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Die Zuvielisation

Information wird die Menschheit nicht retten / Ein Essay von Rena Tangens und Peter Glaser

Das Großereignis war werbewirksam geplant: Der Bundeskanzler persönlich sollte das deutsche ISDN-Netz in Betrieb nehmen. Zur Eröffnung der Cebit 1989 drückte Dr. Helmut Kohl auf einen großen Knopf, und ein Netzplan leuchtete auf. Faszinierend war nicht die Aussicht auf moderne Kommunikationswege, sondern eine Wahrnehmung am Rand: der Eindruck, daß der Kanzler nicht richtig auf einen Knopfdrücken kann.

Der Knopf war zwar mit Entschiedenheit gedrückt worden, dem Drückenden jedoch seinerseits eine leise Bedrückung anzumerken. Diese Art Unwohlsein im Umgang mit Informationstechnik ist das Dilemma unserer Zeit.

Da gibt es eine Generation, die mit dem Röhrenradio aufgewachsen ist und jetzt an den Schaltstellen von Industrie und Politik sitzt. Diese Generation weiß im Grunde nicht einmal, was ein Computer soll, wie er funktioniert und wessen er mächtig ist. Sie hat auch keine Zeit, sich darum zu kümmern. Trotzdem ist sie dazu verurteilt, der neuen Technologie den Boden zu ebnen. Daß dies nötig ist, hat sie immerhin schon begriffen.

Die meisten Jungen und einige Alte wissen dagegen mehr. Sie nehmen sich die Zeit, am Computer den lautlosen Urknall des Online-Universums zu bestaunen. Und so sind wir heute Zeugen einer paradoxen Situation: Die Macht ist bei den Mächtigen. Das Wissen aber gehört dem Volk. Das könnte der Anfang eines gigantischen Demokratisierungsprozesses sein. Was im Online-Universum vor sich geht, ist so neu, daß alle gleich viel (oder besser: gleich wenig) Ahnung haben von dem, was geschieht.

Das Neue ist nicht die Technologie selbst, die uns in die Informationsgesellschaft führen soll. Nichts wird zu Zwecken benutzt, die wir nicht schon kennen würden. Es geht auch nicht um Originalität oder Neuheit - es geht ums Ganze. Die ganze Welt scheint zunehmend komplexer zu werden; vielleicht sind auch nur wir es, die nach und nach lernen, immer neue Grade einer unermeßlichen, uns umfassenden Komplexität zu erkennen. Komplexität macht uns verrückt, weil wir glauben, sie beherrschen zu müssen.

Das Instrument, das uns hierzu bisher am besten geeignet scheint, ist der Computer. Und nun wächst ein atemberaubender, transkontinentaler Computerverbund heran: das Netz. Die Welt wird durch das Netz nicht einfacher, im Gegenteil, sie wird feiner, verzweigter, vielschichtiger. Wir Menschen sind, wieder einmal, im Begriff, etwas Großes zu erzeugen - um es erst später zu verstehen.

Das digitale Universum ist ein weltumspannendes Faszinosum und nährt ein unbestimmtes Gefühl der Sehnsucht. Wonach sehnen wir uns? Nach Informationen?

Wir haben definitiv ein Zuviel an Information. Immer mehr Daten und Nachrichten fallen immer schneller an. Dutzende von TV-Sendern, Zeitschriften, Radioprogrammen beliefern uns mit Informationen, die wir gar nicht mehr aufnehmen können. Und jetzt kommen Datenbanken, Netze und Online-Dienste dazu. Das Informationszeitalter leidet an Desorientierung. Auswahl ist deshalb die Kunst der Stunde. Während Jahrmillionen der Evolution war selektive Aufmerksamkeit ein Überlebensmechanismus. Heute ist sie eine Kulturtechnik, die erlernt werden muß. Erst mit der Zeit finden die meisten Menschen ihre eigene Taktik, nach bestimmten Erkennungsmerkmalen genau jene Dinge wahrzunehmen, die ihnen wichtig sind.

Am Anfang einer Online-Existenz steht das absichtslose Reiten auf den Datenfluten, das Surfen im Netz. Doch aktiv durch die Flut zu steuern, bedingt mehr Tiefgang. Denn wer Informationen nur konsumiert, gibt die Verantwortung für den Inhalt seines Kopfes an andere ab. Erst wenn wir die Dinge in einen Zusammenhang bringen und zu uns selbst in Beziehung setzen, wird Information zu Wissen.

