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iPhone, also bin ich

Kein anderes Produkt hat die Menschheit so schnell so radikal verändert wie das Smartphone. Es macht frei, aber auch abhängig. Eine Zwischenbilanz zum fünften Geburtstag einer Weltrevolution.

"Es ist so bequem, unmündig zu sein." - Immanuel Kant

""Weg mit dem Atom!", hörst du sie schreien, ich lade mein Smartphone - leider geil." - Deichkind

Neulich ging die Welt unter. Sie verschwand einfach und kollabierte vor meinen Augen. Die Ursache war schlicht: Ich wusste den SIM-Code meines Handys nicht.

Vorher musste ich das Ding neu starten, nachdem sich irgendetwas neu installiert hatte, was ja dauernd passiert: Hier wartet ein Update, da ein Download. Fütter mich!, quengelt das Smartphone wie in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts jenes elektronische Küken namens Tamagotchi, das man noch mit rührend virtuellen Mahlzeiten abspeisen konnte.

Heutige Handys brauchen fortwährend Software-Nachschub, den sie sich ohne mein Zutun im Internet suchen - auch nachts oder wenn man jetzt im Sommerurlaub am Strand von einem dieser finanziell unattraktiv gewordenen Südländer liegt, was selbst normal verdienende Mitteleuropäer bisher an die Armutsgrenze treiben konnte. Ich weiß, wovon ich spreche, und sage nur: ROAMING-GEBÜHREN! Wobei ich schon wieder abschweife, was regelmäßig passiert, seit dieses Gerät mich mit seinem Dauerfeuer aus E-Mails und SMS und "Angry Birds"-Ablenkungenbombardiertwaswirklichnichtseinfachermachtund …

Durchatmen!

Ruhe bewahren!

Nachdenken!

"PIN eingeben Noch 3 Versuche", stand auf dem Bildschirmchen, und, na ja, der Klassiker "0000" stellte sich als falsch heraus - "Ungültige PIN Noch 2 Versuche", war schon rot unterlegt, mein Geburtstag (Klassiker Nummer 2) dann aber ebenso falsch - "Ungültige PIN Noch 1 Versuch". Zugegeben, "2749" war eher eine Verlegenheitslösung, obwohl ich hätte schwören können, dass mein Code ähnlich kompliziert ist.

Danach verbarrikadierte sich das Handy und mit ihm die Welt. Keine Post, keine Anrufe, keine Ordnung oder Orientierung mehr, kein Sinn. Nur ich - ohne Anschluss an mein eigenes Leben, womit eine düstere Nacht begann, seit der mir klar ist: Ohne mein Smartphone bin ich ein vom Rest der Welt abgenabeltes Wesen wie Keanu Reeves, nachdem er sich nackig vom Kokon der "Matrix" entstöpselt hatte. Man wacht in einer Realität auf, die überraschend fremd wirkt.

Macht dieses Ding süchtig? Ja, nein, weiß nicht, sage ich.

Jein, sagen Experten wie die amerikanische Soziologin Sherry Turkle, die uns bereits auf dem Weg zu Zwitterwesen aus Mensch und Maschine sieht (siehe Seite 66). Gibt es noch Hilfe, Therapie, Rettung? Andere Fachleute raten schlicht zum Ausschalten, sind aber für solche Journalistenfragen heute auch rund um die Uhr erreichbar (Seite 73).

Dabei ist es erst genau fünf Jahre her, dass das Gerät auf den Markt kam: Am 29. Juni 2007 campierten vor amerikanischen Apple-Geschäften Scharen echter Fans. Es war eine Art Konsum-Occupy-Bewegung, die damals darauf wartete, eines der ersten iPhones mit nach Hause tragen zu dürfen.

Natürlich hatte diese neue Art von Mobiltelefon mit Internetanschluss Vorläufer, sie reichen zu Nokias Communicator in den neunziger Jahren zurück, der dann vom BlackBerry fortgesetzt wurde. Aber erst das iPhone entwickelte diese kathartische Wirkung, weil es mehrere Ideen zu einer Weltrevolution bündelte.

Johannes Gutenbergs Buchdruckerkunst brauchte einst rund zwei Jahrhunderte, um sich global durchzusetzen. Der Hörfunk benötigte noch zwei Jahrzehnte. Das Smartphone hat den Planeten in nur fünf Jahren erobert mit der Kombination aus Internet und mobilem Telefon, berührungsempfindlichem Bildschirmchen und Apps, jenen kleinen Software-Splittern, die aus dem schier unendlichen Web winzige Werkzeuge schnitzen.

Allein in Deutschland sind schon heute mehr als 113 Millionen Mobiltelefone im Einsatz; also 1,38 pro Bundesbürger - egal, ob Grundschüler oder Pflegeheimbewohner. "Wussten Sie, dass mehr Menschen ein Handy besitzen als eine Zahnbürste?", witzelte SAP-Vorstandschef William McDermott auf seiner jüngsten Hauptversammlung. Und das ist ja nicht alles: "An einem Tag werden doppelt so viele Smartphones verkauft wie Babys geboren." Jeder dritte Bundesbürger besitzt bereits eines. Bei den unter 30-Jährigen sind es mehr als die Hälfte.

