VON ANKE GROENEWOLD
Bielefeld. Wenn es nach dem Bielefelder mit Künstlernamen "padeluun" gegangen wäre, würde der ganze Kongress rollen, rollen, rollen. Drei Tage lang im Zug, Tag und Nacht, kreuz und quer durch Deutschland. Doch die Organisation war kompliziert, die Zeit zu knapp. Jetzt wird die Tagung des Chaos Computer Clubs auf festem Berliner Boden abgehalten, doch ein bisschen rollt der Kongress dennoch.
Die Idee: Chartern wir uns doch einen Privatzug, der 200 versprengt lebende Leute nach Berlin bringt. Aber wie stellt man das an? Es gibt inzwischen knapp 240 private Eisenbahnunternehmer in Deutschland, die nicht der Bahn-Holding angehören. Die meisten befahren regelmäßig kürzere Strecken, andere bieten Ausflugsfahrten mit historischen Zügen, aber nur wenige werben mit dem Slogan "Sie bestimmen das Reiseziel - wir bringen Sie an jeden Ort Deutschlands". Genau das suchten die Computerfans.
Fündig wurden sie - wie kann es anders sein - im Internet. "Wir haben unser Problem in einer Newsgroup geschildert", erzählt padeluun. In Kriegsfeld, Rheinland-Pfalz, las Wolfgang Kissel das Gesuch. Der 58-Jährige ist seit 1994 zugelassener Eisenbahnverkehrsunternehmer. "Rheinhessische Eisenbahn" nennt er seinen Ein-Mann-Betrieb, den er mit Hilfe seiner Familie führt: Sohn Simon, den er gerade zum Lokführer ausbildet, assistiert. Schwester und Schwager sorgen dafür, dass die Fahrgäste mit kleineren Speisen und Getränken versorgt werden. Die Tour nach Berlin ist allerdings auch für Kissel ungewöhnlich. Zum einen ist die Strecke mit 750 Kilometern sehr lang. Zum anderen findet er seine Kundschaft sehr interessant. Gestern morgen, 7.30 Uhr: Kissel rollt mit seinen zwei vierachsigen Triebwagen aus dem Mainzer Bahnhof. Der Zug macht einen Riesenschlenker, um das Ruhrgebiet und Ostwestfalen anzusteuern, wo die meisten der 200 Tagungsteilnehmer zusteigen. Für die Fahrt bezahlen sie 80 Euro. 13 Stopps stehen auf dem Fahrplan, darunter auch Bielefeld. Um 15.30 Uhr kündigt der Bahnsprecher den "Gesellschafts-Sonderzug" an. Als die Wagen aus dem Jahre 1952 mit der handgemalten Aufschrift "HackTrain" in Bielefeld einrollen, staunen die Reisenden nicht schlecht. "Unglaublich", findet ein patroullierender Polizist. Die beiden Abteile sind proppevoll, die Scheiben beschlagen, aber die Stimmung ist blendend. Das rollende Computercamp soll Berlin gegen 23 Uhr erreichen. Der Zug wird drei Tage lang in Berlin geparkt, Kissel fährt mit seiner Familie im Auto nach Mainz zurück. Am 30. Dezember gehts retour.
Das könnte die ostwestfälische Delegation natürlich viel einfacher haben. Rein in den ICE in Bielefeld, gut zweieinhalb Stunden später in der Hauptstadt aussteigen. 14 Stunden Fahrt mutet man sich nur zu, wenn der Weg das Ziel ist. Oder wenn man mit dieser Aktion ein Zeichen setzen will. Für den Schienenverkehr. Genau das haben padeluun und seine Mitstreiter im Sinn. "Die Bahn hacken", nennen sie das. Im Klartext heißt das: dem einstigen Monopolisten die Stirn bieten und die private Konkurrenz, die auf dem Schienenmarkt noch gegen viele Hindernisse anrollen muss, unterstützen. Wolfgang Kissel kann das nur recht sein. Sein Geld verdient der Unternehmer vor allem mit Straßengüterverkehr. "Aber ich war noch nie der Überzeugung, dass das sinnvoll ist." Er träumt davon, in ein paar Jahren allein von seiner "Rheinhessischen Eisenbahn" leben zu können. Ein Eisenbahnfan war Kissel schon immer. Seine erste Ausbildung bekam er bei einer Museumsbahn. Doch Kissel wollte mehr. Seines Wissens war er 1990 der erste Privatmann, der sich um eine Ausbildung bemühte. Als Pionier hatte er es nicht leicht. Wer wie Kissel die Strecken der Deutschen Bahn (DB) befahren will, muss eine Triebfahrzeugführerprüfung ablegen. Den Lehrlokführer, der ihn auf den DB-Strecken ausbildete, bezahlte er aus eigener Tasche. Kissel befährt nur Strecken der Deutschen Bahn. Die Fahrtroute muss er der DB Netz vorlegen, die dann den Fahrplan ausarbeitet. Um über die Trassen der DB rollen zu dürfen, muss er zahlen - für die Spezialfahrt nach Berlin sind es 4.000 Euro. Der Trip mit dem "Hacktrain" ist sowohl für die Kongressbesucher als auch für Kissel mehr als eine Fahrt von A nach B. Für die Fahrgäste ist es ein Erlebnis. Für Kissel ist es die Erfüllung seines Traums. Er hat sich vorgenommen, wenn möglich noch mit 70 einen Zug zu lenken; "Ich arbeite nicht auf die Rente hin, um dann zu tun, was ich will. Ich habe mein Leben lang das getan, was ich wollte."
Neue Westfälische, 27. Dezember 2002