Von Olaf Kaestner
"Das Pferd frißt keinen Gurkensalat", soll der erste Satz gelautet haben, der je durch ein Telefon gesprochen wurde. Seit dem denkwürdigen Jahr 1860, als der deutsche Forscher Johann Philipp Reis diese Worte von seiner Scheune in das Wohnhaus übertrug, hat sich das Medium gewaltig entwickelt. Zum gesprochenen Wort hat sich längst die Übertragung gewaltiger Datenmengen über weltweite Netze hinzugesellt. Mit der Entwicklung des Internet, des am meisten genutzten dieser Datennetze, beschäftigten sich diese Woche in Berlin etwa tausend Computer-Hacker aus ganz Europa.
Zum "Chaos Communication Congress" lädt jedes Jahr der Chaos Computer Club zusammen Mit anderen befreundeten Vereinen ein, in denen die deutsche Hacker-Szene organisiert ist. Die meist jungen Computer-Experten gehören zu den intensivsten Nutzern des Internet. Vor einigen Jahren widmeten sie sich vor allem den laxen Sicherheits- vorschriften von angeschlossenen Datenbanken und machten diese Mängel öffentlich. Nachdem der Zugang für Unbefugte daraufhin schwieriger geworden ist, werden nun die "gesellschaftlichen Chancen" diskutiert, die das immer populärer werdende Internet bietet.
Im Jahr 1969 wurde Internet als Datennetz für vor allem militärische Forschungseinrichtungen in den USA aufgebaut. Heute ist das Netz weltweit verzweigt, die genaue Zahl der Nutzer kann jedoch nur geschätzt werden. Zwischen drei und 40 Millionen Menschen können sich demnach über ihre Computer miteinander in Verbindung setzen. Neben Forschungs- instituten sind dies vor allem Studenten, die etwa in Deutschland an ihrer Universität einen kostenlosen Zugang zum Netz haben. Doch auch andere Privatpersonen können mittlerweile teilnehmen - gegen eine vergleichsweise geringe Gebühr bieten mehrere sogenannte Provider-Firmen einen Zugang an.
Hierin sahen viele Teilnehmer des Kongresses die große Chance, "weg von der Einbahnstraßen-Kommunikation aller sonstigen Medien zu kommen". Über E-Mail, eine elektronische Post, können sich die Teilnehmer in der ganzen Welt Nachrichten senden und diese diskutieren. Als positives Beispiel für diesen Austausch wurde das Projekt des "Vereins zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs" (FoeBud) vorgestellt. Der Bielefelder Verein betreibt die auch an Internet angeschlossene Mailbox Bionic: Durch sie werden alle zwei Stunden automatisch Telefonverbindungen zu Computern im ehemaligen Jugoslawien hergestellt. Durch die Kriegswirren ist es vielfach unmöglich geworden, Post zu schicken oder miteinander zu telefonieren; oft hören auseinandergerissene Familien kein Lebenszeichen mehr von ihren Angehörigen. In insgesamt 20 Computern in Sarajewo, Ljublijana, Zagreb, Belgrad und einigen kleineren Städten geben Betroffene Nachrichten ein, die dann an Bionic gesendet werden. über Bielefeld werden diese dann an alle anderen angeschlossenen Computer in Bosnien, Kroatien und Serbien weitergeleitet.
Durch den "Za-Mir" genannten Austausch, was auf serbokroatisch "Für den Frieden" bedeutet, sind bereits viele Familien wieder zusammengeführt worden. Auch für das aus Zagreb verschickte Tagebuch des Holländers Wam Kat interessierten sich viele Nutzer des Internet. Er berichtet seit Ausbruch des Krieges jeden Tag vom Alltag in seiner Wahlheimat. Wer sich für weitere Informationen interessiert, kann sich nach der Lektüre direkt an Wam Kat wenden. "Dadurch erhält der Leser oft ein viel unmittelbareres Bild als durch die Nachrichtensendungen. Denn im Fernsehen werden vor allem die Toten gezählt und der Krieg hat auf der Mattscheibe die Dimension von schmutzigem Geschirr", meinte ein Kongreßteilnehmer.