In nur fünf Jahren ist es allgegenwärtig geworden wie Auto, Jeans oder Kreditkarte. Es hat uns infiltriert. Fünf weitere Jahre vielleicht noch, dann wird es gar keine anderen Mobiltelefone mehr geben. So wie es Kodak quasi nicht mehr gibt, Videokassetten oder Walkmen.

Apple hat allein im jüngsten Quartal über 35 Millionen iPhones verkauft, 11,6 Milliarden Dollar Gewinn gemacht und ist damit der wertvollste Konzern der Welt geworden, obwohl Samsung dank seiner Konkurrenzgeräte sogar noch erfolgreicher ist.

Der südkoreanische Konzern hat es mit seinen Galaxy-Handys in einer unbeschreiblichen Aufholjagd zur Nummer eins gebracht. Die beiden verklagen sich nun ausdauernd wegen Patentrechtsverletzungen, kontrollieren gemeinsam aber die Hälfte des globalen Geschäfts.

Samsung gegen Apple ist mehr als ein Firmenkrieg. Da stehen sich Ideologien gegenüber, Weltsichten. Es streiten Eleganz gegen Effizienz, Original mit Kopie, Originalität gegen Massenmarkt, womöglich Abendland gegen Asien?

Gerade erst hat Samsung sein neues Top-Handy Galaxy S III vorgestellt, der Start von Apples iPhone 5 wird von Fans für den Herbst herbeigeraunt wie die Wiederkehr ihres Messias. Nokia oder BlackBerry kommen da nicht mehr mit. Selbst Facebook müht sich bislang vergebens, endlich ein eigenes Handy zu lancieren. Andere Riesen wie Sony oder Motorola sind schon so gut wie tot. Alles ist chronisch im Fluss.

Ein einziges Produkt reißt das Geschäft kompletter Branchen an sich. Wozu brauche ich noch Einzelhandelsgeschäfte? Wozu noch eine Taxi-Zentrale, wenn ich via App immer einen Wagen bestellen kann? Wozu noch ein Reisebüro, wenn ich den Kompletturlaub billigst in Eigenregie buchen kann? Wozu noch Geld, wenn dieses Gerät doch auch bald als eine Art Kreditkarte fungiert? Vergangene Woche kündigte Telefónica an, das Geschäft mit mobilen Zahlungsmitteln ab Ende des Jahres erobern zu wollen.

Mein Smartphone ist längst nicht mehr nur Telefon. Es ist Musikstation, Radio, Fotoapparat, -bearbeitungsstudio und -album in einem, Videokamera, Weltzeituhr, Wecker und Wasserwaage, Adressbuch, Diktiergerät, Taschenrechner, Terminplaner, Schreibmaschine, Notizzettel, Postzentrale, kurz: Büro in Zigarettenetui-Größe, das mich überallhin verfolgt. Ebenso ist es Spielekonsole, Fahrplanauskunft, Ticketverkäufer, Wetterdienst, Safe, Kompass, Kino, Lexikon, Bibliothek, ach, das gesamte Weltwissen wird von dem Ding kanalisiert.

An Tick, Trick und Track, den Neffen von Donald Duck, habe ich als Kind immer das Handbuch ihrer Pfadfindergruppe Fähnlein Fieselschweif bewundert, weil es auf jede Überlebensfrage eine Antwort hatte. Das Smartphone verheißt genau das: den Zugang zu grenzenlosem Wissen, immer, überall. Das führt zu kleinen wie ganz großen Verwerfungen.

Früher konnte ich mit Freunden Abende lang nach vergessenen Kino- oder Songtiteln suchen. Wie hieß noch mal der Regisseur von dem Film mit dem Monolithen, der ein bisschen wie ein Smartphone aussieht? Heute zieht sofort einer sein Handy und liest einem bei Wikipedia die gesamte Vorgeschichte zu Stanley Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum" vor. Es war schon unterhaltsamer, ein bisschen blöd zu sein.

Das ist die private Seite, die globale ist weit beeindruckender: Der Arabische Frühling wäre ohne die moderne mobile Kommunikationstechnologie in der gleichen Intensität kaum möglich gewesen.

Frivolerweise ist das Ding Symbol von Reform- bis Revolutionsbewegungen und moderner Sklaverei gleichermaßen. In Libyen oder Ägypten halfen die Handys den Widerstand zu organisieren. In den chinesischen Fabrikstädten des Zulieferers Foxconn werden die Geräte noch immer unter übelsten Bedingungen von Heerscharen billiger Arbeitskräfte montiert.

Das Smartphone ist das Yin und Yang der digitalen Welt. Es steht für Freiheit und totale Kontrolle, Bedrohung und Erlösung gleichermaßen. Die Ambivalenz des Produkts geht wie ein Riss durch mich selbst: Ich liebe mein Handy. Ich hasse es.

Ich liebte es, als ich mit meiner Familie ein paar Tage in Paris verbrachte und im fensterlosen Badezimmer des Hotels das Licht kaputtging. Weil ich schnell eine Taschenlampen-App lud, wurde ich sogar für meine twitterfacebooktumblr-erfahrene Tochter zum Kurzzeithelden.

Und ich hasse das Teil, wenn ich nachts um halb zwei aufs Display blinzle, die E-Mail eines Kollegen entdecke - und auch noch beantworte.

