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Das Zuschnappen der Datenfalle

Nummerngirl

Ein Klick, ein Blick und ein Menschenleben liegt offen: Warum die Aushöhlung der Privatsphäre die Freiheit und Gleichheit bedroht.

Mable Bayard hatte bei der Partnerwahl irgendwie mehr Glück als Caroline von Monaco. Die Waffen des Gatten von Mable Bayard jedenfalls waren geschliffener als es die des Prinzen Ernst August sind, dem nachgesagt wird, notfalls mit schlichter Gewalt Berichterstatter an der Arbeit zu hindern. Würde Mable Bayard heute in Deutschland leben, wäre sie wahrscheinlich, wie Caroline, eine Mandantin des umtriebigen Rechtsanwalts Matthias Prinz und Dauerkundin bei den höchsten Gerichten dieser Republik. Doch Mable lebte Ende des 19. Jahrhunderts in Boston. Da gab es zwar sensationslüsterne Zeitungen, aber noch kein Gerichte, die für das Eindringen in die Privatsphäre von B-Prominenten Schmerzensgeld zugesprochen hätten.

Mable Bayard war die Tochter eines US-Senators. Ihre Familie: Echter US-Adel, Skandälchen inklusive. Mable heiratete Sam Warren, einen aufstrebenden jungen Juristen. Der ärgerte sich mächtig über die Presse. Etwa darüber, wie sie Mables Vater durch den Schmutz zogen, weil er eine zwanzig Jahre jüngere Frau heiratete. Sam Warren schrieb, mit Louis Brandeis, einen Aufsatz, den die Harvard Law Review 1890 veröffentlichte. Heute gilt er als wichtigster Texte, den das renommierte Blatt je veröffentlichte: The Right To Privacy. Warren und Brandeis eröffneten damit, getrieben vom Ärger über die Bostoner Boulevardblätter, die moderne Geschichte eines Grundrechts. Sie erfanden das Recht auf Privatsphäre, the right to be let alone.

Um dieses Recht steht es schlechter denn je, und zwar nicht nur bei jenen, die - ob gewollt oder nicht - für fünfzehn Minuten von den gleißenden Scheinwerfern der Medien erfasst werden. Ausgeleuchtet werden inzwischen alle Menschen und zwar von allen Seiten: Staatliche Stellen und private Unternehmen erfassen eine Unmenge persönlicher Informationen über Aktivitäten, Gewohnheiten, Merkmale und Beziehungen. Diese Daten-Sammlung hat eine neue Qualität erreicht: Es sind mehr Daten denn je. Sie werden über lange Zeiträume gespeichert. Sie können mit anderen Datenbeständen und statistischem Wissen vernetzt werden. Sie können mit leistungsfähigen Computern in kurzer Zeit durchforstet und ausgewertet werden. Eine Grenze zwischen der geschützten privaten und einer zugänglichen öffentlichen Sphäre jedes Einzelnen gibt es nicht mehr.

Was ist eigentlich genau das Schlimme daran? Die Gefahr des Missbrauchs natürlich. Die ist zwar nicht das Schlimmste, aber sie ist das, was auch denen einleuchtet, die in Internet-Portalen wie StudiVZ ihr komplettes Leben zur Schau stellen. Noch einmal, weil es so schön schauerlich ist, fünf Aufreger aus den letzten Monaten, mit denen auch sorglose Bonuskarten-Nutzer, Formular-Ausfüller und Web- Exhibitionisten irritiert werden können. In Großbritannien ging eine CD-Rom auf dem Postweg verloren, auf der die persönlichen Daten von 25 Millionen Kindergeldempfängern gespeichert waren. Ein Testkäufer der Verbraucherzentralen konnte für 850 Euro die Kontodaten von vier Millionen Menschen, offenbar Kunden der Klassenlotterien, erwerben. Die E-Mail-Adressen Tausender Kunden einer Beate-Uhse-Tochtergesellschaften konnten über Google gefunden werden. Auf einem bei Ebay für 35 Pfund versteigerten Computer fanden sich die Namen, Kontodaten, Telefonnummern, Einkommensstände und Unterschriften Tausender Bankkunden. Erst wertete die Telekom die Telefonverbindungsdaten ihrer Aufsichtsratsmitglieder aus, dann wurden ihrer Tochter T-Mobile die Verbindungsdaten von mehr als 17 Millionen Kunden gestohlen.

