Die deutsche Bürgerrechtlerin Rena Tangens hat am Dienstagabend in Wien über Schnüffelstaat und datengierige Konzerne referiert. ORF.at hat sie anschließend über den kleinen Spion in uns allen befragt. In beinahe familiärem Rahmen gab Tangens, Mitbegründerin der deutschen Bürgerrechtsgruppe FoeBuD, im Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen [IWM] einen schnellen Überblick über die aktuellen Herausforderungen, die der Fortschritt digitaler Überwachungstechniken an unsere Gesellschaft stellt.
Wenn der Staat unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung Chips mit biometrischen Informationen in Pässe einsetze, die Videoüberwachung flächendeckend vorantreibe und die Verbindungsdaten jedes Telefongesprächs speichern wolle, bliebe von den einst mühevoll erkämpften Bürgerrechten nicht mehr viel übrig, warnte Rena Tangens.
Auch die Privatwirtschaft stehe, so Tangens, mit Schnüffelchips in Kundenkarten, intransparenten Kreditrankings und Marketing-Rasterfahndungsmethoden nicht zurück.
"Datenbanken produzieren Ohnmacht", lautete Tangens Fazit des Vortrags, der in der IWM-Veranstaltungsreihe "Aktuelle und zukünftige Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft" lief.
Für die mitveranstaltende Grüne Bildungswerkstatt ergänzte die Wiener Landtagsabgeordnete und Gemeinderätin Marie Ringler Tangens' Ausführungen. Ringler wies darauf hin, dass der Datenschutz vorgeschoben werde, um die Herausgabe von Fakten in Sachen Eurofighter-Verträge zu verhindern.
Ihre Partei würde sich weiters für eine Umkehrung des Amtsgeheimnisses aussprechen: Alle staatliche Informationen sollten den Bürgern grundsätzlich zur Verfügung stehen; Ausnahmen müssten von den Behörden begründet werden.
Nach der lebhaften Diskussion um den Stand der Bürgerrechte im digitalen Zeitalter sprach ORF.at mit Rena Tangens über die Verführung des Einzelnen durch die Macht digitaler Überwachungswerkzeuge. ORF.at: Wir haben heute Abend viel über Datensammler aus Wirtschaft und Staat diskutiert. Nach dem Amoklauf von Emsdetten haben aber auch ganz gewöhnliche Bürger intime Daten des Täters aus verschiedenen Quellen im Netz gezogen und in ihren Blogs veröffentlicht. Werkzeuge wie Datenbanken und billige Kameras stehen heute jedermann zur Verfügung. Tut sich da für Datenschützer ein neues Betätigungsfeld auf?
Rena Tangens: Viele werfen heute eine Suchmaschine an, wenn sie mehr über eine Person wissen wollen, die sie gerade kennengelernt haben. Wenn sie das tun, sensibilisiert es sie möglicherweise dafür, dass sie selbst eine Datenspur im Netz hinterlassen. Vielleicht denken sie dann auch darüber nach, was diese Daten später über sie aussagen werden.
Zum so genannten Bürgerjournalismus: Der wird in Deutschland auch von der "Bild"-Zeitung propagiert. Diese Aktion haben wir bei der diesjährigen Verleihung der Big-Brother-Awards erwähnt. In diesem Umfeld gilt es, neue ethische Regeln für den Umgang miteinander und für den Journalismus zu definieren. ORF.at: Ist es zu einfach geworden, zum Spitzel im eigenen Auftrag zu werden?
Rena Tangens: Man arbeitet halt erst nach seinen Möglichkeiten. Und je einfacher die Technik ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie verwendet wird. E-Mails sind, zum Beispiel, wie offene Postkarten. Viele Techniker, die bei Internet-Providern arbeiten, können problemlos Mails einsehen oder kopieren oder mit einem Filter nach interessanten Wortkombinationen durchkämmen. Darauf müssen sich zum einen die einstellen, die E-Mails versenden, zum andern müssen die, die sie einfachen Zugriff haben, eine Art Berufsethik entwickeln. ORF.at: Begünstigt das Netz die Entsolidarisierung? Man hat es ja dort nicht mit Menschen zu tun, sondern nur noch mit Bildern oder Text.