Das ist nicht die Schuld des Geräts. Niemand nutzt einen so gekonnt aus wie man selbst. Nicht das Handy versklavt mich, ich versklave mich höchstpersönlich mit meiner Bereitschaft zu bedingungsloser Erreichbarkeit, auch wenn dann doch nie Hollywood anruft.

Natürlich war es ein Fehler, sich auch die Büro-E-Mails aufs Handy weiterleiten zu lassen. Aber hatte ich eine Wahl?

Dabei sind gefühlte 90 Prozent der Informationen, die auch mich nun rund um die Uhr an fast jedem Ort des Planeten erreichen, Schrott: Reklame, Firlefanz und Lügen: "Hallo, Ich hoffe, dass dieser Vorschlag trifft Sie in einem guten Zustand der Gesundheit. Ich brauche deine Hilfe zu übertragen und invest Fonds, die als Gewinn gemacht durch meine Filiale angesammelt" , schreibt mir ein gewisser Mr. Ebenezer Felix Bentum. Wenn ich es richtig verstehe, will er mich reich machen. Oft warten auch Millionenerbschaften auf mich, Penisverlängerungen und geschlechtsreife Osteuropäerinnen.

Ich weiß noch, wie ich Ende 2007 mit meiner Familie in einem Hotel an der Ostsee Silvester feierte. Damals hatte ich noch ein normales Nokia-Handy, dessen einzige Sensation seine im Dunkeln leuchtenden Tasten waren. Ein Swing-Orchester spielte, die Herren trugen Smoking. Und neben uns daddelte ein Mann halb unterm Tisch verborgen mit glasig verklärten Augen an seinem Handy herum, was ich empörend fand.

Mittlerweile reduziert sich mein eigener Restanstand darauf, dass ich mein Smartphone mit aufs Klo schmuggle, wenn es beim Essen in der Jackentasche vibriert. Es ist dann aber doch wieder nur Post eines Kollegen von Mr. Bentum.

"Prothesengott" nannte Sigmund Freud den Menschen, der sich dank seiner Werkzeuge und Maschinen zur omnipräsent-übermächtigen Spezies entwickeln konnte. Das Smartphone erst macht uns zu wahren Prothesengöttern und treibt uns zugleich in eine neue Dimension der Abhängigkeit. Mein Gott, Handy! Bin ich noch Nutzer oder längst Benutzter?

Wir sind Cyborgs geworden, glaubt die Anthropologin Amber Case. Wir sind schlicht Süchtige, sagt der US-Autor Matt Richtel. "Die sogenannten Digital Natives haben Probleme, Prioritäten zu setzen." Wir sind verwirrte Nomaden, findet der "Generation X"-Autor Douglas Coupland. "Das iPhone hat das Heimweh gekillt", weil es uns die Heimat ja immer hinterherzutragen verspricht. Aber wer setzt uns auf die digitale Diät?

Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich mich geradewegs in die totale Sprachlosigkeit kommuniziere. Beispielsweise telefoniere ich immer weniger - aus Rücksichtnahme wie Widerwillen. Immer mehr Menschen sind ja nur noch über ihr Handy erreichbar, doch ich empfände einen Anruf bei ihnen als Einbruch in deren Privatsphäre. Was, wenn ich ihn/sie gerade auf dem Klo/an der Supermarktkasse/in einer Konferenz störe?

Also maile und simse ich. Das ist unpersönlich, leicht zeitversetzt und erreicht sein Ziel dennoch mit der Präzision einer Fernlenkwaffe. Die Sprache geht dabei allmählich flöten. Und kann jemand, der nicht mehr klar, sauber und bisweilen ausführlich schreibt, noch klar, sauber und ausführlich denken?

SMS zum Beispiel zerlegen Dialoge in kleinste Bestandteile, die oft kein Ganzes mehr ergeben. Ich denke auf 160-Zeichen-Level. Dennoch komme ich mir ohne das Handy bisweilen so hilflos vor wie die aufgeschwemmt-phlegmatischen Menschen im Animationsfilm "Wall-E" ohne die fürsorgliche Technik, die ihnen in einer nahen Zukunft sogar das Gehen abgenommen haben wird.

Für solche Momente empfiehlt Leena Simon, Piraten-Politikerin und graduierte Netzphilosophin aus Berlin, gern mal Immanuel Kant. Sein 228 Jahre altes Essay "Was ist Aufklärung?" ließe sich mit wenigen Modifikationen als Smartphone-Kritik der praktischen Vernunft lesen: "Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt der für mich die Diät beurtheilt, u. s. w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."

Aufklärung ist nach Kant "der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Wäre Kant heute Pirat?

Leena Simon hat recht, wenn sie resümiert: "Die Rechner sind heute allgegenwärtig, und alles wird immer komplexer. Das führt einerseits zu einer permanenten Überforderung, andererseits zu einer großen Unbedarftheit der User, die zu Glücksgefühlen wird, wenn es den einen angeblichen Problemlöser gibt - das Smartphone."

Ich liebe diese neue Unmündigkeit 2.0 übrigens sehr, die mir zugleich eine nie dagewesene Macht als Konsument verleiht: Schon jetzt kann ich zum Beispiel im Media-Markt nach einem neuen Bügeleisen suchen, den Barcode fotografieren, Preise vergleichen und noch im Laden irgendwo anders online kaufen - oder dem Verkäufer einen Rabatt aus dem Ärmel leiern.