In allen Fällen gerieten persönliche Daten und Informationen in Hände, in die sie nicht gehört hätten. Missbräuche, Gesetzesüberschreitungen, Pannen wird es immer geben, so lässt sich einwenden, doch dieses Argument greift zu kurz: Die Gefahren sind der Datensammelei inzwischen derart inhärent, dass sich eine weitere Datensammlung gar nicht mehr ohne weitere Missbräuche, Gesetzesüberschreitungen und Pannen denken lässt. Es ist wie mit dem Fahrrad, das einem geklaut wird, wenn es nicht abgeschlossen ist: Natürlich ist der Dieb der Böse, und dieser Bösewicht gehört bestraft. Aber die Versicherung zahlt trotzdem nicht, denn wer sein Fahrrad nicht abschließt, der rennt sehenden Auges in den Diebstahl.

Noch schlimmer aber als der Missbrauch von Daten ist inzwischen ihre offizielle Nutzung. Die komplette Erfassung jedes Einzelnen, die sich aus den Bausteinen ergibt, die in verschiedenen Datenbanken und Journalen zusammengesetzt werden, schafft den Gläsernen Menschen. Der Gläserne Mensch ist ein Mensch, der in Unfreiheit lebt, der in Ungleichheit gefangen bleibt und der aufs Oberflächliche reduziert wird. Diese drei Tendenzen sind das Schlimmste am Untergang der Privatsphäre.

Die Unfreiheit: Wem die Privatsphäre genommen wird, der fühlt sich beobachtet. Unbeobachtet zu sein ist aber die Voraussetzung dafür, sich auszuprobieren, sich zu finden, seine Persönlichkeit zu bilden. Kritisches Denken, die eigene Meinung und selbständiges Verhalten entwickeln sich nicht unter der Überwachungskamera, sondern in der Geborgenheit, in der Angstlosigkeit. Die Privatsphäre ist der Nukleus der Freiheit. Wer das Gefühl hat, sich eventuell einmal rechtfertigen zu müssen für das, was er tut, der wird sich anpassen. Eine SMS an Freunde, die Kritisches denken, führt vielleicht direkt in eine Datenbank der Polizei. Vom Kauf eines Buches zur Schuldenberatung per Internet ist abzuraten - wer weiß, wer welche Schlüsse daraus zieht? Mit Kreditkartenzahlung ein Ticket für subversives Kabarett sichern? Das Lachen vergeht einem. Vor allem aber schwindet die Neigung, von der gesellschaftlichen Norm abzuweichen. Der durchleuchtete, beobachtete Mensch verhält sich nicht mehr "anders", sondern angepasst. Willkommen im Mainstream! Es ist das Ende des Andersseins.

Pikanterweise schützt das Schwimmen im Mainstream übrigens nicht vor dem Zuschnappen der Datenfalle. Die Künstlerin Rena Tangens, die den "Big Brother Award", einen Preis für besonders dreiste Datenschnüffler initiiert hat, hat das in das schöne Beispiel übersetzt: "Hätte es in den achtziger Jahren schon Bonuskarten im Supermarkt gegeben, dann ließe sich jetzt genau nachvollziehen, wer damals britisches Rindfleisch gekauft hat. Für Krankenversicherungen wäre das ein willkommener Anlass zur Prämienerhöhung!" Es genügt die Neubewertung eines bestimmten Verhaltens oder bestimmter Merkmale in der Zukunft, um harmlose Individuen zu sozialgefährlichen Außenseitern zu machen.

Die Ungleichheit: Privatheit hat nicht nur diesen Freiheitsimpuls. Sie dient auch der Gleichheit. Die Recherchierbarkeit eines Menschenlebens zerstört Chancen. In Zeiten der Suchmaschine bleiben die Vergangenheit, die Herkunft, das Umfeld an jedem hängen. Ein Klick, ein Blick - es kann der Karriereknick sein. So wurde 2007 einem Professor, der zum Rektor der Hochschule Bremen gewählt worden war, die Recherchierbarkeit seines Vorlebens zum Verhängnis: Eine Verurteilung, die längst aus dem Vorstrafenregister gelöscht worden war, wurde durch einen Zeitungsartikel, der im Internet kursierte, bekannt - seine Wahl wurde rückgängig gemacht. Vielleicht traf es nicht den Falschen, aber der Fall zeigt, wie rasch die Verfügbarkeit von Informationen den Anspruch auf eine faire Chance zerstören kann. Wer weiß schon heute noch, ob die Verurteilung damals eine groteske Fehlentscheidung war?

