Proteste zur Bundestags-Sondersitzung: Rechtsanwälte warnen vor Überwachung / Über 167.000 Unterschriften zum Schutz für Whistleblowern übergeben
Berlin. Rund 200 Rechtsanwälte aus dem gesamten Bundesgebiet sowie Vertreter mehrerer Bürgerinitiativen und Oppositionsparteien haben am Montag vor dem Reichstagsgebäude in Berlin gegen Überwachung und Ausspähung demonstriert. Anlass war die Sondersitzung des Bundestages zum NSA-Abhörskandal, in der die Abgeordneten am Nachmittag auch über die Auswirkungen auf das transatlantische Verhältnis beraten wollten.
»Wir machen uns große Sorgen um das Berufsgeheimnis der Anwaltschaft«, hatte der Vorsitzende des Berliner und Vize-Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Ulrich Schellenberg, im Vorfeld der Demonstration betont. Mandanten würden nur ehrlich sagen, was für den Fall relevant ist, wenn sie sicher sind, dass dies ihr Geheimnis bleibt. Die Verschwiegenheitspflicht der Anwaltschaft schütze die Mandanten. Die zunehmende Überwachung könne das Vertrauensverhältnis der Bürger zum Anwalt aber nachhaltig belasten, warnte Schellenberg.
Die Anwälte verlangten deshalb eine effektivere Kontrolle von Geheimdiensten. Zudem forderten sie einen Bundestags-Untersuchungsausschuss, um die tatsächlichen Ausmaße der NSA-Affäre zu ermitteln. Drei Bürgerinitiativen forderten unterdessen bei einer weiteren Protestaktion einen sicheren Aufenthalt für den US-Whistleblower Edward Snowden in Deutschland. Anlässlich der Bundestags-Sondersitzung übergaben die Organisationen Campact, Digitalcourage sowie das Whistleblower Netzwerk den Fraktionsvorsitzenden eine Liste mit über 167.000 Unterstützerunterschriften aus Deutschland. Die Unterschriften waren in den vergangenen Monaten bei einem Online-Appell unter dem Titel »Schutz für Edward Snowden in Deutschland« gesammelt worden.
Zudem forderten die drei Organisationen die Abgeordneten auf, »mehr Rückgrat zu zeigen als Bundeskanzlerin Angela Merkel und Snowden Zeugenschutz zu gewähren«. Snowden, dessen Enthüllungen über das weltweite Ausmaß der Überwachungspraktiken des US-Geheimdienstes den NSA-Abhörskandal ausgelöst hatten, wird seit August in Russland Asyl gewährt.
Campact-Sprecherin Annette Sawatzki betonte: »Ohne Edward Snowdens Mut würde die Kanzlerin wohl heute noch Betriebsgeheimnisse der Bundesregierung ausplaudern. Gerade sie hätte viele Gründe, Snowden nach Deutschland zu holen.« Die Enthüllungen des früheren NSA-Mitarbeiters nehme man dankbar an, behandle den Enthüllter selbst aber »wie eine heiße Kartoffel«, sagte sie. Rena Tangens von Digitalcourage verwies darauf, dass Snowden rechtlich ein Aufenthalt in Deutschland zustünde, »sobald ihn der parlamentarische Untersuchungsausschuss als Zeugen lädt«.
Thomas Holbach vom Whistleblower-Netzwerk erklärte unterdessen, dass auch deutsche Whistleblower gesetzlich geschützt werden müssten. »Denn auch bei uns sind jene, die Zivilcourage zeigen und Rechtsbrüche aufdecken Repressalien wie Mobbing und Kündigung schutzlos ausgeliefert«. In Deutschland würden allerdings bisher alle Gesetzesvorhaben blockiert, kritisierte Holbach.
Unterdessen wurde Snowden für die Ehrendoktorwürde der Universität Rostock vorgeschlagen. »Wir sind es Snowden, der seine ganze soziale Existenz für die Aufdeckung der Wahrheit aufgegeben hat, schuldig, dass wir ihn nicht in Moskau vergessen«, sagte der Dekan der Rostocker Philosophischen Fakultät, Hans Jürgen von Wensierski, der »Berliner Zeitung«. Ziviler Ungehorsam gehöre zu modernen Demokratien dazu.
Neues Deutschland, Berlin, 18. November 2013
Original: http://www.neues-deutschland.de/artikel/915300.schutz-fuer-snowden-verlangt.html?sstr=tangens