Entsprechend verehre ich das Produkt. Ich trage es immer bei mir wie sonst nur Ehering oder Brieftasche. Ich packe es in ein Schutzmäntelchen (allein das Handy-Hüllen-Geschäft ist in kürzester Zeit zur Multimillionenindustrie geworden). Ich habe Stunden damit verbracht, den schönsten Klingelton auszuwählen, wobei offenbar fast alle Nutzer auf magische Weise am Ende wie ich bei dieser Uralt-Nostalgie-Bimmel hängenbleiben.

Das wiederum führt dazu, dass in jeder Flughafen-Lounge nur ein einziges Handy klingeln muss, und schon grabscht ein Dutzend Leute reflexartig in Sakkos und Taschen. Letztlich will ich aus einem Massenprodukt ein Stück Ich machen, Prestigegewinn inklusive. iPhone, also bin ich.

HARDWARE

"Als Statussymbol ist das Smartphone heute schon wichtiger als das Auto", glaubt Thorsten Dirks. Er verkauft Telefone und die Flatrate-Marken dazu, die bei ihm Simyo heißen und Base und neuerdings Yourfone. Dirks will die Masse ansprechen. Die Masse mag's billig, aber nicht nur: "Fast alle Kunden wollen hochwertige Geräte und dann lieber bei den Tarifen sparen."

Thorsten Dirks ist Vorstandschef von E-Plus, dem drittgrößten Mobilfunkanbieter hinter Vodafone und der Deutschen Telekom. Das Unternehmen setzt 3,2 Milliarden Euro um und betreut rund 23 Millionen Kunden. Dirks ist sich im Klaren darüber, dass er dem Start des iPhones vor fünf Jahren viel verdankt, eigentlich alles.

"Unsere Industrie hat ja schon lange vorher versucht, solche Systeme auf den Markt zu bringen. Aber Mensch wie Technik waren einfach noch nicht reif. Bis Apple kam."

Dabei hat Steve Jobs das iPhone vor allem aus drei Gründen entwickeln lassen: Angst, Ärger und gesunde Gier.

Es war 2005. Der Apple-Gründer fürchtete um die Zukunft seines damals sehr erfolgreichen MP3-Players iPod, weil er ahnte, dass Handys Funktionen wie das Abspielen von Musik bald übernehmen würden. Jobs ärgerte sich zugleich furchtbar über all die schwer zu bedienenden Mobiltelefone, die er gern mal "hirntot" nannte. Zugleich sah er das gewaltige Potential: Schon damals wurden weltweit über 800 Millionen Handys verkauft. Jährlich.

Sechs Monate lang kümmerte sich Jobs um kaum etwas anderes. Täglich verfeinerte er die Funktionen, indem er sie vor allem vereinfachte.

Heute rüsten alle technisch auf: Das Galaxy S III von Samsung ist größer, leichter und dünner als das iPhone 4S und gilt vielen Fachleuten als besser. Es erkennt mit einem elektronischen Auge, ob sein Nutzer gerade auf den Bildschirm blickt. Wenn man eine Mail gelesen hat und das Gerät ans Ohr hält, wählt es automatisch die Telefonnummer des Absenders.

Die Rechnerleistung solcher Handys hätte 1969 völlig gereicht, die "Apollo"-Kapsel zum Mond und wieder zurück zu dirigieren. Trotzdem ist nicht die Technik das Erfolgsrezept der Idee Smartphone, sondern seine einfache Bedienung.

Das haben mittlerweile auch die anderen begriffen: Sony warb jüngst für sein Xperia mit einem Spot, in dem sich ein Achtjähriger vorstellt, was in so einem Handy überhaupt passiert. Der Junge erzählte von winzigen Robotern, die darin herumsausen und Musik, Fotos und Videos hin und her schießen. Danach hätte ich mir fast ein Xperia gekauft, weil ich mich verstanden fühlte.

Wir sind alle Kinder, die gar nicht kapieren, was in diesen kleinen Kistchen abläuft. Wollen wir auch nicht. Wir genießen den Luxus der Unmündigkeit, die die schöne, neue Welt so überschaubar macht.

Als E-Plus-Chef Thorsten Dirks noch ein kleiner Junge war, überreichte er seiner ersten großen Liebe mit zitternden Händen einen Zettel: "Willst du mit mir gehen?" Sein 15-jähriger Sohn kann einfach eine SMS an ein Dutzend Mädels in seinem Umfeld schicken in der Hoffnung, dass eine davon schon antworten wird. Eine Art Streubomben-Romantik. Ist die Taktik deshalb verwerflich, weil sie so effizient ist?

"Nicht nur meine Branche, unser ganzes Leben erlebt derzeit einen gewaltigen Wandel", sagt Thorsten Dirks. Und jeden Tag lauert dank Smartphone eine neue Revolution wie beim Geschäft mit SMS, das einst erfolgreichste Abfallprodukt der ganzen Telekommunikationsbranche.

