Unter den wachsamen Augen von Lenin – er beschützt mit ausgebreiteten Armen eine Snack-Bar auf dem ehemaligen Militärflugplatz Finowfurt – zelten Europas Hacker inmitten von ausgedienten MIG-Kampffliegern und ähnlichem Kriegsgerät, während die bewachsenen Hangars für Vorträge und Workshops genutzt werden. Das dritte Sommercamp des Chaos Computer Clubs startete mit ein paar Strom- und Netzproblemen, dafür in praller Sommersonne. Schattig ging es bei den Themen zu: Der Überwachungsstaat und wie man in ihm lebt, stand gleich in drei Vorträgen auf der Agenda.
Den Anfang machte Sandro Gayken mit einer düsteren Analyse des Weges, der in den Überwachungsstaat führt. Indem Überwachung als Technik daherkommt, die Leben und Eigentum schützt, wird sie Gayken zufolge als natürliche Ergänzung des Gesetzes gesehen. Der Überwachungsstaat helfe, Arme und Bedürftige auszugrenzen, etwa von öffentlichen Plätzen, wo sie nicht gerne gesehen sind. Mit dem Profiling hinter der Kamera durch Analyseprogramme entstehe ein neuer Klassenstaat mit neuen Ausgrenzungen, autoritär und antidemokratisch, reif für einen neuen Diktator. Die Kritik am Überwachungsstaat, basierend auf ziemlich abstrakten Ideen wie der einer "Privatsphäre", ist für Gayken zu abstrakt, um wirkungsvoll zu sein. Eine Chance sieht er in der auffälligen Parallele zwischen dem Schutz der Privatsphäre und dem Umweltschutz. Beide kennen einen kritischen Umschlagspunkt, an dem es zu spät für Rettungsmaßnahmen ist. Wie gerettet werden kann, soll ein Buch erzählen, das Gayken und Constanze Kurz unter dem Titel 1984.exe herausbringen. Aber wenn schon die liberale Kritik an der Auflösung der Privatsphäre blass bleibt und die Organisatoren des Privacy Villages das viertägige Campleben absagen, bleibt die Frage, wie der Hackerprotest ankommt.
Zwei unterschiedliche Spielarten brachten die Präsentationen "Wir entziehen uns – mit Technik gegen Überwachung" und "Was du heute (legal) gegen die Stasi 2.0 tun kannst – Widerstand ist nicht zwecklos, wenn er schlau und entschlossen ist". Als Entzieher betätigten sich die erwähnte Constanze Kurz und Starbug vom CCC, die in munterem Wechsel Themen wie den "Bundestrojaner", Vorratsdatenspeicherung, RFID-Chips, Biometrie, Kontenabfrage und Steuer-ID vortrugen, jeweils mit Tipps, die jeweilige Technik zu umgehen. Neben der Benutzung des Anonymisierungsdienstes Tor oder von Remailern mögen Gegenmaßnahmen wie das geschickte Gesichts-Piercing gegen biometrisch leicht zu bewertende Gesichtsfotos nicht jedermanns Sache sein. Einfacher klingen Patentrezepte, dem Bundestrojaner mit BIOS-Passwortschutz, Hash-Prüfung und Plattenverschlüsselung zu begegnen, wenn er tatsächlich online über das Internet in ein Computersystem eindringt.
Die andere Variante, die Installation eines gezielt aufgesetzten Programmes nach eingehender forensischer Analyse der Festplatte, behandelten Frank Rieger und Ron, als sie vertrauenswürdige, kryptografisch gesicherte Schließsysteme forderten, die den Einbruch des Bundeskriminalamtes vielleicht nicht verhindern, aber doch protokollieren können. Der kämpferische Vortrag der beiden CCC-Mitglieder gefiel den Zuhörern vor allem wegen der Slogans. "Wir sind die Guten!", die Hacker als letzte Bastion gegen die MAF-Dispositive (momentan aktiviertes Feindbild) der Mächtigen, das kam an, auch wenn die Grundthese, dass in der Bundesrepublik ein "interventionistisches Vollkasko-Staatsverständnis auf dem Vormarsch" ist (und daher Stasi 2.0 möglich ist), nicht unbedingt einleuchten wollte. Im Unterschied zum Vortrag von Kurz & Co sahen Rieger & Co auch Risse im allzu forschen Ausbau des Überwachungsstaates: "Sie machen auch Fehler! Die Temperatur im Froschglas wurde offenbar zu schnell erhöht."
