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Die Vorratsdatenspeicherung

Geschichte eines Paradigmenwechsels

Durch die Vorratsdatenspeicherung werden seit dem 1. Januar 2008 alle Telekommunikationsunternehmen verpflichtet, sämtliche Verkehrsdaten ihrer Kunden verdachtsunabhängig für eine Dauer von sechs Monaten zu speichern - sozusagen auf Vorrat. Auf diese Weise soll es - zum Zweck der Prävention, Aufklärung und Verfolgung schwerer Straftaten, vor allem im Bereich Terrorismus und organisierter Kriminalität - möglich sein, jederzeit nachzuvollziehen, wer wen wann von wo aus kontaktiert hat. Außerdem sollen mit den gesammelten Daten Kommunikations- und Bewegungsprofile von Verdächtigen angelegt werden. Kritiker hingegen bezweifeln die Notwendigkeit, Wirksamkeit und Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes und klagen darum vor dem Bundesverfassungsgericht.

Die Geschichte

Die EG-Richtlinie, die diesem Gesetz zu Grunde liegt, wurde am 14. Dezember 2005 durch das Europäische Parlament beschlossen (1). Vorangegangen war dieser Richtlinie ein jahrelanger Streit zwischen Rat, Kommission und Parlament über die Zuständigkeiten der Gremien und die Inhalte der Richtlinie. So liegt beispielsweise dem Europäischen Gerichtshof eine Klage Irlands und der Slowakei vor (2). Die Regierungen dieser beider Länder bezweifeln, daß der Weg über eine Richtlinie die richtige Rechtsgrundlage für die Vorratsdatenspeicherung sei. Die Entscheidung über diese Maßnahme hätte ihrer Ansicht nach als Rahmenbeschluß durch den für diesen Bereich zuständigen EU-Rat herbeigeführt werden müssen, da sie eine Angelegenheit der Strafverfolgung darstelle. Allerdings hätte es im EU-Rat nicht die notwendige Einstimmigkeit für diesen Rahmenbeschluß gegeben. Im EU-Parlament (wo die Entscheidung letztlich auf Druck der damaligen britischen Ratspräsidentschaft getroffen wurde) reichte - über den Weg einer EG-Richtlinie zur Harmonisierung der Binnenwirtschaft - eine qualifizierte Mehrheit um die Vorratsdatenspeicherung zu beschließen (3). Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zu dieser Klage steht bisher noch aus.

Ebenso zweifelhaft wie auf EU-Ebene war auch der Entscheidungsprozeß zur Vorratsdatenspeicherung hierzulande. Denn obwohl sich der 15. Deutsche Bundestag deutlich gegen eine Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen hatte (4), entschied sich der 16. Bundestag - auf Antrag der Koalitionsfraktionen und gegen die Stimmen der Opposition - anders und begrüßte in einer Entschließung vom 6. Februar 2006 die Vorratsdatenspeicherung (5). Am 9. November 2007 wurde schließlich das „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG“ (6) beschlossen und ist am 1. Januar 2008 in Kraft getreten. Dieses Gesetzespaket enthält weitgehende Überwachungsmaßnahmen der Bevölkerung in Deutschland und ist mit den Stimmen der Großen Koalition (7) und unter dem Protest der Oppositionsparteien (8) Einzigartig ist, daß 26 SPD-Bundestagsabgeordnete eine Erklärung abgaben, warum sie sich dem Fraktionszwang beugten und für dieses Gesetz stimmten, obwohl sie im Grunde dagegen waren. In ihrer Begründung heißt es: „Eine Zustimmung ist auch deshalb vertretbar, weil davon auszugehen ist, daß in absehbarer Zeit eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise verfassungswidrige Bestandteile für unwirksam erklären wird“ (9). Es ist ein unglaublicher und beispielloser Vorgang, daß Abgeordnete einem Gesetz zustimmen, das sie offensichtlich für verfassungswidrig halten.

Die Inhalte

Bisher war es in Deutschland Gesetz, daß die Telekommunikationsunternehmen die Verkehrsdaten ihrer Kunden unverzüglich löschen mußten, wenn diese nicht zur Abrechnung benötigt wurden (10). Bei „Flatrates“ beispielsweise durften die Verbindungsdaten daher nicht gespeichert werden.

Durch das neue Gesetz werden Telefondienstleister nun verpflichtet, die Rufnummern der Kommunikationsteilnehmer und die Uhrzeit des Telefonates zu speichern. Bei Handytelefonaten kommen die eindeutige 15-stellige Seriennummer (IMEI) des Gerätes und die jeweiligen Funkzellen (und damit die Standorte der Telefonierenden) hinzu. Diese Regelungen gelten auch für Fax- und SMS-Dienstleistungen. Internetdienstleister müssen entsprechend vorhalten, welche IP-Adresse dem jeweiligen Kunden zu einem bestimmten Zeitpunkt zugewiesen wurde, E-Mail-Anbieter müssen die IP- und Mailadressen von Absender, Empfänger und Zeitpunkte jedes Zugriffs auf das Postfach aufbewahren. Die Speicherungspflicht nimmt dabei auch Privatpersonen (beispielsweise wenn sie kostenlos einen öffentlichen WLAN-Zugang anbieten) und Anonymisierungsdienste nicht aus. Diese werden dadurch ad absurdum geführt. Eine Speicherung der Kommunikationsinhalte ist hingegen nicht gestattet. Außerdem wurde die Identifizierungspflicht für Nutzer von Telefonanschlüssen, Handykarten und DSL-Anschlüssen ausgeweitet. Nur wer seinen Namen, seine Anschrift und sein Geburtsdatum beim Telekommunikationsdienstleister angibt, erhält noch einen entsprechenden Vertrag (11).

