Flugzeuge werfen über einem Land Millionen winziger Chips ab, die sich selbständig vernetzen und alles melden, was ihre Sensoren registrieren. Science-Fiction? Nicht unbedingt.
Seit Jahren wird in den USA an dieser Idee geknobelt und an ähnlichen Projekten einer ?intelligenten Umgebung?. Ambient Intelligence (AMI), so der Fachjargon, setzt die Allgegenwärtigkeit von Informations- und Kommunikationsmitteln voraus.
Die Fachwelt spricht bereits vom ?digitalen Staub? ? fast oder ganz unsichtbaren elektronischen Komponenten, die in Zukunft überall vorhanden sein werden, in Gebäuden, Maschinen, Autos oder auch der Kleidung.
Erste Vorboten dieser Entwicklung sind schon da, wie Professor Arnold Picot von der Universität München auf einer Tagung der Vereinigung Münchner Kreis betonte. In immer mehr Produkte zieht immer mehr Elektronik ein. Milliarden von Mikrochips arbeiten inzwischen in Computern, Handys, Fahrzeugen aller Art, Haushaltsgeräten oder Werkzeugmaschinen.
Noch besitzen diese digitalen Komponenten erst rudimentäre Voraussetzungen für die intelligente Umgebung. Doch ihre Fortentwicklung schreitet rasant voran ? sie werden noch kleiner, billiger und leistungsfähiger. Und vor allem: Sie werden vernetzungsfähig.
Netze, die selbst entstehenZugleich überziehen Funk-Netze immer größere Teile der Welt. Und die Industrie arbeitet daran, die verschiedenen Arten der drahtlosen Übertragung, die jetzt noch getrennte Welten darstellen, miteinander zu verbinden.
In der intelligenten, digitalen Umgebung von morgen werden sich die Systeme deshalb automatisch der jeweils besten Netze bedienen und werden auch die einzelnen elektronischen Teile selbständig miteinander Ad-hoc-Netze bilden.
Damit soll entstehen, was Wissenschaftler wie Jose Encarnacao vom Fraunhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung als Schlüssel für AMI betrachten. Systeme, die feststellen können, wo sich die Benutzer befinden, und möglichst auch, in welchem Kontext.
Und die zum anderen aus den gesammelten Informationen erkennen, welche Aufgaben die Benutzer erledigen wollen und welche Unterstützung sie erwarten.
Viele dafür notwendigen Technologien sind bereits vorhanden. Der Ort kann zum Beispiel durch Satelliten-Navigations-Systeme festgestellt werden. Sensoren können Umgebungseinflüsse ermitteln. Und lernende Computersysteme stellen sich auf die persönlichen Verhaltensweisen der Anwender ein.
Zur generellen Verbreitung und für kompliziertere Aufgaben bedarf es laut Encarnacao aber noch einer weiter gehenderen Integration der Technologien sowie der Entwicklung adäquater Systemarchitekturen und Softwareprogramme.
Weltweit wird in vielen Projekten an der Realisierung solcher intelligenter Systeme gearbeitet. Die Industrie zeigt enormes Interesse und experimentiert intensiv. Erst vor kurzem haben europäische Automobilhersteller ein Konsortium gegründet, das mit Ad-hoc-Netzen einen Informationsaustausch zwischen fahrenden Autos realisieren will.
In kritischen Situationen, beispielsweise bei Glatteis, soll damit ein Fahrzeug automatisch das andere warnen. Andere Möglichkeiten, wie die Meldung von Motorschäden an die Werkstatt oder den Hersteller, werden bereits erprobt.
Stark interessiert an intelligenten Systemen ist auch die Medizintechnik. So können an der Kleidung angebrachte Chips und Sensoren permanent den Gesundheitszustand von Personen fernüberwachen.
In den USA haben Bürger sogar schon angekündigt, sich dazu Chips in den Körper implantieren zu lassen. Bereits Wirklichkeit ist die Technik im Nachtclub Baja Beach in Barcelona. Dort können sich Gäste einen Chip als Mitgliedsausweis und zum bargeldlosen Bezahlen unter die Haut drücken lassen ? was heute noch eher ein PR-Gag ist, könnte bald allgemeine Praxis sein.
Einen wichtigen Schritt in Richtung digitale Umgebung stellt nach Meinung der Experten die Einführung der RFID-Technik dar. RFID (Radio Frequency Identification) besteht aus zwei Einheiten ? aus kleinen Funk-Chips (Transponder genannt), die an Produkten oder sonstigen Dingen angebracht werden, und aus Lesegeräten, mit denen die auf dem Chip gespeicherten Informationen berührungslos sichtbar gemacht werden können.
Auf diese Weise lässt sich der Weg von Produkten verfolgen, lassen sich Dinge identifizieren oder können Bestände schnell und genau erfasst werden.
