Der Bundestag hat sich am heutigen Dienstag gegen einen Gruppenantrag ausgesprochen, mit dem die Bundesregierung zur Klageerhebung vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die heftig umstrittene EU-Richtlinie zur verdachtsunabhängigen Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetdaten aufgefordert werden sollte. Den Anstoß für die Initiative gab der rechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Jerzy Montag. 133 Oppositionsabgeordnete hatten die Einbringung des Antrags ins Parlament unterstützt. Das Parlamentsplenum lehnte ihn allerdings bei einer Enthaltung aus der Unionsfraktion mit den Stimmen der SPD und der CDU/CSU ab.
Nach dem Begehr der Opposition erfolgte die Annahme der weitgehenden Maßnahme zur pauschalen Überwachung der elektronischen Spuren der 450 Millionen EU-Bürger auf Basis einer falschen Rechtsgrundlage. Da es sich um eine reine Angelegenheit der Strafverfolgung handle, hätte der EU-Rat einen entsprechenden Rahmenbeschluss treffen müssen. Das von der EU-Kommission letztlich gewählte Richtlinienverfahren sei der falsche juristische Weg gewesen.
Montag erklärte bei der kurzen Beratung im Plenum, zu der er mit einer schwarz-rot-goldenen Krawatte erschienen war, dass es keine originäre EU-Kompetenz für die Vorratsdatenspeicherung gebe. Im Rahmen der langwierigen Auseinandersetzung über die Richtlinie sei deutlich geworden, "dass Kommission und Rat im laufenden Verfahren die Pferde gewechselt haben, der Wagen jedoch der gleiche geblieben ist". Trotz Beteiligung des EU-Parlaments an der Richtlinie müssten die Zuständigkeitsregeln der EU eingehalten werden. Sonst würde "jeder Willkür Tür und Tor geöffnet". Der Schutz der Bürger- und Grundrechte in den nationalen Verordnungen stehe auf dem Spiel.
Der Bundestag hat wiederholt die Auffassung vertreten, dass die pauschale Überwachungsmaßnahme im Bereich der so genannten dritten Säule der EU zu verabschieden sei. Darin werden die Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen vom Rat festgelegt. Die Parlamentarier brachten auch in ihrem Beschluss zur Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung "mit Augenmaß" auf Antrag der Großen Koalition ihre Zweifel an der gewählten Rechtsgrundlage zum Ausdruck.
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries erklärte nun, dass es immer einen Konsens gegeben habe, dass sich die Bundesregierung an den Diskussionen zur Vorratsdatenspeicherung in Brüssel beteiligen sollte. Sie bezeichnete es erneut als große Errungenschaft, dass im Rahmen der Gespräche etwa die Speicherdauer der persönlichen Daten begrenzt werden konnte. Den Wechsel der Rechtsgrundlage habe die Bundesregierung "notgedrungen mitgemacht", um die gefundene "materielle Position" nicht zu gefährden. Es wäre aber "unsinnig, den lange erkämpften Verhandlungserfolg" zu beklagen. Nach Ansicht der SPD-Politikerin werden "die Bürgerrechte" trotz des Wegfalls der Unschuldsvermutung in der Strafverfolgung mit der neuen Form der Telekommunikationsüberwachung "nicht beschnitten".
Erst am Samstag hatten in Berlin etwa 250 Bürger gegen die Vorratsdatenspeicherung und den um sich greifenden "Sicherheitswahn" demonstriert. Damit wollten sie auch die Abgeordneten insbesondere von CDU und SPD dazu bewegen, "Rückgrat zu beweisen" und für die Nichtigkeitsklage gegen die Vorratsdatenspeicherung zu stimmen.
Unbeeindruckt zeigten sich die schwarz-roten Parlamentarier auch von einem Positionspapier (PDF-Datei), welches das Forum Menschenrechte jüngst an Bundesregierung und Bundestag übergeben hatte. Das Netzwerk von über 45 deutschen Nichtregierungsorganisationen kritisiert die geplante Speicherung sämtlicher Verbindungs- und Standortdaten bei der Telekommunikation "als völlig unverhältnismäßig und als Angriff auf das Fundament einer freien, demokratischen Gesellschaft". Aus Sicht des Forums verstößt die geplante Vorratsdatenspeicherung gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens und des Fernmeldegeheimnisses aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Sollte der Bundestag die Richtlinie umsetzen, schaffe er ein Gesetz, welches das Fernmeldegeheimnis sowie das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzen würde.
Irland und die Slowakei haben bereits Klage gegen die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung in Luxemburg eingereicht. Ihre Argumentation ist mit der aus dem Gruppenantrag vergleichbar. Der Vorstoß gilt als aussichtsreich, da der EuGH gerade das umstrittene Abkommen zur Übergabe von Flugpassagierdaten zwischen der EU-Kommission und den USA aufgrund fehlender Rechtsgrundlage für nichtig erklärte. Auch in diesem Fall berief sich die Kommission auf ihre Kompetenz zur Binnenmarktregulierung – nun will sie den Beschluss zur Weitergabe der Flugpassagierdaten unverändert auf Basis einer anderen Rechtsgrundlage durchpauken.
Bürgerrechtler und Datenschützer unterstützten trotz der Klage Irlands und der Slowakei gegen die Vorratsdatenspeicherung den Vorstoß aus der Opposition für eine eigene Klage Deutschlands. Denn die Bestimmungen einer einmal erfolgten Richtlinienumsetzung hierzulande würden ohne ein Veto des Bundesverfassungsgerichts wohl kaum nachträglich wieder rückgängig gemacht.
Stefan Krempl
Heise Online, Hannover, 20. Juni 2006
Original: http://www.heise.de/newsticker/meldung/74493