Das ist wie beim Bauen mit Lego: Die Informationen allein sind ein bunter, ungeordneter Haufen Steine. Wissen ist, wenn daraus ein Gebäude entsteht. Der Bauplan ist das, was die Gesellschaft heute braucht.Früher wurden diese Pläne an den Schulen und Universitäten vermittelt. In Zukunft brauchen wir neue, zwanglose und allgemein zugängliche Vermittlungsstellen.

Zum Leben im Globalen Dorf gehören öffentliche Räume, in denen Information zu Wissen und Wissen zu gemeinschaftlichem Handeln werden kann - etwas wie ein Mediencafe. (Nicht zu verwechseln mit Internet-Kneipen, in denen zur Förderung der Gastronomie ein paar Terminals abgestellt werden und alleingelassen werden). An diesem Ort kann jeder einfach und mit kompetenter Hilfe in die Online-Welt eintauchen. Hier kann man sich nebenbei auf angenehme Art vergewissern, daß die anderen Menschen noch real und keine Simulation sind.

Ein so gestaltetes Netz wäre ein weltweites demokratisches Laboratorium - wenn wir es entsprechend benutzen. Bisher tun wir es nicht. Bisher gehen wir nicht den demokratischen, sondern den technologischen Weg. Dessen prominentester Apostel ist Bill Gates, der Chef von Microsoft. In seinem Buch "Der Weg nach vorn" lassen sich seine Visionen nachlesen, besonders anschaulich illustriert durch die Beschreibung einer vom ihm geplanten High-Tech-Villa.

"Das System kann instruiert werden, welchen Leuten zu bestimmten Zeiten an bestimmten Tagen der Woche der Zugang erlaubt werden soll. Mikrowellen-Sensoren orten menschliche Bewegungen innerhalb des Hauses und können veranlassen, daß das Licht angeht, wenn jemand einen Raum betritt. Auch wenn es erst vielleicht unheimlich wirken mag, wenn Lichter automatisch an- und ausgehen, während man durchs Haus geht, so wird man sich bald daran gewöhnen." Das klingt fast perfekt nach Gates, entstammt aber wie viele andere Gedanken Anthony Hymans 1980 geschriebenem Buch "The Corning of the Chip"; Gates liest sich stellenweise wie eine Art Update davon.

Gates' Kernthese lautet: Die Lösung für alle Probleme ist Information auf Knopfdruck. Das ist die neueste Version des Amerikanischen Traums. Und die europäischen Technokraten träumen heftig mit.

In einer programmatischen Schrift der Europäischen Kommission mit dem Titel "Europas Weg in die Informationsgesellschaft" (Bangemann-Report) erscheint als vorrangiges Ziel die Liberalisierung der Märkte. Zwar werden "Kultur" und "die soziale Herausforderung immerhin erwähnt, konkrete Maßnahmen aber werden nicht genannt; das Wort "Demokratie" fehlt völlig.

Ganz anders als Gates geht die Kybernetikerin Marianne Brun an das Netz heran: In ihrem Buch "Designing Society" beschreibt sie die Utopie einer lebenswerten Welt ohne Hunger, Krieg und Umweltprobleme, in der alle Menschen gleichermaßen teilhaben an Nahrung, Wissen, Licht und Lebensfreude. Um die Vision zu verwirklichen, sei ein globales Kommunikationsnetz nötig, zu dem alle Menschen Zugang haben - ein gemeinschaftlicher Wissenspool, der von allen Menschen bestückt und ausgeschöpft werden könne. Brun nennt ihn SBIP, den "Socially Beneficial Information Processor". SBIP gibt eine klare Antwort auf die Frage, was wir mit unserer Zivilisation wollen: das Paradies auf Erden.

Beide Ansätze, sowohl der tecnokratische als auch der utopische, unterstellen, daß es möglich sei, alles Wissen der Welt in einer Maschine unterzubringen und daß dies die Menschheit automatisch in eine goldene Zukunft führe. Schon der Philosoph Raymundus Lullus legte im 13. Jahrhundert mit seinem Konzept für einen enzyklopädischen Mechanismus die Grundlagen für einen solchen Glauben. Lullus meinte, seine Maschine würde die Heiden zwangsläufig bekehren.

Solche Hoffnungen hat es bei der Entwicklung neuer Technologien immer gegeben. 1931 tagte in Genf der Erste Internationale Autobahnkongreß. Damals erhofften sich die Befürworter von einem europaweiten Autobahnnetz jede Menge Arbeitsplätze und ein Zusammenwachsen der Völker. In Wirklichkeit rollten dann die Panzer darüber.