Vor drei Jahren dann erfanden die beiden früheren Yahoo-Mitarbeiter Brian Acton und Jan Koum eine Applikation, die SMS via Internet verschickt. Gratis. Es war eine kleine, kluge Idee. Und sie droht den Multimilliardenmarkt der Kurznachrichten zu pulverisieren.

SOFTWARE

Früher kamen bedeutende Erfindungen aus streng abgeschirmten Militärapparaten, den Labors großer Konzerne oder wurden in Universitäten ertüftelt. Heute kann eine Winz-Firma wie WhatsApp einen Markt schaffen oder zerstören.

Instagram produziert eine Software, mit der sich Smartphone-Fotos retuschieren und verschicken lassen. Die Firma sitzt in einer unscheinbaren Büro-Etage an der South Park Avenue in San Francisco, hatte bis vor kurzem 13 Beschäftigte und wurde dann von Facebook gekauft - für eine Milliarde Dollar.

Die kleine finnische Software-Firma Rovio soll sogar neun Milliarden Dollar wert sein. Vor drei Jahren hat sie für gerade mal 100 000 Euro eine App entwickelt: "Angry Birds" wurde das weltweit erfolgreichste Handy-Spiel. Bis heute wurden die verschiedenen Varianten eine Milliarde Mal runtergeladen.

Das Ziel von "Angry Birds" ist es, Vögel mit unterschiedlichen Flugeigenschaften in Holz-, Eis- oder Steinkonstruktionen zu schießen, wo sie möglichst viele grüne Schweine erledigen und Schaden anrichten sollen …

Wenn ich das hier so lese, verstehe ich selbst nicht, weshalb ich dieses kleine Spiel so liebe wie Salman Rushdie, der sich für einen ziemlich guten "Angry Birds"-Spieler hält.

Die kleine Sucht füllt kleine Pausen - in der Schlange beim Bäcker, im Taxi, auf dem Bahnsteig. Es gibt viele solcher Pausenfüller. Seit geraumer Zeit werden sogar mehr Apps für Handys mit Googles Betriebssystem Android abgerufen als für Apples iOS. Vor kurzem machte Google eine atemberaubende Zahl publik: Zurzeit werden täglich 900 000 Geräte mit der Android-Software aktiviert.

Jedes der beiden Systeme bietet aktuell über eine halbe Million der kleinen Programme an. Es gibt für alles eine App - zum Krieg spielen wie zum Krieg führen. "Offender Locator" zeigt an, wo in der Nachbarschaft Sexualstraftäter leben - zumindest in den USA. Wahrscheinlich wird es bald Röntgen-Apps geben samt YouTube-Schnipseln, die einem einen sachgemäßen Luftröhrenschnitt erklären. Und vielleicht gibt es in zehn Jahren den Otto-Versand gar nicht mehr, weil er dann von einer App erledigt sein wird, die heute noch gar nicht erfunden ist.

Wenn ich künftig ein Grippemittel in der Apotheke kaufe, wird die Info sofort weiterverarbeitet, so dass mir der Drogeriemarkt in der Nachbarschaft noch im Vorübergehen einen Rabattgutschein für Vitamin-C-Tabletten aufs Handy schicken kann. Wenn es in Hamburg regnet, wird mir eine App den Weg zum nächsten Schirmgeschäft zeigen. Und wenn meine Frau Geburtstag hat, wird mir eine App Tage vorher Geschenke vorschlagen - oder gleich selbständig kaufen.

Die App verspricht wie die Hardware, Komplexität zu reduzieren. Sie ist das Sieb im Sand der virtuellen Unübersichtlichkeit. Und das Tollste: Nur ein Bruchteil der Programme kostet Geld.

Die Industrie hilft mir, also helfe ich ihr - mit meinen Daten oder indem ich mir ihre Reklame einblenden lasse. So bin ich in fünf Jahren ein ordentlich funktionierender Handlanger der Konzerne geworden.

Ich mache all das, wofür man früher Servicepersonal hatte, heute mit dem Smartphone: Ich buche Mietwagen, checke mich am Flughafen ein und verwalte meine Bankgeschäfte. Ich bin eine sich selbst organisierende Marionette.

Dirk Kraus, Chef der Berliner Firma YOC, kann stolz auf mich sein. Schon im vergangenen Jahr wurde er als "Europas App-König" beschrieben. Hunderte der kleinen Programme hat sein Unternehmen entwickelt. Dirk Kraus bastelt sie im Auftrag großer Konzerne wie Daimler oder Coca-Cola oder Air Berlin.

Die der Deutschen Post kann mir überall den Weg zum nächsten Briefkasten zeigen, was total praktisch ist, auch wenn man gar keine Briefe mehr schreibt. Aber so ist das mit vielen Apps: Sie lösen Probleme, die man vorher nicht hatte.

Dirk Kraus bekommt dafür Geld von den Unternehmen. Die Apps sind nur der Transmissionsriemen für sein eigentliches Geschäft: Handy-Reklame.

Als er YOC im Jahr 2001 gründete, verdiente er sein Geld mit Werbe-SMS. Wenn er damals über mobiles Marketing sprach, dachten seine Kunden noch, er fahre mit Reklametafeln auf dem Auto durch die Stadt. Aber schon sein erster Geschäftsplan phantasierte von der baldigen Verschmelzung von Handy und Computer. Heute ist YOC eine börsennotierte Aktiengesellschaft mit 230 Beschäftigten.

