Ein Datensatz eines Verbrauchers ist für entsprechende Firmen zwar kein Gold, zumindest aber Geld wert. Dennoch sehen die meisten Menschen ihre Daten weder als schützenswert noch als wertvoll an. Im Gegenteil, oft werden diese Daten, wie bei vielen Bonusprogrammen, wie nebenher mitgeteilt. Schon die vage Hoffnung, eine wie auch immer geartete Vergünstigung zu erhalten, reicht aus, um nach Bleistift oder Kugelschreiber zu greifen und den Firmen Vorname, Name, Geburtsdatum und weitere, auch noch sensiblere Daten mitzuteilen.
Rabattsysteme werden von einer immer größer werdenden Zahl von Menschen genutzt, das wohl bekannteste, das des Payback Rabattverein e.V., hat nach eigenen Angaben nunmehr einen Verbreitungsgrad von über 27 Millionen Karten [1]. Trotz der Aufklärungskampagnen, unter anderem durch den "Big Brother Award" [2] oder durch Abhandlungen zum Thema Bonusprogramme [3], hat die Attraktivität der Paybackkarte nicht abgenommen.
Doch die Rabattsysteme dokumentieren nur einen Teil einer "Nichts zu verbergen"-Mentalität, die einmal mehr die Frage aufwirft, ob die Privatsphäre, wie sie von Datenschützern gefordert oder verteidigt wird, überhaupt noch zeitgemäß ist. David Brin [4] hat sich längst für eine Antwort entschieden. In seinem Buch "The Transparent Society" [5] hat er eine Vision einer Gesellschaft entworfen, in der jeder jeden beobachten kann und darf. Das Rad der Zeit dreht sich sowieso nicht rückwärts, wieso also die Privatsphäre weiter verteidigen, statt im Gegenteil größtmögliche Transparenz zu fordern?
Vollständige Transparenz vielleicht sogar. Das Modell, das David Brin in seinem "Tale of two cities" entwirft, kommt letztendlich einem großen Big Brother Container nahe (vgl. Smart Chips - kleine Brüder oder große Chance? [6]). Es kann zwar nach Meinung des Datenschutzbeauftragten "nicht das Sinnbild einer demokratischen Gesellschaft sein", gerade dies scheint es aber im Hinblick auf die Videoüberwachung längst darzustellen.
Nicht nur in Großbritannien hat sich die Zahl der elektronischen Augen stetig erhöht, auch in Deutschland mehren sich Städte und Gemeinden, die die Videoüberwachung als Allheilmittel für Probleme wie Vandalismus, Drogenhandel oder gar Kindesentführungen ansehen. Auch Webcams sorgen dafür, dass, teils beabsichtigt, teils unbeabsichtigt (vgl. Das Voyeurparadies: "Big Brother" für alle und umsonst [7]), immer mehr private Bilder zu öffentlichen Bildern werden, die sich, so einmal im Netz verfügbar, mitunter auf Tauschbörsen und als private Kopie auf vielen Rechnern wiederfinden. Einmal zu öffentlichen Daten gewordene private Daten lassen sich jedoch nur schwer (und bisweilen gar nicht) wieder zu privaten Daten umwandeln. Eine Erfahrung, die beispielsweise auch Firmen machen, wenn es um das Copyright geht (vgl. Vom Nutzen des Copyright [8]).
Dass die Überwachung vielen Menschen nichts ausmacht, zeigt auch die wachsende Zahl der privaten Webcams sowie die in vielen Discos und Kneipen etablierten Videokameras, die das Geschehen live ins Netz senden. Nur selten kommt es hier zu einem Protest, meist auch nur deshalb, weil die Kameras nicht deutlich gekennzeichnet waren - wie im Fall der Grazer Discothek "Won" [9]. Allzu oft werden jedoch die Kameras, genauso wie z.B. der Chip im Arm (vgl. Das Konto im Oberarm [10]), der als Bezahlmittel und Zugangskontrolle genutzt wird, eher als modisches Accessoire gesehen, Risiken und Nebenwirkungen in Bezug auf Privatsphäre oder Datenschutz werden ignoriert.
David Brins Utopie scheint also schon deshalb begrüßenswert, da die Überwachung fortschreitet und weiterhin entweder begrüßt oder zumindest toleriert wird. Transparenz scheint also auch für die Datenschützer eher die geeignetere Methode zu sein. Oder doch nicht?
