Wer sich mit Michael Karl auf den Weg durch die Stadt macht, muss Zeit mitbringen. Denn Karl befindet sich im Krieg. Es ist ein Cyber-Krieg, der mit dem Smartphone gekämpft wird, hier in Osnabrück und auf der Welt. Ingress heißt das Spiel aus dem Hause Google, das derzeit vor allem Technik-Fans umtreibt.
Ingress ist eine Mischung aus Geocaching und dem Brettspiel Risiko. Im Kern geht es darum, dass zwei Gruppen um die Macht auf der Erde kämpfen. Im Mittelpunkt steht eine geheimnisvolle Energie, von der niemand weiß, ob sie gut oder schlecht für die Menschheit ist. Die Erleuchteten (The Enlightened, wie sie sich im amerikanischen Original nennen) kämpfen gegen den Widerstand (The Resistance). Wobei Letztere der Überzeugung sind, dass die ominöse Energie eine Gefahr für die Menschheit darstellt, während die Erleuchteten glauben, dass sie der Erde Gutes bringt.
Kämpfer laden Bilder hoch
Um Ingress spielen zu können, muss man ein Android-Handy besitzen und sich aus dem Google-Play-Store die dazugehörige App runterladen. Und vor allem braucht man einen Zugangscode. Den kriegt man entweder über einen Bekannten, der das Spiel bereits seit Längerem spielt, oder über Google – allerdings erst nach einer gewissen Wartezeit. „Die exklusive Teilnahme verleiht dem Ganzen den Glamour eines exklusiven Clubs“, sagt Karl.
Zwei Stunden am Tag stürzt er sich in den Kampf. Wenn er morgens zur Arbeit radelt, bricht er ab und zu eine halbe Stunde eher auf. „Um noch ein paar gegnerische Portale zu hacken“, sagt der 41-Jährige, der als Webentwickler arbeitet. Das Kriegsgebiet liegt direkt vor der Haustür.
Das Spiel basiert auf Google-Maps, nur dass der Bildschirm aussieht wie ein Navigationsgerät im Nachtmodus. Blaue und grüne Wolken geben das Mächteverhältnis zwischen den Erleuchteten (grün) und dem Widerstand (blau) wieder. Gekämpft wird um sogenannte Portale, in der Wirklichkeit zumeist Sehenswürdigkeiten der jeweiligen Stadt. Die Kämpfer können die Portale bei Google vorschlagen, indem sie mit dem Handy ein Foto machen und hochladen. „Die Portale werden geprüft und nach einiger Zeit freigeschaltet“, berichtet Karl. Portale der eigenen Fraktion können verbunden werden, so entstehen Felder. „Je nach der realen Bevölkerungsdichte des Gebietes und der Fläche gewinnt man eine bestimmte Anzahl an Punkten“, erklärt Karl. Gegnerische Portale können übernommen oder neutralisiert werden.
„Regelmäßig an die frische Luft“
Ingress stammt aus der Spiele- und App-Entwickler-Schmiede Niantic Labs, die zum Google-Konzern gehört. Begleitet wird das Spiel von den Machern mit Filmchen, die auch bei YouTube zu sehen sind: Pseudo-Nachrichtensendungen, die über den Kampf berichten. Aber auch die Spieler selbst haben angefangen, Filme hochzuladen . Wie viele Spieler es gibt, ist unklar.
Das Spiel ist zumindest über 500000-mal runtergeladen worden. „In Osnabrück gehe ich von bis zu 70 Leuten aus, die spielen“, sagt Karl. Viele der Spieler arbeiteten in der IT-Branche, berichtet er. Das liege wohl daran, dass es Ingress bisher nur als Beta-Version gibt. Das heißt, das Spiel ist noch in der Versuchsphase.
„Mit zu den Ersten zu gehören, die das Spiel testen, übt auf viele Leute aus der Branche wohl einen besonderen Reiz aus“, vermutet Karl.
