Kurz vor sechs, in wenigen Minuten schließt die Messe ihre Pforten. Auf dem Gelände der Sonderausstellung sammelt sich eine Gruppe von AusstellerInnen zwischen den kleinen Ausstellungsständen. Langsam, ganz langsam, formiert sich die Ansammlung zu einem Kreis, die Versammelten umgreifen die Schultern der Nachbarn. Dann beugen sie sich - wie FootballSpieler - weit nach vorne. Rundherum ist das Messerumoren abgeebbt. Neugierige recken ihre Hälse, um zu erspähen, was die 25-köpfige Runde dort treibt. Einer der Kreismänner hebt die Stimme, brüllt: "Was sind wir?", augenblicklich kontert der Chor "Spitze!". "Was woll'n wir?", "Umsatz! Umsatz!, Für einen Moment erzittert Halle 18 unter dem Aussteller-Credo, dann beginnen die Fünfundzwanzig sich laut zu beklatschen, man bricht in Lachen aus. Seit Jahren finden sich Aussteller der "Chancen 2000: Bildung, Beruf, Karriere" zum allabendlichen "Messeigel" zusammen. Die Wunschtraum-Beschwörung hat Tradition und läutet den Feierabend ein.
"Und was ist heute los?" Unkoordiniert werden Kulturangebote für den heutigen Abend in die Runde gerufen: "... laß uns mal im Nordrhein-Westfalen-Pavilion gucken", "Halle 3, SCO, Standparty", "... in Halle 22, am badenwürttembergischen Hochschulstand, ist was los." Tagsüber, beim Gespräch mit Bekannten, werden die Abendaktivitäten sondiert, damit sich ab sechs die Messe in eine große Party verwandeln kann.
Heute abend hat Baden-Württemberg gewonnen. Viertel nach sechs, kleine Gruppen machen sich auf den Weg zur nächsten Party. Die traurig-ruhelosen Besucherscharen haben sich mittlerweile durch die Hallentore gezwängt und sind auf dem Weg nach Hause. An ihre Stelle sind Hunderte von Nachtwächtern getreten. Junge Punks und faltige Rentner; alle mit dunkelblauer Schirmmütze und Jackett. Vereinzelte Messeaussteller arbeiten noch immer, ein Drucker spuckt eine letzte Seite aus, zwei Messe frauen sitzen hinter ihrem Verkaufstresen und prosten sich zu. Es ist geschafft. Zwischen den toten Verkaufsständen beginnen die ersten Standparties.
Die Chancen-Aussteller sind auf dem Weg nach Baden-Württemberg versackt: Am Gemeinschaftsstand Bayern in Halle 22. Hier gibt's frischgezapftes Löwenbräu und saure Zipfel. Eine müde Pop-Kombo bietet deutsches Liedgut dar. Nach einer ersten kurzen Stärkung entscheidet man sich schnell für die Standparty von SCO. Aus allen Richtungen strömt Musik, wenige Unermüdliche schreiben Bilanzen und Bestellungen, ein dicker Verkäufer sitzt inmitten einer Wand dunkler Monitore, nurmehr ein Monitor leuchtet ihm entgegen. Erschöpft blickt er auf den bunt flimmernden Monitor und legt ComputerPatiencen. Schräg gegenüber, bei SAP, ist der Teufel los, eine Rockband strapaziert Gitarren und Schlagzeug. 50-jährige unscheinbare Verkäufer toben im Takt durch den engen Verkaufsstand: rechts und links, vorne und hinten von kostbaren Computerneuheiten umzingelt. Die warmen Rechner wackeln auf ihren Regalen unter der Tritten der Rock'n Roll-Tänzer.
Bei SOC haben die rund hundert Partygäste bereits das kalte Buffet restlos abgeräumt. Zum Trost singt die Standband "Bueno Sera, Seniorina, bueno sera ..." und ein Riesenmann mit großer Designerbrille drückt den Standgasten lange bunte Luftballonwürste in die Hand. Dann geht er herum, nimmt den Leuten die Ballons wieder weg und knotet und frieinelt solange an den Plastikschläucheri herum, bis dickleibige Tiere entstanden sind. Gegenüber wienern alte blaubekittelte Putzfrauen die begraptschen Schauvitrine, in weiter Ferne singt eine Frau mit rauchiger Stimme. Der rote Neon-Hermes - Sinnbild der Hannover-Messe - leuchtet längst einsam über das Messegelände.
Dirk Henn