Der Wind fegt über die Einfahrt vor dem weißen Kubus der Landesvertretung Baden-Württembergs. Donnerstagmorgen, Tag elf nach Beginn der Koalitionsverhandlungen von Union und FDP.
Wie bei fast jedem Treffen sind Demonstranten am Ort. Christoph Bautz' Hände zittern trotz Handschuhen. Er hält ein Protestschild fest: «Bürgerrechte sind keine Verhandlungsmasse». Das sollen die Unterhändler lesen, wenn sie mit den Limousinen zur Sitzung der Arbeitsgruppe Sicherheit und Justiz eintreffen. Bautz ist fast alleine: Nur eine Hand voll Mitstreiter frieren an seiner Seite unter dem grauen Berliner Herbsthimmel.
«Dass das Plakat blau-gelb ist, dass ist Absicht», sagt der 37- jährige Bautz, einer der Gründer des Kampagnennetzwerks Campact. Denn vor allem auf Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP warten die Campact-Anhänger und Mitglieder des Datenschutz-Vereins Foebud, der den «Big-Brother-Award» verleiht. Sie wollen rund 19 000 Unterschriften gegen Vorratsdatenspeicherung, Internetsperren und Daten-Chips in Reisepässen überreichen. Tatsächlich kommt die bayerische FDP-Landesvorsitzende nach draußen. «Wenn wir einen Teil davon durchkriegen, wäre das ein gutes Zeichen», sagt sie zu den Forderungen. Sie lächelt - dieser Protest soll auch ihre Linie für mehr Bürgerrechte unterstützen.
Die Demonstranten sind gegen viele Pläne von Schwarz-Gelb. Das bringt sie auf die Straßen vor die Landesvertretungen am Berliner Tiergarten. Fast täglich stehen dort vor allem Atomenergie-Gegner mit gelben Plakaten und roter «Atomkraft? Nein Danke»-Sonne. Am Donnerstagmorgen sind es aber nur vier Frauen und ein Mann, die vor der NRW-Vertretung gegen Laufzeitverlängerungen für Kernkraftmeiler ausharren - mehr als 1000 waren es am ersten Verhandlungstag, mit der Dauer der Verhandlungen scheint bei den Protestlern etwas Müdigkeit einzukehren.
Doch nicht jeder Protest ist sichtbar - am Mittwoch hatten laut Campact tausende Bürger bei Bundestagsabgeordneten von Union und FDP angerufen, um mit Fragen zur Atomkraft die Büros fast lahmzulegen, wie ein Parlamentarier die «Telefondemo» beschreibt. Kerstin Sehnen hat sich für die Straße entschieden - die 40-Jährige ist aus Aachen angereist. «Es sind eh Herbstferien bei uns.» Sie schlägt vor, sich Politiker-Autos in den Weg zu stellen. Aber es kommen zunächst keine.
Es läuft nicht wirklich rund für die Demonstranten, denn kurz darauf werden die zunächst draußen wartenden Kamerateams ins Gebäude geführt. «Die wollen uns wohl nicht auf den Bildern», meint ein Demonstrant. Jürgen Fahrenkrug bleibt gelassen. Der Routinier hat Jahrzehnte Anti-Atom-Proteste auf dem Buckel. Locker balanciert er einen Stock mit gelbem Fähnchen in der Hand. «Es geht nicht um möglichst auffällige Aktionen. Sie sollen merken, dass wir ihnen die ganze Zeit über die Schulter schauen.» Dann baut er einen Tisch und eine Nähmaschine auf. «Wir nähen hier das längste Anti-Atom- Transparent der Welt.» Am Wochenende wollen sie es einsetzen - dann soll die womöglich finale Phase der Koalitionsgespräche «umzingelt» werden.
Johannes Wagemann
Reutlinger General-Anzeiger, Reutlingen, 18. Oktober 2009
Original: http://www.gea.de/detail/1385129