Wenn Dirk Kraus von seinem Konferenztisch aufblickt, sieht er auf der einen Seite die Kuppel des Berliner Doms und auf der anderen in die azurblauen Tiefen des 25 Meter hohen Aquariums eines darunterliegenden Fünf-Sterne-Hotels. Es ist sehr schick und sehr Zukunft hier oben.

Kraus rechnet vor, dass das jährliche Werbeaufkommen europaweit 70 Milliarden Euro betrage. Bisher würden davon nur rund 0,1 Prozent ins Geschäft mit mobiler Kommunikation fließen. Nullkommaeins. Dirk Kraus will das ändern. Auch mit meiner Hilfe. Der Hilfe des Users. Man will meine Aufmerksamkeit, meine Daten, mein Geld.

Selbst "Angry Birds" kann theoretisch Informationen auf meinem Handy abrufen. Komische Vögel! Aber auch das gehört zu dieser ambivalenten Revolution: Ich vertraue dem Telefon mein Leben an, und zugleich weiß ich, dass es mich aushorcht. Es verrät mir so viel, aber es verrät mich auch fortwährend. Reicht meine Daten weiter. Legt Bewegungsprofile von mir an. Es öffnet mir die Welt, und es öffnet mich der Welt.

SICHERHEIT

"Das Smartphone weiß mehr über Sie als Sie selbst", sagt der Bielefelder Netzaktivist padeluun, der seit Jahrzehnten nur unter seinem Künstlernamen auftritt. "Firmen wie Google oder Facebook wissen teils ja selbst noch nicht, weshalb sie all die Daten über uns sammeln." Warum tun sie es dennoch? "Weil es geht."

padeluun ist eine Graue Eminenz des hiesigen Datenschutzes: Ehrenmitglied beim Chaos Computer Club (CCC), Sachverständiger in der Enquetekommission Internet und digitale Gesellschaft des Deutschen Bundestags sowie Vorstand des Vereins zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (kurz: FoeBuD). Der Name ist so kompliziert, dass der Verein sich gerade einen neuen sucht. Einmal im Jahr vergibt der FoeBuD auch den "Big Brother Award". Apple und Facebook haben ihn natürlich längst.

padeluun blinzelt in die Sonne. Es ist ein warmer Sonntag in Köln. Der CCC hat zu einer Konferenz in den dortigen Mediapark eingeladen, wo sich jetzt viele junge und nicht mehr ganz so junge Menschen alle Mühe geben, jedem Nerd-Klischee zu entsprechen. Vor 20 Jahren waren solche Fachleute vielleicht nicht die Verlierer, aber doch eine Randgruppe. Nicht nur das hat sich geändert.

Früher war es noch von Koketterie durchsetzt, wenn ich selbst sagte: "Boah, ich bin sogar zu blöd, meinen Toaster zu programmieren." Heute stimmt das mit dem Toaster weiterhin, aber ich sage es - wenn überhaupt - mit einer Mischung aus Scham und Angst, weil ich mich zunehmend als analoger Vollpfosten wahrnehme.

Damit bin ich nicht allein, aber das macht nichts besser. Ich verstehe den Quellcode des Fortschritts nicht mehr.

Nerds dagegen scheinen die Schlüsselmeister der Zukunft geworden zu sein. Sie haben ihre eigenen Ikonen, die es bis in die Popkultur geschafft haben. Was ist denn die kaputte Hackerin Lisbeth Salander in Stieg Larssons nun schon mehrfach verfilmten "Millennium"-Krimis anderes als eine Jeanne d'Arc der IT-Ära? Vor allem haben die Nerds mit den Piraten nun einen mächtigen politischen Arm.

Es kann kein Zufall sein, dass der Aufstieg der Piraten parallel zu dem des Smartphones verlief. Die Piraten sind die Partei zum Produkt. Beide sind irgendwie sexy, dynamisch, frisch und wahnsinnig beweglich, aber auch irgendwie bedrohlich und vor allem irgendwie irgendwie.

Ohne die Erfindung des Smartphones wären die Piraten vielleicht gar nicht möglich. Als Johannes Ponader, neuer politischer Geschäftsführer der Partei, vor wenigen Wochen in Günther Jauchs Talkshow saß, irritierte weniger sein Paar Wandersandalen als sein dauernder Griff zum iPhone. Damit twitterte er sich live in seine politische Basis, um die miteinzubinden.

Produkt wie Partei können alles so ein bisschen. Ein bisschen kommunizieren. Ein bisschen schreiben. Ein bisschen Ordnung schaffen. Ein bisschen Wahnsinn provozieren. Ein bisschen die Welt retten. Beide demonstrieren - und das soll gar nicht abfällig klingen - den Sieg des professionellen Dilettantismus.

Der Netzaktivist padeluun hat inzwischen auch ein iPhone. Er wollte auf gar keinen Fall eines, aber dann stand er in einem Laden, spielte an dem Handy herum - und verstand es sofort. "Das war für mich der Moment, wo ich sagte: Okay, probier ich's mal aus. Das zeigt ja zugleich, auf welcher Welle sich diese Dinger verbreiten und zur immer größeren Gefahr werden: geistige Bequemlichkeit."

padeluun versteht sich als Testperson und die Faszination Apple heute besser, auch wenn er das Gerät und seine Möglichkeiten kritischer denn je sieht: "Ich will souverän agieren, aber das Smartphone versucht, mich zu entmündigen."