Dem momentanen Trend, mit fast gelungenen Anschlägen die Terrorgefahr zu suggerieren und die Sicherheitsmaßnahmen zu steigern, müsse der CCC offensiv und ohne Hemmungen mit harter Propaganda begegnen. Eine harsche Absage gaben die Referenten der bisher geübten Form der Lobbyarbeit mit Vertretern politischer Parteien. Ihr technisches Verständnis bewege sich auf "Hollywood-Niveau", sei dürftig wie das Wissen der "Bild"-Leser und durch eine völlige Beratungsresistenz auch nicht zu verbessern. Gegenüber den politischen Mauscheleien sei eine aggressive Öffentlichkeitsarbeit notwendig, die Dämonisierungen vermeide und zeige, dass Hacker nicht die bösen, fiesen H4x0rs sind, als die sie in den Medien dargestellt werden. "Lachen wir sie aus!", mit Spaß beim Angriff auf Überwachungsstrukturen solle der Kulturraum, den Hackerszene und die Verteidigung bürgerlicher Freiheiten gemeinsam haben, erweitert werden. Als Beispiel nannten die Referenten die "Spanner hinter den Übrwachungskameras", die motiviert werden sollen, sich eine richtige Arbeit zu suchen.
Insgesamt müsste sich die Hackerszene mehr fokussieren und "weniger verpeilen" sowie von den Revolutionären lernen, mit denen allerdings nicht der gütige Lenin von der Snack-Bar gemeint war: "Siegen lernen, heißt von den Filesharern lernen. Sie spüren gerade den meisten Druck und halten ihn dennoch aus." Als Aufforderung an die Szene nannten die Referenten Projekte wie I2P, Tor und cryptosms.org, die dringend Mitstreiter suchen. Unter der Fragestellung "Wem kannst du vertrauen, wenn es eng wird?" sollten Hacker bei Projekten mitarbeiten, die vertrauenswürdige Türschlösser oder verschlüsselte Pager zur Hacker-Koordination entwickeln. Mindestens müsse eine "enduser-sichere" Verschlüsselung von Mails und Massenspeichern entwickelt und propagiert werden.
Rund 2000 Hacker sollen den Weg nach Finowfurt zum viertägigen Sommercamp gefunden haben. Auch wenn aus diversen Projekten, das Camp stilecht auf dem Luftweg zu erreichen, mangels ausreichender Beteiligung nur ein Busausflug wurde, auch wenn die aus Las Vegas anreisenden Hacker vergaßen, den Zeitunterschied zu berücksichtigen und ihren Flieger verpassten, so haben alle sichtlich Spaß in der noch strahlenden Sommersonne. Mit ganzen vier funktionierenden Duschen für die verschwitzten Camper lernen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen nicht nur Gleichgesinnte oder neue Technologien kennen, sondern auch, was ein richtiger Stack Overflow in der Realität sein kann. Doch wo die Guten zelten, ist das nur ein kleines Handicap.
[Update] des ebenso investigativen wie verschwitzten Heise-Reporters, ehe die Veranstalter vor lauter Wut seinen roten Presse-Muttizettel vernichten: Es sind nicht vier, sondern 16 Duschen für 2000 Leute. Heute morgen um 7:00 waren indes nur vier Duschen offen, vor denen Männlein wie Weiblein Schlange standen, weil die Tanks noch nicht geleert worden waren. Mangels Anschluss des Flugplatzes an die öffentliche Kanalisation muss 2 bis 3 Mal am Tag ein Sattelzug anrücken und die Abwassergrube leeren. Danach können wieder alle Duschen genutzt werden. heise online zieht damit seine ursprüngliche Aussage über den "richtigen Stack Overflow" zurück: Auf dem Sommercamp 2007 muss man nur mit einem temporären Buffer Overflow leben lernen. Ein gefährlicher unhygienischer Stack Overflow kann durch die Wahl geeigneter Duschzeiten vermieden werden.
Detlef Borchers
Heise Online, Hannover, 09. August 2007
Original: http://www.heise.de/newsticker/meldung/94082