FoeBuD e.V.  ·  Marktstraße 18  ·  D-33602 Bielefeld
http(s)://www.foebud.org  ·  foebud@bionic.zerberus.de

Botschaften per Mailbox

Janet Binder

Die Finger rasen über die Tastatur seines Computers. Maschinenschreiben hat er nie gelernt, die Übung macht's. "Hallo Janolus!" steht auf dem Bildschirm. Die Unterhaltung mit Jancilus kann für Julian beginnen.

Julian Schwarze hat mit elf Jahren angefangen, am Computer seines Vaters zu spielen. Heute ist er 14 und damit einer der jüngsten Mailboxbenutzer in Deutschland. Bis zu drei Stunden am Tag sitzt er vor dem Bildschirm und kommuniziert mit Usern, das heißt mit anderen Mailboxnutzern. Wie Janolus zum Beispiel, den er gerade über die Mailbox kennengelernt hat.
Die wenigsten treten in der Mailbox, dem elektronischen Briefkasten, mit ihrem richtigen Namen auf. Kurz klickt Julian die Infoleiste an. Hier hat Janolus seine Identität preisgeben. Auch seinen Wohnort: Halle genau wie Julian. "Bei 3,5 Millionen Online-Benutzern ist das ein absoluter Zufall. Klasse, da wird er ihn gleich mal anrufen. Am Wochenende sitzt Julian auch schon mal einen ganzen Tag am Computer. Seine Eltern finden das nicht so toll. Zumal die Telefonrechnung deshalb rund 250 Mark im Monat beträgt. Denn am Computer ist ein Modern angeschlossen und der wiederum an die Telefonleitung. Nur so funktioniert der Austausch von Nachrichten oder das Abfragen von Informationen per Mailbox. Doch Julian wiegt sich in Sicherheit: "Verbieten können meine Eltern mir das Mailen nicht, denn dann würde ich meinem Vater auch nicht mehr seine Programme oder das Kopieren von Disketten erklären." Er hofft, demnächst einen eigenen Rechner zu bekommen, um dann selbst eine Mailbox zu betreiben. Dann können andere User sich bei ihm einloggen, das heißt über seine Mailbox mit anderen Usern Nachrichten austauschen oder Informationen abfragen.
Geld verdienen will er damit nicht. Aber ernster will er genommen werden. Er gibt in der Mailbox sein Alter schon gar nicht mehr an. Manchmal allerdings kommt es doch heraus. Faszinierend findet Julian, daß er mit Hilfe des Computers mit Menschen in der ganzen Welt sprechen kann, die er noch nie gesehen hat. Geredet wird natürlich vor allem über Computer. "Nur eine andere Art von Kommunikation", meint Sven Kornmern, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Bielefeld, Bereich Medienpädagogik. Er versteht nicht, warum sich hartnäckig das Gerücht hält, Kids am Computer würden sozial vereinsamen. Auf sogenannten Brettern werden hunderte von Themen in der Mailbox angeboten, zu denen sich die User äußern können. Andreas aus Oldenburg und Daniel aus Karlsruhe unterhalten sich über das Geschehen in der Lindenstraße. "Ham se wieder einen abgemurkst" schreibt Daniel, und weiter: "Kommt Ollie wieder der in den Knast?" Er gibt zu, wie er zur Lindenstraße steht: "Also, im Moment bin ich jedenfalls voll süchtig."
Der 17jährige Dennis König aus Bünde verfolgt ab und zu die Diskussionen um die Lindenstraße, auch wenn er selbst die Sendung kaum kennt. Seit zwei Jahren besitzt er ein Modern zu seinem Computer. Für ihn ist die Mailbox eine "Rieseninformationsquelle". "Das ist wie Zeitung lesen, nur interaktiv", glaubt er. Dennis ist User der Bielefelder Mailbox Bionic. Hier kann er zum Beispiel Informationen über Parteien und Organisationen abrufen. Seit 1987 gibt es Bionic - die einzige Mailbox in Bielefeld, die schon so lange besteht. Zehn bis 15 Mark kostet die Nutzung von Bionic. Und das ist auch für Schüler wie Dennis finanzierbar.
Derweil hat Julian bei Janolus angerufen und ihm verraten, daß er erst 14 ist. Die Hoffnung, daß Janolus das gleiche Alter hat, bestätigte sich nicht. Er ist um die 20 und beim nächsten mal Online muß Julian feststellen, daß auch Janolus ihn plötzlich nicht mehr ernst nimmt. Für Julian steht fest: Sein Alter verrät er so schnell niemanden mehr. Und wenn er erst mal seine eigene Mailbox betreibt, wird sowieso alles besser.

Neue Westfälische, 10. November 1995

© WWW-Administration, 08 Mar 06