Obwohl die erste Autobahn bereits 1909 konzipiert, Adolf Hitler aber erst 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, feierte ihn die Parteipropaganda des Dritten Reiches als Erfinder der Autobahn. Heute sind es die sogenannten Datenautobahnen, auf denen die Völkerverständigung in eine goldene Zukunft rollen soll. Doch das wird ebensowenig automatisch passieren wie nach dem Großbauprojekt zu Anfang diesen Jahrhunderts.

Das Gefährliche an den Daten-Utopien ist die implizite Gleichsetzung von technischem und moralischem Fortschritt. Sicherlich läßt sich beides miteinander verbinden -das beweisen die Freien Bürgernetze wie ZaMir in Ex-Jugoslawien oder das Zerberus-Netz in Deutschland, die im zurückliegenden Jahrzehnt unabhängig vom Internet aufgebaut wurden.

Die alternativen Netze arbeiten dezentral, transportieren unzensierte Inhalte und sind demokratisch strukturiert.

Bürgerbeteiligung beinhaltet mehr als nur Zugang zum Netz - sie bedeutet, daß es von allen mitgestaltet wird. Ob das geschehen kann, setzt keine technologische, sondern eine politische Entscheidung voraus.

Die Politik aber präferiert die Autobahn, und die Wirtschaft freut sich darüber. Überall eröffnen virtuelle Läden und Cyber-Märkte im Online-Universum, besonders die Marktforscher sind hochvergnügt.

Denn Konsumentendaten sind das Graue Gold des 21. Jahrhunderts. Die Information, wer wann wie oft welche Marke Schokoladenkeks kauft, ist mittlerweile wertvoller als der Schokoladenkeks selbst. Noch werden reale Kekse produziert, aber die Transaktion von Werten verlagert sich zunehmend auf virtuelle Ebenen.

Das mag zunächst für das Individuum sehr erfreulich sein, weil es im Dialog mit dem Hersteller die Geschmacksrichtung der Kekse mitbestimmen kann. Gleichzeitig hinterläßt der einzelne dabei jedoch eine markante Datenspur.

Je mehr Menschen über die Datennetze einkaufen, desto detaillierter werden die Datenbestände. So wächst der Persönlichkeit eine neue, bedeutsame Facette zu: die elektronische Identität. Sie wird zu einem Stück unserer selbst, einem auf diverse Datenträger verstreuten Teil unserer Person, zusammengesetzt aus Kreditbiographie, behördlichen Datensätzen, unserer Krankengeschichte, Angaben über unsere Vorlieben und Abneigungen. Diese Daten beziehen sich sowohl auf unsere Existenz in der Welt als auch im Online-Universum.

In der digitalen Zukunft bekommen wir also einerseits ein Mehr an Mitsprache, andererseits geben wir viel von unserer Privatsphäre preis.

Die Frage wird sein: Wie gerecht ist dieser Tausch? Bringt er dem einzelnen Menschen Vorteil? Stärkt er seine Position gegenüber dem Staat und der Industrie? Oder geben wir vielleicht mehr als wir bekommen? Zwei Szenarien sind denkbar: Das Netz wächst sich zu einer gigantischen Einbahnstraße aus mit einem schmalen Bürgersteig in die Gegenrichtung. Diese Entwicklung würde der Struktur der herkömmlichen Massenmedien mit ihrer konsumorientierten Einweg-Kommunikation entsprechen. Dann würden womöglich Ted-Umfragen die politische Diskussion und Konzernentscheidungen die Justiz ersetzen und die Menschen als Pseudo-Individuen in einer zerfaserten Massengesellschaft leben. Eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft droht, die sich aufteilt in eine Info-Elite und ein Unterhaltungsproletariat. Viele Menschen würden vereinsamen und nur noch mit dem alles beherrschenden Automaten kommunizieren.

Oder die neuen Technologien stärken die Kompetenz der Gemeinschaft gegenüber dem Staat und heben auf diese Weise die Demokratie auf eine höhere Stufe. Dann würde jeder die Gesellschaft mitgestalten können, weil jeder die Möglichkeit dazu hätte. Cyberspace wäre ein weltumspannender Ort, an dem sich eine neuartige Gemeinschaftlichkeit ausbildete. Über das Netz würden Freundschaften geschlossen, neue Nachbarschaften entstehen.

Welches dieser Szenarien Wirklichkeit wird, entscheidet sich heute. Denn heute werden die technischen Voraussetzungen geschaffen.