Warum muss man sich bei einem stinknormalen Handy heute anmelden mit einem Account und damit vielen eigenen Daten, als stünde man an der Grenze zu Nordkorea in der Passkontrolle? Warum lassen wir zu, dass anonyme Instanzen wie Google, Apple oder Facebook sich in die privatesten Kammern unseres Lebens schleichen? Warum überhaupt sollen wir all unsere Daten in den virtuellen Wolken einer Cloud speichern, deren Sicherheit alles andere als gewährleistet ist?

Aber so, wie das Smartphone ein höchst zwiespältiges Produkt ist, ist auch die Piratenpartei janusköpfig: Längst ist sie nicht mehr nur eine Datenschutz-Bewegung. Die Post-Privacy-Fraktion glaubt vielmehr, dass sich ein Ende unserer Privatsphäre und damit eine Ära totaler Transparenz gar nicht mehr verhindern lasse angesichts der technischen Möglichkeiten.

Die widerstreitenden Positionen im Piratenlager sind durchaus repräsentativ für den Rest der Republik. Laut einer Studie des Branchenverbandes Bitkom neigen die Deutschen beim Datenschutz generell zu Extrempositionen: übertriebene Vorsicht hier, völlige Gleichgültigkeit da. "Oft sogar in einer Person", sagt Michael Waidner, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Sichere Informationstechnologie (SIT) in Darmstadt. Das sind dann die Leute, die auf Facebook eine Aktion gegen Vorratsdatenspeicherung starten.

Einerseits gibt es bereits Apps, die einem zeigen, wo die kleinen Programme sich bei Android-Handys überall Zugang verschaffen können. Spätestens da wird klar, dass man längst völlig gläsern ist. Andererseits ist wirklich ernstgenommener Datenschutz anstrengend. Er macht die (Smartphone-)Welt kleiner und unbequemer. Also bin ich hin- und hergerissen zwischen Phlegma und Panik. "Die Leute agieren wie Trauma-Opfer, die irgendwann anfangen, ihre Entführer zu lieben", sagt padeluun. Lieben ist leichter.

SUCHT

In den Seminaren des Psychologen George Pennington geht es, wie bei vielen seiner Fachkollegen, um Soft-Skills, "Gelassenheit als Geschäftsprinzip" oder Entschleunigung. In den Pausen hängt nach Penningtons Erfahrung dann die Hälfte der Teilnehmer an den Handys.

Pennington will sie vor allem dazu bringen, weniger und nicht mehr so zwanghaft zu denken. Das Smartphone ist für ihn der ewig ratternde Pürierstab im Denkbrei unserer Köpfe - und "das Sklavenhalsband des 21. Jahrhunderts", was natürlich nicht nett klingt, aber zugleich nach einem sehr guten Geschäft.

Klar ist: Die Lust auf die mobile Kommunikation wird sich wie das Produkt selbst weiter epidemisch ausbreiten. Ähnlich dramatisch dürfte in den kommenden Jahren allenfalls die Zahl der Handy-Sucht-Experten und -Therapeuten zunehmen.

Es ist ein Terrain, das bislang eher mit merkwürdigen Studien dekoriert oder von den Fragebögen einschlägiger Frauenzeitschriften beackert wird. Typische Frage dort: Werden Sie panisch, wenn Sie Ihr Handy vergessen haben? Als Antwort-Alternativen folgen:

a) Das macht mich total nervös.

b) Etwas beunruhigt bin ich schon.

c) Nein, früher ging es auch ohne.

Natürlich habe ich in diesem Fall wie bei allen ähnlich durchschaubaren Fragen immer c) angekreuzt und konnte mich am Ende als absolut ungefährdet zurücklehnen. Selbstbetrug ist auch eine Lösung. Doch wann beginnt die Sucht nach dem Smartphone denn nun wirklich, gibt es sie überhaupt?

"Die Hardware wird dafür nicht entscheidend sein", sagt Bert te Wildt, Facharzt an der Uni-Klinik Bochum und Vorsitzender des Fachverbandes Medienabhängigkeit. Erst das Internet liefere jenen Kitt, der nun alles verbindet und künftig jede Kaffeemaschine zum dialogfähigen Gegenüber macht. "Da wurde eine Beziehungsdimension ins Mediale eingeführt, und die kann abhängig machen", glaubt te Wildt.

Das Smartphone hat die Politik verändert, die Wirtschaft, die Gesellschaft und ihre kompletten Kommunikationsstrukturen.

Es wäre also ziemlich komisch, wenn es ausgerechnet mich als User nicht verändert hätte. Im pathologischen Sinn bin ich wohl kaum davon abhängig, aber ich hänge dran. In jeder Hinsicht.

Das Grundrauschen um mich herum scheint noch lauter geworden zu sein. Ich fürchte, wesentlichen Winkelzügen der Weltnachrichten schon dann nicht mehr hinterherzukommen, wenn ich mal für eine dreistündige Opernaufführung off bin. Ich bin einer von denen geworden, die mit Knöpfen im Ohr und brabbelnd auf den Boden starrend durch die Stadt laufen. Und wenn ich auch nur eine Stunde im Flugzeug sitze, suche ich wie hundert andere sofort nach der Landung wieder hektisch nach einem Netz, das mich auf- und einfängt.

