von Matthias Lange
o immer wir auch heute auf den Begriff Neue Medien treffen, überbietet man sich in der alten Medienlandschaft gegenseitig in allgemeiner Euphorie. Da ist nicht selten von Datenautobahnen die Rede, überschwenglich wird über Neue fabuliert, und am häufigsten trifft man auf Begriffe wie Globales Dorf oder die Tiefe des Datenraumes. Auf der anderen Seite umweht den Begriff der Neuen Medien ein Eldorado der technischen Glückseligkeit. Ein neues kommunikatives Atlantis scheint geboren, eines der glasfaserverstärkten Datennetze, der weltumspannenden Kommunikation oder, in seiner theoretischen Variante, der Aufhebung des HIER und JETZT. Kritiker hingegen wettern einhellig gegen den Verlust der öffentlichen Gesellschaft, während linke Pädagogen wieder einmal nur eine von den Nintendo/Sega-Großkonzernen gesteuerte Verblödungskampagne vermuten. Diedrich Diederichsen diesbezüglich noch einer der kühleren Köpfe, stellt zu recht pointiert fest, daß man nur den Begriff der Neuen Medien ins Feld zu führen brauche und schon würden Kommunalpolitiker Medienakademien gründen oder die Neuen Medien generell fördern, dabei immer geleitet von der Befürchtung, so Diederichsen, daß uns die Japaner sonst zum Frühstück verspeisen.
Eine Mailbox ist, reduziert betrachtet, nichts anderes als ein Rechner, über den man mit anderen Menschen kommuniziert. Im Prinzip so, als wenn mir jemand den Zugriff auf seine Festplatte genehmigen würde, wo ich mich mit anderen treffen kann. Im Gegensatz zu kommerziellen Online-Diensten wie Compuserve oder dem völlig veralteten und langsamen Datex-J, die zum einen teuer sind und Kommunikation nur in den von ihnen starr vorgegebenen Winkeln zulassen, kann in den freien Boxen jeder mit jedem einfach und preiswert Informationen tauschen und darüber debattieren. Außerdem ist eine Mitwirkung an der Struktur und dem Angebot der Boxen ein wichtiges Grundelement freier Anbieter. Anders als in den Hobbyboxen, in denen meist nur Software geladen oder Technik/Hobby Diskussionen verfolgt werden können, sind in freien Bürgernetzen politische Gruppen, Hacker, Künstler u.a. versammelt, und es wird durchaus ambitioniert alles diskutiert, was gerade von Interesse ist. In Deutschland existieren über 3000 freie Mailboxen, und täglich wird erneut eine unübersichtliche Datenmenge erzeugt und durch die Telefonnetze befördert.
Vorbildlich ist beispielsweise die Bielefelder BIONIC, mittlerweile eine der größten freien Mailboxen Deutschlands. Das über 2000 Bretter (Verzeichnisse) umfassende Festplatten-Sammelbecken beherbergt neben Diskussionsforen für Gewerkschaften oder die Grünen auch Computerforen Grünen auch Computerforen oder welche für Freunde der Esoterik, Kultur usw. In sogenannten Geheimbrettern wird gar über spezielle Überwachungs- und Spionage-Tendenzen spekuliert, während die immer hochfrequentierten Sex- oder Drogenbretter alle Formen des Stimulierens behandeln. Ein Thema, das man hier nicht findet, gibt es auch nicht. Man muß aber nicht alle Informationen im Paket auf die eigene Platte saugen, also per Modem überspielen, denn natürlich läßt sich die unübersichtliche Datenmenge durch Abwählen einzelner Bretter beschränken. Doch das ungute Gefühl, etwas zu verpassen, bleibt.
Allein in die BIONIC wählen sich taglich 400 Teilnehmer ein. Würde man noch die weitere Netzstruktur hinzurechnen (480 Mailboxen, die ihre jeweils neuen Meldungen allein im Z-Netz über Nacht austauschen), erreicht man potentielle 100.000 Direktnutzer, darin noch nicht eingerechnet die Internet Übergänge oder per e-mail weltweit adressierbare Teilnehmer. Die Millionen-Grenze ist so mit zunehmender Vernetzung schnell überschritten. Doch die so häufig propagierte Datenreise erweist sich bei genauerem Hinsehen als langwierige Trüffelsuche, denn, wie gesagt, es geht ja um nützliche Information, und die muß zunächst mal gesichtet und bearbeitet bzw. dazu überhaupt erst gefunden werden.
