Mehrere Verbände, Organisationen der Zivilgesellschaft und Datenschützer haben den EU-Abgeordneten noch einmal nachdrücklich ans Herz gelegt, bei der am Mittwoch anstehenden Abstimmung über eine Richtlinie zur Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten doch noch der pauschalen Aufzeichnung der elektronischen Spuren der 450 Millionen EU-Bürger eine Absage zu erteilen. Der Verband der deutschen Internetwirtschaft eco etwa schreibt in einem offenen Brief an die Parlamentarier, dass Einführung einer Verpflichtung zur anlass- und verdachtsunabhängigen Speicherung sämtlicher elektronischer Kommunikationsdaten aller Telekommunikationsnutzer in der EU gravierend in die Privatsphäre und die Vertraulichkeit der Kommunikation eingreife und insbesondere Rechtstreue und Unbescholtene treffe. Der Entwurf sehe keinerlei Ausnahmen zum Schutz der Pressefreiheit oder sonstiger Berufsgeheimnisträger vor. "Ihr Zeungnisverweigerungsrecht wird quasi abgeschafft", hält die Providervereinigung den Abgeordneten vor Augen.
Der eco fürchtet, dass die Vorratsdatenspeicherung zur "Standardmaßnahme der Ermittlungsbehörden wird". Das vor der Verabschiedung stehende Papier enthalte letztlich keine verbindlichen Vorgaben, unter welchen Voraussetzungen die Sicherheitsbehörden Zugriff auf die gespeicherten Daten nehmen dürfen. Dies hat Justizkommissar Franco Frattini in einem internen Papier auch offiziell so bestätigt. Bei den Internetanbietern bestehen zudem erhebliche Zweifel, "ob eine vollständige Speicherung der geforderten Datentypen und Datenarten technisch überhaupt zu realisieren ist." Die anfallenden Datenmengen können schon deshalb nicht zu einer erhöhten Erfolgsquote bei der Verbrechensbekämpfung beitragen, weil das Volumen von den berechtigten Stellen nicht ansatzweise bewältigt werden könnte. Der Großteil der gespeicherten Daten werde für die Sicherheitsbehörden ohne Belang sein.
Bei den Überwachungsplänen in Brüssel, die der EU-Rat und die EU-Kommission massiv vorangetrieben haben, geht es prinzipiell um die Speicherung der Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, SMS, E-Mailen, Surfen oder Filesharing anfallen. Mit Hilfe der Datenberge sollen Profile vom Kommunikationsverhalten und von den Bewegungen Verdächtiger erstellt werden. Gemäß einer Einigung im EU-Rat müssen die Mitgliedsstaaten Telcos verpflichten, die Informationen inklusive IP-Adressen sechs bis 24 Monate vorzuhalten. Längere Speicherfristen schließt das Papier, das von Christ- und Sozialdemokraten gemäß einer vorab erzielten Verständigung in eigene Anträge gegossen wurde, nicht aus. Die Annahme der Richtlinie durch das Parlament hat Frattini als eine Angelegenheit von "Friss oder Stirb" deklariert, weiterer Verhandlungsspielraum sei nicht vorhanden.
Dem eco macht aber nicht nur wie anderen Branchenverbänden zu schaffen, dass die "erheblichen Investitions- und Betriebskosten", die nicht mehr von der Sozialpflichtigkeit der betroffenen Unternehmen erfasst und für viele kleine und mittelständische Anbieter existenzvernichtend seien, nicht zwingend von den Mitgliedsstaaten erstattet werden sollen. Mit dem Einschluss von E-Mail und VoIP in die Liste der vorzuhaltenden Daten sieht er weiteres Ungemach auf seine Mitglieder zukommen: Damit einher gehe eine Ausdehnung der Speicherungsverpflichtung auf Inhalte des Datenstroms, was mit einem zusätzlichen, "ganz erheblich finanziellen und technischen Mehraufwand" verbunden sei. Weit entfernt sei der Entwurf zudem von seinem Ziel, tatsächlich einheitliche Binnenmarktregeln für alle Mitgliedsstaaten festzuzurren.
Angesichts des drohenden Generalverdachts gegen alle EU-Bürger sieht auch Oliver Moldenhauer von der Attac-AG Wissensallmende die Parlamentarier gefordert, "die EU nicht unter dem Vorwand der Terrorabwehr weiter in Richtung Überwachungsstaat driften zu lassen". Beteuerungen, die Daten nur in sehr eingeschränkten Fällen nutzen zu wollen, hält Axel Rüweler vom FoeBuD für wenig überzeugend: "Das Beispiel der LKW-Maut, wo die Daten der Autobahnkameras nun plötzlich auch für die Fahndung genutzt werden sollen, zeigt deutlich, dass stets Begehrlichkeiten entstehen, sobald eine Datensammlung existiert." Die Internetdaten dürften seiner Ansicht nach bald auch "zur Verfolgung von Menschen eingesetzt werden, die einfach nur Musik aus dem Internet herunterladen." Jan Krissler vom Chaos Computer Club (CCC) stimmt besonders bedenklich, "dass mittels der gespeicherten Standort-Daten von Handys auch Bewegungsprofile" einzelner Personen erstellt werden könnten.
Der Frankfurter Rechtswissenschaftler Patrick Breyer hat den Abgeordneten in einem Schreiben noch vor Augen gehalten, dass selbst der Europäischer Verband der Polizei EuroCOP auf die weitgehende Ineffizienz des enormen Aufwands verwiesen habe. Kriminelle könnten laut der Vereinigung "mit relativ simplen technischen Mitteln eine Entdeckung zu verhindern", etwa durch den Einsatz und häufigen Wechsel im Ausland gekaufter, vorausbezahlter Mobiltelefonkarten. "Lassen Sie sich bei der Abstimmung nicht von der Drohung der britischen Ratspräsidentschaft leiten, der Rat könne einen noch schärferen Rahmenbeschluss fassen", ermuntert Breyer die Parlamentarier zur Einhaltung eines "ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens". Eingestimmt in den Kanon der Gegner der Richtlinie ist zudem der Förderverein für eine Freie Informationelle Infrastruktur (FFII): Der ausgehandelte Kompromiss führe direkt in den "Big Brother"-Staat. Sollte er angenommen werden, "würden wir in eine neue Ära der Gesetzgebung durch eine nicht-gewählte, nicht zur Rechenschaft ziehbare und autokratische Bürokratie eintreten".
Zur Auseinandersetzung um die Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten, die bei der Abwicklung von Diensten wie Telefonieren, E-Mailen, SMS-Versand, Surfen, Chatten oder Filesharing anfallen, siehe siehe den Artikel auf c't aktuell (mit Linkliste zu den wichtigsten Artikeln aus der Berichterstattung auf heise online):
Stefan Krempl
Heise Online, Hannover, 13. Dezember 2005
Original: http://www.heise.de/newsticker/meldung/67283