Die kommerziellen Konzepte zur Entwicklung des Netzes sehen vor, den Datenaustausch bei voller Empfangsleistung auf eine schmalbandige Antwortmöglichkeit zu beschränken. Unternehmen, die Videos auf Abruf anbieten, interessiert es nicht besonders, ob die Leute ihrerseits Filme einspielen möchten.

Wegen eines solchen asymmetrischen Netzkonzeptes ist schon das Btx-System - heute T-Online - ein Flop geworden. Der alte Übertragungsstandard dokumentiert, wie sich die Deutsche Bundespost die Nutzung vorstellte: Der Versandhaus-Katalog flutete mit 1200 Zeichen pro Sekunde auf den Bildschirm der Otto-Normalkundin, die ihrerseits mit 75 Zeichen pro Sekunde ihre Bestellung eingeben durfte. So legte schon der technische Aufbau des Netzes die Teilnehmer aufs Konsumieren fest.

Trotzdem wird eine solche Struktur heute gern "interaktiv" genannt. Interaktiv ist aber nur etwas, das sich auch selbst verändern kann. Die Möglichkeit, zwischen vorgegebenen Alternativen zu wählen, schafft noch nicht mündige Bürgerinnen und Bürger, sondern bestenfalls einen zufriedenen Konsumenten. Erst der umfassende Dialog - die Vielen sprechen mit den Vielen -verdient den Namen Interaktion. Dies zu ermöglichen, kann eine wesentliche und neue Qualität des Netzes sein.

Ein solches Netzwerk ist nicht bloß ein Netz aus Computern, sondern auch ein Netz aus Menschen. Es ist wie ein Organismus, der sich in rasanter Evolution ständig verändert und überaus flexibel auf die Anforderungen seiner Umwelt reagiert. Es besteht nicht aus einem zentralen Computer-Superhirn, sondern aus einer Vielzahl von Individuen, die das gesammelte Wissen und Bewußtsein des Netzes bilden. Ähnlich wie ein Ökosystem kann es Schaden nehmen, wenn es dauerhaft einseitig belastet wird, indem Menschen sich nur daraus bedienen, ohne etwas zurückzugeben. Im Netz werden solche Leute abfällig "Lurker" genannt, "Sauger".

Technik ist also niemals neutral. Sie gießt immer eine bestimmte Vorstellung vom Leben in eine Form. Diese Vorstellung ist das Resultat eines technokratischen Weltbildes. Kein Wunder: Der überwiegende Teil der Programme, die wir benutzen, werden von 20- bis 35jährigen männlichen weißen Amerikanern geschrieben. Üblicherweise arbeiten sie 12 bis 16 Stunden pro Tag.

Welche Vorstellung vom Leben haben sie? Können wir annehmen, daß ihre Sichtweise der Vielfalt der Welt gerecht wird? "Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts", hat einmal ein Komponist gesagt. Das gleiche gilt für das Programmieren. Wahrscheinlich sähe auch die Hardware anders aus, wenn sie von einem Team lebenslustiger Frauen neu entworfen würde.

In den Gründerjahren des Internet ging es um militärisch; Effizienz. Es sollte eine unangreifbare Struktur der Befehlsvermittlung geschaffen werden, die selbst dann noch funktionieren würde, wenn Teile davon zerstört wären. Und nichts kam der militärischen Effizienz mehr entgegen als eine Maschinerie, die emotionslos in einer Befehlskette reagiert.

Nun aber, da das Netz zu einer neuen Heimat aller Menschen werden soll, rächt sich die kriegerische Gewissenlosigkeit: Es fehlt das Gefühl für Verantwortung im virtuellen Raum. "Durch die Medien werden wir gelehrt, eine riesige psychologische Distanz zwischen dem, was wir machen, und den Effekten, die wir damit erzielen, zu entwickeln", bemerkt der Computerkritiker Joseph Weizenbaum.

Bisher ist die Software, durch die wir in die neue Online-Welt blicken, bunt und einigermaßen bequem. Sie könnte aber auch mehr sein: Sie könnte helfen, die Ressourcen des Netzes sinnvoll einzusetzen und neue Hierarchien gar nicht erst entstehen zu lassen. Sie könnte gleichberechtigte Kommunikation, Diskussionskultur und gute Umgangsformen fördern und das Netz als sozialen und kulturellen Raum achten.

Dazu wäre es allerdings nötig, daß lebenshungrige Kids, aktive Frauen und erfahrene Alte aus allen Kontinenten die digitale Welt neu entwerfen.


Spiegel spezial 3/1996



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