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Reality Hacking

Ralf Grötker    22.05.2002

Digitalkunst zwischen Guerilla-Taktik und "Verstehen Sie Spaß?"

Man kann sie nicht sehen, nicht hören, nicht riechen, nicht schmecken, nicht anfassen: digitale Prozesse. Manchmal ist Code Kunst. Die Berliner NGBK zeigt eine Minimal-Ausstellung mit Code-Kunst: Angewandte (Un)sicherheit. Das Motto: Wer nicht angeschlossen ist, ist ausgeschlossen, doch wer vernetzt ist, ist verletzbar.

Zugeben: Die "Privacy-Card" des Bielefelder Künstlerduos Rena Tangens und Padeluun kann man sehen. Aber eigentlich ist nicht der Plastikchip das Kunstwerk, sondern der digitale Prozess, den der Strichcode auf der Karte in Gang setzt. Dieser Code macht aus der Privacy-Card ein trojanisches Pferd. Zückt man die Privacy Card an der Kasse, wird der Code, vielleicht auch zusammen mit einer Liste der Einkäufe, zum Rechner von Payback nach München transportiert. Der Rest ist bekannt ( Der Privacy-Hack): Anstelle von personenbezogenen Informationen befinden sich auf jeder Privacy-Card dieselben Daten - die Daten von Padeluun. Die fälligen Rabattpunkte werden dem gemeinnützigen Verein "FoeBuD" gutgeschrieben.

"Prozesse" will er in Gang bringen, nicht "Produkte" erzeugen, sagt Padeluun. Konsequenter Weise beschränkt sich seine Präsentation auf der Ausstellung "Angewandte (Un)sicherheit" in der Kreuzberger NBGK auch auf so etwas wie einen Messestand: eine Art Werbetafel und, davor, einen zu einem Sessel zurechtgebogenen Einkaufswagen mit der Privacy-Card darin, die man an der Kasse kaufen kann.

Ausgestellt wird bei "Angewandte (Un)sicherheit" insgesamt enttäuschend wenig - wenn man einmal von dem happeningartigen Einsatz einer Wachgesellschaft am Eröffnungsabend absieht. Unterstützt wurden die Männer in Uniform von einem Trupp freiwilliger Zollbeamten, die die Taschen auf Mobiltelefone und Kreditkarten überprüften, um deren Besitzer vor den vielfältigen Möglichkeiten des Missbrauchs zu warnen.

Eher Prozess als Produkt ist auch insert_coin, eine Abschlussarbeit der Merz-Akademie-Studenten Alvar Freude und Dragan Espenschied, die 2001 bereits den Medienkunstpreis des Südwestrundfunks und des Karlsruher ZKM erhalten hatte ( Das Unbehagen am Medienkunstbegriff). Ähnlich wie die Privacy-Card, versteht sich auch "insert_coin" als trojanischer Trick, Guerilla- Taktik oder "Hacking Coup". Ein bisschen verströmt die Aktion aber auch das Flair von "Verstehen Sie Spaß?". Denn Freude und Espenschied haben sich einen Scherz erlaubt. Sie haben die Computer ihrer Kommilitonen an der Merz-Akademie so manipuliert, dass auf Internetseiten Wörter vertauscht wurden: aus "Gerhard Schröder" wurde "Helmut Kohl", aus "Kanzler" wurde "Kaiser, aus dem "Powerbook" der "Klodeckel".

Als Installation besteht "insert_coin" aus zwei Computern in einer Holzbude, aus welcher unablässig ein Papierstreifen quillt, auf dem die aktuell vorgenommenen Manipulationen ausgedruckt werden. Wenn man hätte sparen müssen, hätte es auch genügt, lediglich die Angaben "proxy.odem.org" und "Port:7007" auszustellen. Die sind nämlich alles, was man braucht, um "insert_coin" selbst auf einem Computer zum Laufen zu bringen.

Der einzige Teil der Ausstellung, der ein traditionelles Produkt oder Werk präsentiert, ist die Fotostrecke Shooter. Zu sehen sind Bilder von "Mad Bob", "Cannon Fodder" und "Kai 0/1", Portraits junger und jüngerer Menschen, die sich auf die Lippen beißen, seltsam die Nase rümpfen und mit verzückt gesenktem Blick aus dem Bild herausstarren. Darunter Zahlen - die Pulsfrequenzen der Porträtierten.

Sie alle wurden aufgenommen im entscheidenden Moment - beim Abdrücken. Zwei Jahre lang haben Beate Geissler und Oliver Sann Turniere mit "Ego Shootern" organisiert - mit Computerspielen wie Quake, bei denen die Teilnehmer sich in der Ich-Perspektive in einer virtuellen Landschaft bewegen und auf Roboter, aber auch auf die Figuren realer Mitspieler schießen, die sich über ein Netzwerk einloggen. Das Wissen um diese Hintergründe erst erzeugt die schaurige Ambivalenz. Was geht vor in diesen Köpfen? Man muss sich nur vorstellen, was passiert wäre, wenn Robert Steinhäuser zwischen "Mad Bob" und "Kai 0/1" geraten wäre. In dem Fall hätte wohl die Realität die Kunst gehackt - denn als Kunstobjekt wäre die "Shooter" Galerie dann bestimmt nicht mehr zu einsetzbar.

Telepolis, 22. Mai 2002
Original: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/sa/12581/1.html

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