Ingress-Spieler Jürgen hat noch einen anderen Grund. „Ich komme regelmäßig an die frische Luft.“ Denn um gegnerische Portale knacken zu können, muss man sich in der unmittelbaren Nähe befinden – die Spieler müssen also raus aus den eigenen vier Wänden. Jürgen sitzt vor einem Glas Weizenbier in einer Pizzeria in der Osnabrücker Altstadt. Der 49-jährige Computerfachmann hat zum Ingress-Stammtisch geladen, etwa 15 Spieler sind gekommen, ausschließlich Männer. Sowohl von den Erleuchteten als auch vom Widerstand sind Krieger da. Jürgen ist der Älteste, die meisten sind zwischen 30 und 40 Jahre alt. Alle nennen sich beim Vornamen, Nachnamen spielen keine Rolle.
„Schön an dem Spiel ist, dass man wildfremde Leute kennenlernt“, sagt Jürgen. „Wenn man Leute sieht, die mit ihrem Handy um ein Denkmal schleichen und immer auf ihr Smartphone starren, dann sind das mit ziemlicher Sicherheit Ingress-Spieler. Da kommt man schnell ins Gespräch.“
Bewegungsdaten für Google
Für Nichteingeweihte können die Cyber-Krieger aber offenbar bisweilen anstrengend werden. Stefan, Anwendungsentwickler und mit 22 Jahren der Jüngste am Stammtisch, erzählt: „Meine Freundin ist irgendwann nicht mehr mit mir spazieren gegangen, weil ich ständig stehen geblieben bin, um Portale zu knacken.“
Google dagegen dürfte sich über die eifrigen Spieler freuen. Da das Spiel nur bei ständig laufendem GPS funktioniert, wird das Archiv des kalifornischen Konzerns ständig mit Bewegungsdaten gefüttert. Ingress-Spieler Hauke, 37 Jahre alt und Systemadministrator, vermutet, dass Google mit dem Spiel unter anderem die Funktionen seines Maps-Angebots verbessern will. Google verneint das. Weiter heißt es, die Daten würden nicht für personenbezogene Werbung verwendet. Geworben werden soll natürlich trotzdem: „Wir arbeiten in den USA mit verschiedenen Partnern zusammen, um innovative Werbeformate zu entwickeln, die der Spieler als nicht störend, sondern bestenfalls als bereichernd empfindet“, teilt Google-Sprecher Stefan Keuchel mit. Beispiel hierfür seien Codes in Getränkedeckeln, die sich für neue Spiel-Funktionen einsetzen lassen. Datenschützerin Rena Tangens vom Bielefelder Verein Digitalcourage hat wenig Vertrauen in die Verlautbarungen des Konzerns. Gespeichert würden nicht nur Bewegungsprofile. „Gespeichert werden auch Verhaltensdaten; etwa wie risikobereit ein Spieler ist, wie gut er mit seinem Team zusammenarbeitet und um welche Uhrzeit er spielt.“ 2012 habe sich Google mit seinen neuen Datenschutzrichtlinien das Recht eingeräumt, Daten aus seinen Angeboten miteinander zu verknüpfen. Tangens: „Gratis ist hier nichts – mit der Inanspruchnahme von Diensten und Spielen liefern wir uns dem Google-Konzern aus.“ Ingress-Spieler Hauke sieht das gelassen: „Sobald ich ein Android-Handy habe, kommt Google ohnehin an fast alle meine Daten.“Um das Spiel spielen zu können, muss man übrigens kein IT-Fachmann sein, sagt Hauke. „Daskann jeder spielen.“
Sven Kienscherf
Neue Osnabrücker Zeitung, Osnabrück, 17. Mai 2013
Original: http://www.noz.de/deutschland-und-welt/gut-zu-wissen/72206491/google-spiel-ingress-begeistert-spieler-und-aergert-datenschuetzer