Jochen Wegner wird selbst immer wieder auf die Probe gestellt. So saß er am 11. September 2001 in einem Flugzeuq nach New York. Er erreichte sein Ziel nicht, sondern verbrachte die nächsten Tage wie 30.000 andere Passagiere in Appleton in Neufundland, Jüngstes Beispiel: Der Münchner wird im Bielefelder Bunker Ulmenwall als Gastreferent zur sonntäglichen Public Domain des Vereins FoeBuD erwartet. Beim Verlassen der Wohnung findet er den einzigen Haustürschlüssel nicht. Durch die vergebliche Suche verpasst er fast seinen Flug. Im Flugzeug löscht er versehentlich sämtliche Vortragsdaten auf seinem Laptop. Im Zug vom Flughafen nach Bielefeld ein Anruf seiner Partnerin: Der gemeinsame Sohn hat gerade mit einer Gießkanne kräftig das Sofa begossen, bei der Entfernung der nassen Polster taucht darunter der Schlüssel wieder auf. Im Veranstaltungsraum schließlich kommt er ausgerechnet am Tag des Vortrages nicht ins Internet.
Jochen Wegner glaubt nicht an die Sinnhaftigkeit von Verkettungen dieser Art. „Das ganze Leben besteht aus solchen Zufällen, hinterher lassen sich immer hervorragende Erklärungen für alles Mögliche finden", sagt der Wissenschaftsjournalist, der Physik und Philosophie studiert hat und heute als stellvertretender Leiter im Ressort Forschung und Technik beim Nachrichtenmagazin Focus arbeitet. Finnische Zwillingsbrüder, die am selben Tag im Abstand von einer Stunde einen Kilometer voneinander entfernt von einem Lkw angefahren und tödlich verletzt werden, eine Amerikanerin, die fünf ihrer sieben Kinder an einem 20. Februar zur Welt gebracht hat, ein Mann, der in seinem Leben sieben Mal vom Blitz getroffen wurde - alles zufällig. „Es ist wahrscheinlich, dass das Unwahrscheinliche geschieht", habe schon der griechische Philosoph Aristoteles erkannt.
„Weil wir die Naturgesetze bis ins Detail zu verstehen glauben, scheint uns die moderne Welt untertan. Erdbeben, Vulkanausbrüche und Klimakatastrophen schrumpfen zu kalkulierbaren Restrisiken der Statistik zusammen", erläutert Jochen Wegner, „doch die Realität sieht anders aus, das Unvorhersehbare bestimmt unser Leben mehr, als wir uns eingestehen wollen." Der Autor begibt sich auf eine zumeist amüsante Reise durch Mathematik und Quantenphysik, Erkenntnistheorie und Risikoforschung, Genetik und Geschichtswissenschaft, um schließlich zu schlussfolgern: „Fast alles geschieht ohne unser Zutun und ist damit Schicksal", laut Dudendefinition das „von einer höheren Macht über jemand Verhängte, ohne sichtliches menschliches Zutun sich Ereignende".
Die Wissenschaft hat festgestellt, dass das menschliche Hirn als riesige Mustersuchmaschine angelegt ist und deshalb ständig und überall Muster zu erkennen versucht. „Es ist ein evolutionäres Problem, dass wir mit der Wahrscheinlichkeit nicht umgehen können", sagt der Focus-Redakteur, „laut ISO-Standard ist die Wahrscheinlichkeit ein Maß für den Grund des Glaubens, dass ein Ereignis eintritt. Es gibt keine Muster in der Geschichte."
Nach verschiedensten Forschungsergebnissen präsentiert Wegner am Ende eine Studie des Harvard Centers for Risk Analysis. Sie belegt, das die Welt mit ihren Risiken nicht kalkulierbar ist und bestätigt, dass die Befolgung altgedienter Ratschläge die Wahrscheinlichkeit für ein gesundes und langes Leben erhöht: nicht zu rauchen, sich regelmäßig die Hände zu waschen, sich gesund zu ernähren und Sport zu treiben. Dazu empfiehlt der Autor, „Serendipity" (nach dem persischen Märchen „Die drei Prinzen von Serendip") und „Ataraxia" (nach dem Griechischen Philosoph Epikur) als Lebensphilosophie: dabei ist der Weg, intelligent beschritten, das Ziel; das unveränderbare Weltgeschehen wird mit Seelenruhe, Gleichmut und Unverwirrbarkeit betrachtet, zu erreichen durch Erkenntnis - beispielsweise durch Buchlektüre.
„Warum immer ich? Schicksal. Eine Betriebsanleitung", Jochen Wegner, Argon Verlag Berlin, ISBN 3-87024-604-9, 18,90 Euro (4.431 Zeichen ohne Zwischenzeile = ca. 138 Zeilen ä 32 Anschläge / gekürzt um markierte Passagen: 3.478 Zeichen = 108 Zeilen)
Bildmotiv Fisch im Gurkenglas / Titelbild Buch Jochen Weqner: Unkalkulierbare Lebensrisiken: Die Wahrscheinlichkeit, wie auf dem Buchtitel abgebildet einen Goldfisch im Gurkenglas zu finden, ist gering. Alles andere ist Schicksal. Foto: Argon Verlag Bildmotiv Portrait Jochen Wegner: Wissenschaftsjournalist mit Humor: Jochen Wegner legt sein Buch „Warum immer ich?" mit einem Augenzwinkern vor. Foto: Urban Zintel
Bielefeld, Oktober 2004 / Stand 21.10.2004
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Martina Bauer
Neue Westfälische, Bielefeld
Original: Nicht bekannt