Die Oberflächlichkeit: Bei den Recherchen, ob von staatlichen oder privaten Stellen, gewinnen Oberflächlichkeiten an Bedeutung. Denn auch wenn Haarfarbe, Konsumvorlieben oder Telefonverbindungen erfasst werden können, so lassen sich der Charakter, die Persönlichkeit, das Herz eines Menschen doch nicht in Datenbanken einpflegen. Datensammler arbeiten mit Schubladen, nicht mit Menschen. Und so verweigern Bankmitarbeiter Kredite, wenn einer auf der falschen, der kreditunwürdigen Seite der Straße wohnt. Muslimische Studenten technischer Fächer in Deutschland können ein Lied davon singen, was es heißt, wenn aufgrund bestimmter oberflächlicher Merkmale Schlüsse gezogen werden.

Bislang war der Widerstand gegen die ungebetenen Besucher im Privatleben überschaubar. Eigentlich merkwürdig: Würden der Karstadt-Chef und der Bundesinnenminister einfach so in die Wohnung spazieren, den Bewohner beobachten und Notizen machen - man würde sich das nicht gefallen lassen. Sobald der Karstadt-Chef und der Bundesinnenminister aber nur Maschinen vorschicken, ist man argloser: Mit einer merkwürdigen Mischung aus Exhibitionismus, Angepasstheit und Geiz-ist- geil-Mentalität steckt man Plastikkarten in Lesegeräte, kommuniziert ungeschützt und tippt Daten in Formulare. Es ist fast verzeihlich, dass dies Erika Mustermann passiert, wenn man sich vor Augen führt, dass sich auch Verfassungsrechtler bis hin zum höchsten Gericht in Karlsruhe haben einlullen lassen. Warren und Brandeis, die Erfinder des Grundrechts auf Privatheit, hatten die Privatsphäre mit dem Eigentumsrecht verglichen: So wie das eigene Haus niemandem offen stehe, dürfe auch niemand in die Privatsphäre eindringen. Doch der absolute Schutz, den Verfassungsrichter dem Freiheitsraum Eigenheim angedeihen lassen, billigen sie dem Freiheitsraum Privatsphäre keineswegs zu. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind weniger mutig, als die Berichterstattung zuweilen Glauben macht: So hat das Gericht in seinem Urteil zur Online-Durchsuchung diese nicht verboten, sondern in bestimmten Grenzen zugelassen. In einer Eil-Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung - die Hauptsache steht noch aus - hat das Gericht nicht primär die Speicherung, sondern erst den Datenabruf und die Speicherdauer als problematisch angesehen. Es sind also die Grenzüberschreitungen im Detail, die ein Gesetz zu Fall bringen. Dabei ist längst der absolute Schutzgehalt der Daten-Autonomie so weit angetastet, dass es des Einschreitens durch das Gericht bedürfte. Eine Änderung hier, ein neues Gesetz da - und die Freiheit stirbt zentimeterweise. Wobei es unter Schäuble auch ganze Meter sein dürfen.

Der Widerstand der Institutionen Bundesverfassungsgericht und Bundestag müsste größer sein. Vielleicht müsste für alle Eingriffe in die Privatsphäre ein wirksamer Schadensersatzanspruch geschaffen werden - nicht nur für das Paparazzitum, das Mable Bayard und Caroline von Monaco betrifft. Bis es dazu kommt, muss das Recht auf Anderssein außerparlamentarisch verteidigt werden. Es wäre nämlich so einfach, die Datensammlung zu durchkreuzen, sei es durch schlichte Verweigerung oder durch Subversion: Bei einem Zensus in Großbritannien erklärten sich so viele Befragte in Anlehnung an die Filmsaga Star Wars zu "Jedi-Rittern", dass auf den Formularen bei Religionszugehörigkeit ein eigenes Feld dafür geschaffen wurde. Die Chance für die Anhänger der Privatsphäre ist derzeit groß: Die bundeseinheitliche, lebenslänglich gültige Steuernummer - "Identifikationsmerkmal" genannt - hat nun auch die sich selbst für harmlos haltenden "Normalbürger" sensibilisiert. Selten hat der Staat die Kompletterfassung seiner Angehörigen so deutlich auf einen Begriff gebracht, dem Missbrauchsgefahr, Gleichmacherei, Oberflächlichkeit und Unfreiheit schon inne wohnen. Erika Mustermann wird mulmig bei dem Gedanken, dass sie lebenslänglich zum bundeseinheitlichen Nummerngirl degradiert wird. Mit Recht.

Rupprecht Podszun ist Jurist und Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum in München. Die meisten übrigen Angaben zu seiner Person sind Teil seiner Privatsphäre.

E-Paper: http://www.freitag.de/2008/PDF-Archiv/Freitag-2008-41.pdf

Rupprecht Podszun

FreiTag, Berlin, 09. Oktober 2008
Original: http://www.freitag.de/2008/41/08411301.php

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