Hat man sich eingeloggt und seine bevorzugten Themen-Bretter gewählt, trifft man dort in der Regel auf einen bereits eingeschworenen Kreis von Diskutanten, die öffentlich einsehbar ihre Mitteilungen im jeweiligen Brett hinterlassen. Die täglich eintrudelnden Messages (es gibt auch nicht-öffentliche, die bekommt man in sein ganz privates Fach gelegt, so wie analoge Post auch) müssen von jedem User durchgesehen und eventuell beantwortet werden, ein nicht zu unterschätzender Zeitaufwand.
Oftmals nehmen Diskussionen einen ominösen Verlauf. Als Beispiel muß eine Debatte im Hobbynetz Fido herhalten, in der ein Fotografie-lnteressierter zunächst Milchflecken auf seinen Dias bemängelte und dann die einfache Frage aufwarf, wie man diese wieder beseitigen könnte. Das Ausmaß der schlichten Anfrage war überraschend: Zwei Wochen zog sich unter dem Stichwort »Milch über Dias« eine Diskussion durchs Brett Fotografie. Waren zunächst noch kompetente Statements zu lesen, wie der Vorschlag, ein Netzmittel oder gleich die fettlösende Wirkung von Spüli zu nutzen, wucherte das Thema am Ende zu einer allgemeinen Diskussion über Fleckenbeseitigung aus. Die Kunst des Querlesens innerhalb einer Box ist demnach ein gefragtes Talent, um die in allen Brettern zahlreich auftretenden Redundanzen zu überspringen. Häufig wachsen die Debatten von einer speziellen Problematik zu übergreifenden Diskussionen, in denen nicht selten gewichtige Lebensfragen am Horizont schimmern. Wiederholt werden dabei auch die eigentlichen Brett-Themen völlig verfehlt. Berüchtigt in jeder Box sind auch die ewigen »Hallo«- oder »Ich bin hier«-Nutzer, die unerschütterlich mit ihren sonst inhaltslosen Lebenszeichen Messages alles zustopfen und den ernsthaften Suchern auf die Nerven gehen.
Jedes Themen Brett hat einen sogenannten Moderator, der dafür sorgen kann, daß die Bretter thematisch begleitet werden. Seine Aufgabe Datenmüll zu reduzieren und rassistische oder sonstwie verwerfliche Außerungen herauszufischen oder Diskussionen anzukurbeln, ist dabei nicht ganz unumstritten. Er ist, so wie auch der Sysop (Systemsperator), also der eigentliche Betreiber der Mailbox, ein heftig kritisierter Datenkönig. Macht über die Box zu besitzen, ist immer wieder ein Kritikpunkt, besonders in den freien Bürgernetzen, wo quasi ständig über demokratische Strukturen diskutiert wird. Doch wer nun denkt, daß man es nur mit einer einfachen elektronischen Briefkultur zu tun hat, der täuscht sich. Die Kommunikation ähnelt mehr einem spontanen und schnellen Gespräch mit Unbekannten, Aggressionen sind ebenso an der Tagesordnung wie fulminante, rhetorisch gelungene Diskussionsschlachten mit mehreren Beteiligten. Die häufig hundert Kilometer auseinanderwohnenden und in Streit geratenen Kommunikationspartner drohen sich zuweilen Verbalprügel an oder überschritten den Gegenüber konsequent mit schwachsinnigen Nachrichten. So kommt es ständig zum Verweis auf die Netiquette, eine Art Kommunikationsgrundgesetz, in der immer wieder Ausfälle von den Sysops oder Moderatoren gezügelt werden müssen.
Um auch verschiedene Tonfälle oder Nuancen in dieser Kommunikation zu ermöglichen, hat sich seit langem ein eigener Schriftbetonungscode etabliert. :-) steht für einen ironischen Zusatz oder Freude, während :-( Enttäuschung betont. Ebenso steht ein großgeschriebenes SCHElßE für Schreien, während ein durch Unterstriche eingeführtes _Hallo_ ein Flüstem bedeutet.
Ein für uns besonders interessantes Beispiel für die zunehmende Spezialisierung im Mailbox-Angebot ist die internationale Kunstmailbox THE THING, in der ein noch relativ überschaubarer Kreis von Nutzern aktuelle Themen der Kunst diskutiert und News austauscht (dazu mehr im nächsten Heft). Mit seiner internationalen Vernetzung (New York, Düsseldorf, Köln, Hamburg, Berlin, Stockholm, London, Wien) erreicht die Box mittlerweile eine umfassende, wenn auch teilweise noch etwas privat geführte Diskussion.
