausch stehen damit bereits fest. Und mit dem Aufweichen der Insellösungen einzelner Firmen und Konzerne wächst neben den Möglichkeiten der Warenkontrolle auch das Potenzial zur Kontrolle des Kaufverhaltens der Konsumenten. EPCglobal hat bereits reagiert und in ihren Datenschutzrichtlinen verankert, dass Käufer von RFID-Produkten stets darüber informiert werden sollen, dass sie die Möglichkeit haben die Tags außer Funktion zu setzen oder sie abzutrennen.
Jörg Auf dem Hövel
Morgenwelt, 14. Juni 2004
Original: http://www.morgenwelt.de/418.html