Obgleich David Brin sich lediglich auf "jeder bemerkt die Überwachung" bezieht und damit seine Form der transparenten Gesellschaft klar definiert, bleibt das von padeluun kritisierte Ungleichgewicht in Bezug auf Nutzungsmöglichkeiten der Daten bestehen. Dies jedoch stellt eher ein wirtschaftliches oder technisches Problem dar, die gesellschaftliche Komponente kommt hierbei weniger zum Tragen.
Bei einer größtmöglichen Transparenz wäre es dem Einzelnen zumindest möglich, den Weg seiner Daten zu verfolgen oder z.B. über die Umstände und das Ausmaß einer Videoüberwachung Informationen einzuholen. Heutzutage stellt sich dies für die daran Interessierten eher als Problem dar. Die jüngst vom Arbeitskreis Videoüberwachung initiierte Möglichkeit, per Anschreiben Informationen von Videokamerabetreibern [12] zu erhalten, wird wohl nicht nur aus diesem Grund wenig genutzt werden.
Die Bedenken der Datenschützer sind zwar nachvollziehbar, dennoch scheint der Trend zur Abkehr von der Unschuldsvermutung hin zu einem prophylaktischen Unschuldsbeweis zu gehen. Nichts zu verbergen - mehr und mehr wird dies zum Synonym von Rechtschaffenheit. Von den Medien mit Schlagzeilen bedachte Gewalttaten wie die Ermordung des jungen Felix oder des Münchener Modemachers Moshammer lassen ja nicht nur die Strafverfolger und Innenminister nach einer Ausweitung von DNS-Analysen rufen [13], dieser Ruf wird auch von vielen befürwortet, Kritik daran als Gefühllosigkeit oder Ignoranz interpretiert.
Neben der allgemein herrschenden Meinung, es sei "doch egal", man habe ja nichts zu verbergen, führt die mediale Ausschlachtung von Katastrophen, Attentaten oder Gewalttaten im allgemeinen weiter dazu, dass Datenschutz als Täterschutz gebrandmarkt wird und die Abschaffung quasi ein Dienst an der Gesellschaft ist, den der Einzelne gerne zu leisten gewillt ist. Schließlich, so die Meinung vieler, führt eben dieser Dienst ja auch zwangsläufig zu mehr Sicherheit. Und selbst wenn dies nicht der Fall ist, so wirke er sich jedenfalls nicht negativ aus. Dass jedoch diese Mentalität des Einzelnen sich immer auch auf andere auswirkt, scheint nur wenigen bewusst zu sein.
Privatsphäre ist auf dem Rückzug. David Brins Logik, dass die Privatsphäre sowieso nicht mehr zu retten ist und somit einfach komplett weichen muss, scheint also heute zwingender denn je. Jedoch fehlt bei David Brin die menschliche Komponente. Was genau wird sich daran verbessern, dass jederzeit jeder sehen kann, wenn Menschen einen anderen misshandeln, wenn es niemanden gibt, der sich berufen fühlt einzugreifen, weil beispielsweise dabei ja das Handy beschädigt [14] werden könnte?
Eine wie von David Brin geschilderte "transparente Gesellschaft" bedeutet also nicht, dass der Einzelne keine Verantwortung mehr trägt. Im Gegenteil, nur durch Verantwortungsbewusstsein kann sie funktionieren. Die Privatsphäre jedoch wäre zu opfern - ob es den Datenschützern gefällt oder nicht.
Ironischerweise sind es jedoch unter anderem auch die auf zunehmende Überwachung fixierten Regierungen und Politiker, welche uns vor der "transparenten Gesellschaft" schützen können. Denn neben "Private Daten schützen" heißt es eben auch "Öffentliche Daten nützen/nutzen". Das aber wird spätestens seit dem 11.09.2001 stark erschwert.
In Teil 2: Öffentliche Daten nützen... Geheimniskrämerei, Copyright und Zensur - Fallstricke für die "transparente Gesellschaft"
Links
Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/19/19328/1.html
Copyright © Heise Zeitschriften Verlag
Twister (Bettina Winsemann)
Telepolis, 30. Januar 2005
Original: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/19/19328/1.html