Doch eine Mailbox kann nicht nur ein Forum oder Diskussionsverzeichnis sein. Die in Holland von der Amsterdamer Agentur Bilwet angebotene DIGITALE STAD zum Beispiel ist parallel auch eine Art urbaner Baukasten. Jeder Nutzer kann sich hier, ähnlich wie bei einer normalen Mailbox, eintragen und wird damit Mitglied einer imaginären Stadt. Die derzeit 10000 Bewohner bearbeiten in regelmäßiger Form über 50 Telefonanschlüsse alles mögliche im Themenfeld der Urbanität, von Diskussionen um Politik und Verwaltung bis hin zur eigenen Kulturszene und Tageszeitung. Anders als in den ausschließlich textlich aufgebauten Infoboxen ist hier schon der Trend zur Visualisierung in Ansätzen sichtbar (Stichwort: WorldWideWeb ). Man hat es zwar nicht mit Straßen, Häusern oder Einkaufszentren zu tun, aber es gibt eine übersichtliche grafische Oberfläche zur Orientierung im dichten Datengewebe. Mehr auf Sicherheit fixierte Nutzer klinken sich gleich in die Polizei-Sicherheitsdiskussion ein, während Pädagogen sich um Erziehungsfragen kümmern. Die sich so ständig erweiternde Struktur ist natürlich auch nicht vor Kriminellen oder Faschisten geschützt, die können z.B. ohne weiteres durch die Stadt (nochmals betont: es handelt sich um Textdiskussionsverzeichnisse) schleichen und ihr Unwesen treiben oder Propaganda hinterlassen, während in den Bibliotheken der Stadt gerade feinsilbig über Literatur diskutiert wird.
Doch bislang kann keiner sagen, wohin sich diese Stadt entwickeln wird. Mitglieder der Agentur Bilwet rechnen damit, daß irgendwann die ganze Konstruktion der Stadt auseinanderbricht, schon jetzt ist man an der Grenze der technischen Möglichkeiten angelangt. Die weiter oben beschriebenen Kommunikationsprobleme lassen ebenfalls grüßen, doch das ist für die Medienforscher auch kein Problcm, sie halten es mit der gesamtcn Kommunikation sowieso eher locker und spielerisch und proklamieren bereits, daß sich irgendwann eine Spaßguerilla bildet, die konsequent alle Rechner zerschlägt.
Die sich zunehmend entwickelnde Mailboxstruktur jedenfalls wird in ein paar Jahren zum festen Kommunikationsstandard gehören. Boxen wie die BIONIC werden sich dabei zum selbstverständlichen Diskussionsfeld einer Region entwickeln, viele spezialisierte freie Netze und experimentelle Projekte sind bereits entstanden und werden noch stärker entstehen. Die Konkurrenzsituation zu kommerziellen Online Diensten wie Compuserve, Datex-J oder dem jetzt von Bill Gates geplanten Microsoft-Netz ist dabei für die sich selbst organisierenden Boxen kein Problem. Die selbstregulierenden Kräfte der freien Mailboxen sind so groß, daß man den starren Gebilden der kommerziellen Anbieter bezüglich schneller und aktueller Kommunikation und Information allemal bei weitem überlegen ist. Somit kann sich eine Box wie BIONIC inzwischen vor Anfragen aus der Wirtschaft und durch Verbände kaum retten.
Betrachtet man die eingangs erwähnten, zuweilen hysterisch vorgetragenen Visionen nochmals, merkt man, daß die praktischen Möglichkcitcn der Neuen Medien häufig hinter den technischen zurückbleiben. Was nützt mir die theoretische Fähigkeit, gleichzeitig in Australien und Japan zu sein, wenn ich doch nur maximal 10 Finger zum Tippen und zwei Augen zum Lesen besitze? Die theoretischen Diskussionen um die Neuen Medien mögen nützlich sein, um neue Grenzen das Umfelds, des Standortes im Sinne einer globalen Perspektive abzustecken, in der Praxis wird jedoch selten die so gehypete schnelle Datenreisegeschwindigkeit erreicht. Da hilft auch keine inzwischen noch so hofierte Debatte um Internet, WorldWideWeb, Cyberspace oder sonstige Formen der vielbeschworene Interaktivität.
Doch keineswegs soll hier Skepsis das letzte Wort haben: In zehn Jahren gehört die e-mail-Kommunikation zu unserem Alltag, und die Online-Kommunikation wird als einer der größten Kommunikationsfortschritte unseres Jahrhunderts gelten.
U.a. in den nachsten Heften: Die Kunstbox THE THING, Ponton, Die digitale Stadt und eine doch notwendige theoretische Positionsbestimmung.
Ausgewählte freie Mailboxsysteme und ihre Telefonanschlüsse:
Pakt, Januar 1995