Neben solchen Beispielen wurden vor allem die elektronischen Anschlagbretter im Internet hervorgehoben, die ohne eine Hierarchie auskommen. Jeder kann dort seine Diskussionsbeiträge beifügen, ohne "einen besonderen akademischen Titel oder eine Zugangserlaubnis zu haben". Durch die steigende Popularität des Internet sehen viele Hacker jedoch den freien Meinungsaustausch gefährdet. Viele Firmen planten, das Internet als Werbeplattform zu nutzen und kommerzielle Dienste gegen hohe Gebühren anzubieten. Dies müsse unbedingt verhindert werden.
"Wer das fordert, der gibt sich einer Illusion hin", meinte dagegen die Künstlerin Rena Tangens, die sich im Bielefelder FoeBud engagiert. Die Kommerzialisierung des Netzes sei nicht mehr aufzuhalten: Die Datenleitungen in den USA seien jüngst von einem Zusammenschluß aus fünf großen Firmen gekauft worden, darunter etwa dem Telefonkonzern Pacific Bell. Die öffentliche Förderung durch Washington werde deshalb wegfallen und die Nutzung der Leitungen mehr Geld kosten. Auch die Computerfirma IBM sowie der Software-Entwickler Microsoft planten, eigene Netze aufzubauen, die jedoch ehemalige Internet-Leitungen nutzen.
In Deutschland sei mit einer ähnlichen Entwicklung zu rechnen, meinte in Berlin Rena Tangens, wenn 1998 das Netzmonopol der Deutschen Telekom ende: "Das ist aber nicht dramatisch. Man muß versuchen, neben den kommerziellen Angeboten möglichst viele Inseln zu schaffen, die für wenig Geld möglichst vielen Menschen offenstehen." Auch nutze es der "Stabilität eines Datennetzes", wenn für eine Leistung auch ein erschwingliches Entgelt gefordert werde. Ausschließlich kostenlose Angebote führten zur Zersplitterung.
Die Zukunft gehört deshalb nach Ansicht des Vereins FoeBud und anderen organisierten Hackern neben dem Internet auch unabhängigen Mailbox-Netzen. Handelsübliche Computer bilden dabei elektronische Briefkästen, in die angemeldete Nutzer ihre Nachrichten schreiben können. In regelmäßigen Abständen tauschen die Mailboxen ihre Daten über das normale Telefonnetz aus. Ein Zugang zu Internet ist zwar möglich, wird aber für den Betrieb des Mailbox-Verbundes nicht benötigt. Diese Methode wendet bereits seit einigen Jahren das "Zerberus-Netz" an, an das in Deutschland etwa 20 Mailboxen angeschlossen sind. Für den Zugang muß eine Gebühr von durchschnittlich 15 Mark im Monat bezahlt werden.
Um den geordneten Zahlungsverkehr in allen künftigen Netzen zu gewährleisten, wurde auf dem Kongreß auch ein elektronisches Zahlungssystem unter dem Namen Digi-Cache' vorgestellt. Es soll gewährleisten, daß Gebühren schnell über das Netz überwiesen werden können. Kreditkarten seien umständlich und würden bisher Unternehmen ermöglichen, den Zeitpunkt und Ort eines Kaufs sowie das gewählte Produkt zu ermitteln, erklärten mehrere Kongreßteilnehmer. Diese Daten würden dann zum gezielten Marketing wieder verwendet. "Das führt zum gläsernen Menschen", warnte ein Referent.
Ebenso dem Datenschutz dient das "Pretty good privacy" (PGP), ein Computerprogramm, das Nachrichten im Internet verschlüsselt weitergibt. Ähnlich wie bei Digi-Cache wird dazu ein System verwandt, das zwei zueinander passenden Schlüsseln ähnelt. Jeder PGP-Besitzer hat einen öffentlichen und einen privaten Zahlenschlüssel: Der öffentliche Schlüssel kann im Internet bekanntgegeben werden und wird vom Sender einer "geheimen" Nachricht mit dieser angegeben; wieder gelesen werden kann sie aber nur vom Inhaber des privaten Schlüssels. Das PGP-Programm ist so sicher, daß selbst leistungsfähige Computer Monate brauchen würden, um den Code zu knacken. Ironie des Schicksals: Gegen den Entwickler des weltweit unter Internet-Nutzern verbreiteten Programms haben US-Behörden ein Strafverfahren eingeleitet. Private Verschlüsselungstechniken fallen in den USA nämlich unter das Waffengesetz.
Frankfurter Rundschau, 31. Dezember 1994