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Im Visier der Kameras

VON ANKE GROENEWOLD

Bielefeld. Liverpool, 1993. Zwei 14-Jährige entführen in einem Einkaufszentrum einen Zweijährigen und ermorden ihn später an den Bahngleisen. Die Täter werden gefasst. Im Fernsehen sind immer wieder Bilder zu sehen, die eine Überwachungskamera zufällig von den Tätern aufgenommen hat. Was die Fahnder nicht an die große Glocke hängen: Die Täter wurden durch ganz konventionelle Ermittlungsarbeit zur Strecke gebracht. "Dennoch hat der Fall in England eine Kamera-Euphorie ausgelöst", sagt Dr. Thilo Weichert, stellvertretender Datenschutzbeauftragter Schleswig Holsteins. Er war auf Einladung des Vereins FoeBuD in Bielefeld.

Die Briten sind Weltmeister im Ausspähen. Hundertausende staatlicher, kommunaler und privater Kameras sind auf Fußgängerzonen und Straßen gerichtet, lauern in Banken, Kaufhäusern, Einkaufszentren, Restaurants, Parkhäusern, Schulen, Bussen, Kneipen, Krankenhäusern, Altersheimen und an Tankstellen. Es gibt kaum eine Nische im öffentlichen Raum, in die die Hightech-Späher noch nicht vorgedrungen sind. Ein "abschreckendes Beispiel", meint Weichert.

"In Deutschland sind wir noch nicht so weit gediehen, aber auch hier breitet sich zum Beispiel die Unart aus, auf Schulhöfen und -toiletten Kameras anzubringen, um für die Sicherheit der Kinder zu sorgen", erzählt der Datenschützer aus seiner Praxis.

Die Polizeigesetze der Länder erlaubten unter bestimmten Voraussetzungen die Überwachung im öffentlichen Raum. Doch es gibt auch immer mehr Große Brüder, die zum Privatvergnügen spannen. Weichert hat nach eigenen Angaben immer häufiger mit Menschen zu tun, die ihr Eigentum mit Kameras zu sichern versuchen und dabei über den Zaun und in des Nachbars Haus gucken. "Das sorgt zunehmend für Konflikte." Kaufhäuser, Banken, Tankstellen und öffentliche Verkehrsmittel sind auch hierzulande schon mit Kameras bestückt.

Auch Bielefeld macht von sich reden: Als erste Stadt in Nordrhein-Westfalen wird Bielefeld die polizeiliche Videoüberwachung erproben. Ende Oktober werden Kameras im Ravensberger Park installiert, der als krimineller Brennpunkt gilt. Die Bilder werden in die nahe gelegene Polizeistation am Kesselbrink übertragen. Die Beamten dürfen nur aufzeichnen, wenn sie glauben, an den Monitoren eine Straftat zu beobachten.

Befürworter der Kameraüberwachung führen zwei Argumente an: Das elektronische Auge verhindert Verbrechen, und es sorgt für Sicherheit. Gerade die Erfahrungen aus England zeigen jedoch, dass die Lage viel komplizierter ist. Weichert gibt an, dass ist die Kriminalität in Großbritannien nicht zurückgegangen, sondern eher noch gestiegen ist. Die Flut der Bilder könne gar nicht mehr ausgewertet werden, weil nicht genug Beamte da seien. Kriminelle lassen sich anscheinend nicht durch die Späher abschrecken: "Böse Buben werden durch Kameras nicht plötzlich zu guten Buben. Sie gehen einfach woanders hin." Dem könne man nur Einhalt gebieten, wenn man flächendeckend überwache. Und davor warnen die deutschen Datenschützer nachdrücklich.

Auch das Sicherheits-Argument hält Weichert für trügerisch: "Sie mögen sich unter Kameraüberwachung sicher fühlen, aber Sie sind es nicht." Ein Täter könne sich einen Strumpf über das Gesicht ziehen und zuschlagen. Auch sei es nicht gewährleistet, dass die Überwacher angesichts der Bilderflut auf den Monitoren überhaupt etwas registrierten. Menschliche Überwachung vor Ort sei auf jeden Fall effektiver.

Datenschützer Weichert ist realistisch: "Wir werden mit Kameras leben müssen." Aber die Überwachung müsse für jeden transparent sein. Daher fordert Weichert auch eine Meldepflicht für Überwachungskameras: "Minikameras sind zu nichts anderem in der Lage, als Persönlichkeitsrechte zu verletzen.". Technisch machbar sei heute alles. Die Kameras sind winzig und enorm leistungsfähig. Sie können nachts sehen. Sie identifizieren Gesichter und erkennen Menschen am Gang. In Verbindung mit mächtiger Software und vernetzten Datenbanken können sich die unzähligen Großen Brüder den gläsernen Menschen schaffen.

Die Datenschützer selbst können nicht eingreifen. Sie ermitteln und decken die Überwachungspraxis auf, können aber keine Bußgelder verhängen. Wer sich in seiner Privatsphäre verletzt fühle, habe zwei Möglichkeiten, betont Weichert: zum Staatsanwalt zu gehen oder zur Selbsthilfe zu schreiten und diejenigen, die überwachen, selbst zu überwachen und öffentlich anzuprangern. Man könne den Kameras auch eine Plastiktüte überstülpen. Das sei eine zulässige Form der Selbsthilfe, so lange die Kamera nicht beschädigt werde, sagt Weichert augenzwinkernd.

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Neue Westfälische, 03. Oktober 2000

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