RFID soll deshalb künftig den Strichcode auf Verpackungen ablösen. Große Handelskonzerne wie die deutsche Metro oder die US-Gruppe Wal-Mart haben mit der Einführung schon begonnen. Sie rechnen sich große wirtschaftliche Vorteile aus. In fernerer Zukunft werden mit RFID-Etiketten versehene Güter im Materialfluss sogar selbst ihren Weg suchen, gesteuert durch die im Chip programmierten Informationen. Es entsteht ein ?Internet der Dinge?.
Der Vizepräsident des Branchenverbandes Bitkom, Heinz Paul Bonn, schätzt RFID als ?Technik mit Querschnittsfunktion? ein, die das ganze Leben wesentlich verändern und verbessern werde. Denn ihr Einsatz wird sich nicht auf Handel und Logistik beschränken. Vorgesehen ist auch, die Eintrittskarten der Fußballweltmeisterschaft 2006 mit RFID-Chips zu versehen.
Weitere Einsatzbereiche sind zum Beispiel Reisepässe, Geldscheine oder Fahrausweise. Die Chips können aber auch als Informationsträger an unzähligen anderen Gegenständen angebracht werden. Mit Handys oder ähnlichen Geräten könnte dann jeder, so die Überlegungen der Experten, die Inhalte ablesen.
Damit würden umfassende elektronische Informationssysteme entstehen ? zugleich aber auch das Schreckgespenst des ?gläsernen Menschen?. Die künftige intelligente Umgebung kann schlimmstenfalls jeden Schritt und jede Handlung des Bürgers registrieren und weitermelden ? wo er ist, was er tut, wie er sich fühlt. Seine Einkäufe, seine Wege, seine Geldausgaben, alles wird kontrollierbar.
Das ist eine Horrorvorstellung. Dass es dazu nicht kommen darf, darüber sind sich im Prinzip alle einig. Doch wo die von der Technik einzuhaltenden Grenzen liegen, ist umstritten.
Industrie und Wissenschaftler befürchten, dass der Datenschutz ihre Projekte behindern könnte. Erst dieser Tage forderte Metro-Vorstandsmitglied Zygmunt Mierdorf, dass ?RFID nicht durch eine Regelungswut erstickt wird?.
Dem stehen große Bedenken anderer gesellschaftlicher Gruppen im Hinblick auf die schöne neue Welt von AMI gegenüber. Die Bürgervereinigung FoeBuD hat Metro deshalb schon den ?Big Brother Award? verliehen. Sie fordert eine demokratieverträgliche, menschenfreundliche Gestaltung der Technik und eine breite öffentliche Diskussion darüber.
Mit dem Vordringen der neuen Techniken tritt offensichtlich aber auch ein Gewöhnungseffekt auf. ?Die Gesellschaft ist heute bereit, mehr zu akzeptieren als früher?, konstatierten Teilnehmer des Münchner Kreises.
Und noch eine weitere Feststellung wurde dort gemacht: Bei vielen Bürgern siegen die mit der Technik verbundene Bequemlichkeit und sonstigen Vorteile über die Bedenken im Hinblick auf den Datenschutz. Immer öfter würden auch individuell zugeschnittene Services angeboten und benutzt. Dazu müssten aber auch persönliche Daten preisgegeben werden.
Neben dem Datenschutz birgt das Konzept der intelligenten Umgebung aber noch eine zweite Problematik in sich. Die Rollenverteilung zwischen Technik und Anwender wird sich zumindest teilweise umkehren.
Künftige elektronische Systeme werden die Informationen nicht nur selbständig sammeln, sondern diese auch analysieren, kombinieren ? und selbst Aktionen einleiten. Agieren werden in diesem Szenario zunehmend also die technischen Systeme, reagieren wird oder kann der Nutzer.
Noch allerdings schreckt die Industrie davor zurück, den digitalen Systemen die automatische Entscheidung zu überlassen, soweit Menschen mit im Spiel sind. So alarmieren neue elektronische Warnsysteme den Autofahrer in bestimmten Situationen, greifen aber nicht von selbst ein.
Auch Gesundheitsanwendungen messen und überwachen, treffen jedoch keine Aktionen. Das hat mit der Unzulänglichkeit der Technik zu tun, aber auch mit der öffentlichen Akzeptanz und mit Haftungsfragen.
Doch dies könnte sich mit der technischen Perfektionierung ändern. Damit stellt sich eine alte Frage: Wird der Mensch von der Technik nur unterstützt oder wird er von ihr abhängig, muss er ihr blindlings vertrauen? Wo hier die Grenzlinie künftig verlaufen wird, ist auch für die Experten offen.
(SZ vom 15.02.05)
Walter Ludsteck
Süddeutsche Zeitung, München, 14. Februar 2005
Original: http://www.sueddeutsche.de/computer/artikel/774/47727/