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Abfahrt mit Musik

Peter Glaser über den rasenden Stillstand und die Kunst der Kommunikationsimprovisation

Früher war ein Stau auf der Autobahn eine ruhige Sache. Man stand, Ende. Manchmal lief einer Amok, wie Michael Douglas in Falling Down. Die meisten aber saßen mit ausgekuppelter Strebsamkeit in ihren Kraftfahrgehäusen und warteten auf was Abgefahrenes. Heute geht's im Stau erst richtig los. Fahren heißt, sich in einem Zustand beschränkter Mobiltelefonierfähigkeit zu befinden. Laptoptippen geht auch nicht gut. Im Stau aber kann man plötzlich wieder wunderbar arbeiten. "Mülüt, mülüt", machte Radis Handy, wichtiger Server abgestürzt. Ich war mit Radi nach Bielefeld unterwegs. Sollte einen Vortrag über die frühen Jahre des Onlineseins halten, die Zeit der 300-Baud-Modems. Vati erzählt ausm Kriech. Mein erstes Modern steht schon im Museum. Radi ist Netzwerk-Crack, immer in Bereitschaft. Er instruierte seine Leute. "Mülüt." Nach und nach trudelten die Vollzugsmeldungen ein. Im zweiten Stau erkannten wir, dass wir mindestens eine Stunde zu spät kommen würden. Gibt ein schönes Gedicht: Publikum sitzt stundenlang / Wartet auf den Bumerang. Nützt aber nix. Nach einer halben Stunde fangen die ersten, die gerade noch "Anfangen! Anfangen!" gerufen haben, an, "Aufhören! Aufhören!" zu rufen. Ich mülüte die Veranstalter an und schlug vor, den Vortrag via Handy anzufangen. Die Improvisateure eilten an die Hardware. Telefone wurden aufgeschraubt, Lautsprecher angeklemmt. Einer hielt die Leute mit einer Jo-Jo-Vorführung bei Laune.

Ich erzählte Radi von einer Fahrt durchs pommersche Hinterland Anfang der 80er Jahre. Wir waren mit einem Rudel unfassbar netter Polen unterwegs vom ersten polnischen Punk-Festival nach Warschau. Eines der Autos hatte eine Panne, die ganze Karawane hielt auf einer Wiese, und während der Defekt behoben wurde, gab es Musik für alle.

Einer hatte einen Cassettenrecorder neben den offenen Motorraum gestellt und den Lautsprecher mit zwei Drähten an eine Flüstertüte angeschlossen, aus der die New Yorker Punkband Art knatterte. Art hatten, weil's billiger war, eine Single mit vier Stücken aufgenommen, in stereo, auf jedem Kanal ein Stück. Also: linker Kanal ein Stück, rechter Kanal ein Stück, und das jeweils auf der A- und der B-Seite.

Wir übten uns in Stauismus. Ich nahm mein Handy und begann mit meinem Vortrag. " Die Älteren unter den Zuhörern werden sich vielleicht noch an eine Zeit erinnern, in der es im Fernsehen einen Sende-schluss gab..." Alles war damals verboten. Modems. Anrufbeantworter. Das Übertragen von Daten aus einem Netz ins andere. Schön war das, als die technischen Unzulänglichkeiten und die schwachsinnige Monopolpolitik der Bundespost es uns noch unmöglich machten, überall und jederzeit zu arbeiten.

Ich stieg aus und ging an den grünen Rand der Autobahn. Ein Stück entfernt war ein Teich. Ich erzählte, wie man die Daten vom Cassettenrecorder in den Computer einlas, bloß nicht am Tisch schubsen. Dämmerung begann. Die Menschen verschwanden als Erste in das Dunkel des Abends, Silhouetten. Auf dem Wasser schimmerte noch der Himmel in zartem Rosa, und am Ufer hatte jemand eine Tüte aus seidenpapierdünnem Plastik in der Hand, die vom Abendlicht leuchtete wie ein Tiefseewesen.

Darüber, im stahlblauen Strahlen des letzten Himmels vor der Nacht, der Stern von Betlehem: eine glitzernde Verkehrsmaschine und ihr schneeweiß leuchtender Kondensschweif. Ich erzählte von gestern in das Handy hinein und winkte Radi und zeigte hinüber ins nächste Jahrtausend, dorthin, wo morgen die Sonne aufgehen würde. In der Entfernung schob der Wind einzelne Blätter aus einer Laubschar über die Zementplatten eines Wegs voran, Spielzüge in einem Spiel, das kein Mensch versteht.



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© WWW-Administration, 21 Jan 03