Rena Tangens: Die Entsolidarisierung findet auf vielen Ebenen statt. Sie hilft dabei, gewisse Ideen durchzusetzen. Ein Beispiel dafür wäre die Lkw-Maut. Da denken sich viele Leute: Ja, prima, dass diese lästigen Lkws mehr bezahlen müssen, dann verstopfen sie die Autobahnen nicht mehr.
Die Leute denken auch, dass Schwarzfahrer und Terroristen durch Videoüberwachung gefasst würden und meinen, das beträfe sie nicht. Arbeitslose müssen alle persönlichen Daten offenlegen und noch das Sparbuch ihrer Kinder preisgeben.
Auch da sagen Leute, die noch Arbeit haben: Ja, ist doch in Ordnung. Was soll ich für die mitarbeiten, wenn da noch das Sparbuch der Kinder ist? Diese Einstellungen finden wir häufig. Und auf dieser Grundlage sind Maßnahmen wie die Anti-Terror-Datei, Vorratsdatenspeicherung, Mautdatenerfassung und die Gesundheitskarte politisch durchsetzbar. ORF.at: Interessanterweise läuft die Entsolidarisierung oft über Sozialversicherungssysteme, die eigentlich als Agenturen der Solidarität gelten.
Rena Tangens: Menschen sind solange solidarisch, wie sie ihr eigenes Risiko nicht kennen. Wenn sie genau wüssten, wann sie an welcher Krankheit leiden oder ob sie eine Brille brauchen oder nicht, dann würden sie sich nur dafür eine Versicherung abschließen und alles andere beiseite lassen und würden damit auch niemanden mitfinanzieren, der in Not gerät.
Ein Beispiel: Dadurch, dass bestimmte Risiken mittlerweile durch Genanalysen feststellbar sind, entstehen neue Gefahren. Versicherungen könnten denjenigen verlockende Angebote machen, die eine Genanalyse machen lassen und das Resultat dann der Versicherung zugänglich machen. Vorausgesetzt, das Ergebnis der Analyse ist für die Versicherung kostengünstig, erhalten diese Leute einen billigen Vertrag und diejenigen Personen, die das nicht machen wollen, werden in Zukunft entsprechend mehr zahlen müssen. ORF.at: Sie arbeiten schon seit gut 20 Jahren mit dem FoeBuD dafür, die Gesellschaft für Datenschutzfragen zu sensibilisieren. In diesem Zeitraum verschärften aber Wirtschaft und Staat ihre Überwachungsmaßnahmen und viele Teilnehmer an "Sozialen Netzwerken" stellen sich heute ganz freiwillig im Netz aus. Kann es der FoeBuD je so weit bringen wie die Ökologiebewegung, die immerhin erreicht hat, dass Mitteleuropäer heute brav ihren Müll trennen?
Rena Tangens: Die Umweltbewegung hat ja geschafft, ihren Gegenstand im allgemeinen Leben zu verankern. Auch Firmen rühmen sich mittlerweile dafür, wenn sie Umweltrichtlinien folgen und können daraus Vorteile im Wettbewerb ziehen.
Es sind eigene Industriezweige entstanden, die mit Umwelttechnik gute Geschäfte machen. In den ganz frühen Zeiten der Umweltbewegung wurde suggeriert, dass die industrielle Entwicklung etwas Zwangsläufiges sei.
Wer saubere Luft haben wolle, so hieß es damals, solle zurück auf die Bäume gehen. Jeder glaubte, dass die Industrialisierung nicht mit einer sauberen Umwelt vereinbar sei. Wenn wir uns heute für Bürgerrechte in einer digitalen Welt einsetzen, bekommen wir oft zu hören, dass Datenschutz und Digitalisierung unvereinbar seien.
Das bestreite ich. Es wird neue Möglichkeiten geben, die Bürgerrechte auch in einer digitalen Gesellschaft zu verteidigen. An diesen Möglichkeiten müssen wir arbeiten. Insofern stehen uns viele Entwicklungen, die die Ökologiebewegung hinter sich hat, noch bevor.
Günter Hack
FutureZone, ORF, Wien, Österreich, 22. November 2006
Original: http://futurezone.orf.at/it/stories/152395/