Vor fünf Jahren gab es in meiner vierköpfigen Familie ein Handy. Mittlerweile haben wir darüber hinaus drei Smartphones, zwei Tablets und vier Laptops. Das ist ja auch nicht billig, obwohl jetzt sicher gleich ein besonders Schlauer einwendet: Hey, bei preisbrecher.org gibt's doch jetzt die Family-four-for-one-all-ink-Flat für 9,90 im Jahr. Ja, ja, ja.

Das ohnehin schon beunruhigende Gefühl, dass sich alles immer schneller dreht, ist der drohenden Überforderung durch permanente Gleichzeitigkeit gewichen. Oder klarer: Bevor in China ein Sack Reis überhaupt komplett umgefallen ist, haben nicht nur in Deutschland von Twitterern über Talkshows bis zum Entwicklungshilfeministerium alle bereits darauf reagiert.

Das ist die wahre Saat des Smartphones: Selbst in Zeiten, als es Computer und Internet längst gab, Telefone sich aber noch auf akustische Kommunikation beschränkten, existierte eine gewisse Refraktärzeit. Eine kleine Pause des Innehaltens zwischen Reiz und Reaktion. Nun ist alles jederzeit abrufbar: These und Antithese, Emphase und Empörung. Stille und Shitstorm. Dazwischen bleibt immer weniger Luft zum Nachdenken, was nicht gut sein kann.

ZUKUNFT

Die Menschheit stehe gerade an einer Weiche, glaubt die Netzphilosophin Leena Simon. Auf der einen Seite geht's Richtung Gleichschaltung, Manipulation, Entmündigung. Auf der anderen Richtung Demokratisierung, Schutz des Individuums, Mitbestimmung. "Wir müssen uns fragen, ob wir unsere neuentstehenden moralischen Normen von Konzernen wie Apple oder Facebook definieren lassen wollen."

Andererseits könnten die etwas weniger technikbegeisterten Bevölkerungsschichten allmählich an den Rand gedrängt werden. Meine Schwägerin etwa hat noch immer keinen Computer, also auch keine E-Mail-Adresse, kein Internet, keine Ahnung. Werden ihr bald die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt, weil sie Liquid Democracy eher für eine griechische Schnapsmarke hält?

Manchmal kommt einem die Zukunft merkwürdig intolerant und rechthaberisch vor und gar nicht so golden wie in der Bonner T-Gallery, wo Deutschlands größter Telefonkonzern an dieser Zukunft herumbastelt.

Caroline Seifert ist die Chefin dort und laut Visitenkarte "Senior Vice President Product Design". In der Lounge-Atmosphäre ihrer riesigen Rotunde kann sie stundenlang unglaublich begeisternd beschreiben, wie wir in wenigen Jahren leben werden. Warum sie das so genau zu wissen glaubt, ist wiederum recht einfach: Sie und die über 300 Experten, Ingenieure, Programmierer, Trendscouts und Psychologen, die sie anzapft, lassen sich nur noch davon leiten, was der Mensch wirklich als Hilfe versteht. Von dieser einfachen Prämisse ausgehend, lasse sich Zukunft ableiten.

In Caroline Seiferts Welt geht es nicht mehr um so nahe Innovationen wie den neuen Funkstandard LTE, der Handys bis zu zehnmal schneller macht, als sie heute schon sind. Es geht eher darum, wie wir dann all unsere Daten und Träume jederzeit abrufbar in die Cloud auslagern, die uns überall erkennen wird.

Per Code oder Knopfdruck, Stimme oder Fingerabdruck - ganz egal, alles wird verschmelzen, alles sich fortwährend verändern. Frau Seiferts wichtigste Prämisse ist, dass "Lieschen Müller" etwas will und versteht - also auch meine Schwägerin.

Der Planet wird immer komplexer, die Illusion einfacher Bedienung wird perfekt. Der Witz ist, dass ausgerechnet der Weltrevolutionär Smartphone dann zumindest in seiner jetzigen Form gar nicht mehr gebraucht wird.

"Im Hotel können solche Displays im Spiegel integriert werden, im Auto in die Windschutzscheibe oder sogar in die eigene Brille", prophezeit der Fraunhofer-Forscher Michael Waidner. Google arbeitet an solchen Brillen bereits. Mit unter der Haut implantierten RFID-Chips wird experimentiert.

Natürlich wird all das sicher sein und komfortabel und einfach, und die Maschinen werden nur machen, was der Mensch wünscht, verspricht Caroline Seifert, die in dieser Zukunft arbeiten darf. Leben tut sie in ihr nicht.

Wenn sie abends nach Hause fährt, steht dort kein einziger Computer. Warum? Sie lächelt. "Vielleicht weil die Vielfalt des Tages genau diese Ruhe als Kontrast braucht. Oder einfach nur, weil ich die Wahl habe." Einfach mal den SIM-Code vergessen, Frau Seifert! Das hilft schon.

Thomas Tuma

Spiegel Online, Hamburg, 02. Juli 2012
Original: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-86653834.html

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