Die Vorhaltezeit der Daten liegt in allen Fällen bei sechs Monaten. Bei Verstoß können die Anbieter wegen einer Ordnungswidrigkeit belangt werden. Für die Internetdienste gibt es eine Ausnahme – eine Nichtspeicherung bleibt bis zum 1. Januar 2009 ohne Folgen (12).

Übermittelt werden die Verbindungsdaten in Deutschland schon bei Verdacht von erheblichen oder „mittels Telekommunikation begangener“ Straftaten (13), zur Abwehr von erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Geheimdienste (BND, MAD, Verfassungsschutzbehörden) (14). Die dem Gesetzespaket zugrundeliegende EU-Richtlinie sieht die Datenspeicherung hingegen nur zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten vor. Ebenso sind u.a. der Identifizierungszwang der Nutzer und die Speicherpflicht bei Anonymisierungsdienstern in der EU-Richtlinie nicht vorgesehen (15). Damit geht das deutsche Gesetz weit über die EU-Vorgaben hinaus.

Probleme und betroffene Berufsgruppen

Die Vorratsdatenspeicherung markiert zweifellos einen „dramatischen Paradigmenwechsel im Datenschutz“ (16). Bisher benötigten die Strafverfolgungsbehörden einen „strafprozessualen Anfangsverdacht“ (17), um ermitteln zu dürfen. Nun stehen knapp 500 Millionen EU-Bürger unter Generalverdacht. Die Regelung stellt damit einen gewaltigen Eingriff in die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte dar. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird durch die Vorratsdatenspeicherung angetastet. Bürger haben als Betroffene weder Macht, noch Kontrolle darüber, was von ihrem Telekommunikationsverhalten preisgegeben wird, wie es das Bundesverfassungsgericht eigentlich verlangt (18). Der Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD), Dr. Thilo Weichert, kritisiert die Richtlinie folgendermaßen: „Was als präventive Terrorismusbekämpfung beschlossen wurde, ist nichts anderes als die Bekämpfung der freien Kommunikation. Menschen werden aus Angst vor dieser Überwachung ihre Kommunikation beschränken. Dies ist ein Bärendienst für die expandierende Kommunikationswirtschaft. Das Telekommunikationsgeheimnis wird zur polizeilich disponiblen Masse reduziert“ (19). Auch Berufsgeheimnisträger äußern sich besorgt über das neue Gesetz

Journalisten: Ein Bündnis dem der Deutsche Journalisten-Verband, die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di, der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger, der Verband Privater Rundfunk und Telemedien (VPRT), der Deutsche Presserat, die ARD und das ZDF angehören, sieht die Pressearbeit behindert (20). Informanten müßten nunmehr befürchten, enttarnt zu werden. „Versiegen die Quellen, sind die Medien blind und die Demokratie wird geschädigt“, warnt Christoph Fiedler vom Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) (21). Vor allem mit den Erinnerungen an die Bespitzelung von Journalisten im Rahmen der „Cicero-Affäre“ (22) oder des BND-Skandals (23) im Hinterkopf gewinnt dieses Argument an Brisanz. Dabei ist eine funktionierende und unabhängige Presse für einen liberalen, demokratischen Staat unerläßlich.

Anwälte: Ebenso lehnt der Deutsche Anwaltverein (DAV) die Überwachungsmaßnahmen der Telekommunikation ab. „Die Beziehung zwischen Mandant und Anwalt bedarf eines besonderen Vertrauensschutzes und darf nicht heimlich überwacht werden“, so Hartmut Kilger, Präsident des DAV (24).

Ärzte: Ähnlich formulierte der Präsident der Freien Ärzteschaft Martin Grauduszus auf einer Demonstration gegen die Vorratsdatenspeicherung in Berlin seine Befürchtungen: „Wir haben uns heute dieser Demonstration nicht nur als Bürger angeschlossen, sondern als Ärzte, in großer Sorge um das Weiterbestehen eines vertrauensvollen Arzt-Patienten- Verhältnisses auf Grundlage der seit Jahrtausenden bestehenden ärztlichen Schweigepflicht.“ (25).

Seelsorger: Auch die Evangelische Telefonseelsorge in Deutschland kritisiert das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Die Speicherung der Daten von Telefongesprächen, e-Mails und Internetaktivitäten beschädige das Beicht- und Seelsorgegeheimnis und verletzte damit eine unverzichtbare Grundlage für die Arbeit Telefonseelsorge, erläutert Pfarrer Werner Korsten. „Gerade für Menschen, die sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden, ist es wichtig, daß ihr Kontakt zu seelsorglichen oder beratenden Einrichtungen oder Personen ihr persönliches Geheimnis bleibt.“ (26).

„Cybercrime-Konvention“ und Überwachungswahn

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Abfragebefugnisse für die Daten. Die Argumentation des EU-Parlaments und der Bundesregierung, die Daten nur in fest definierten Fällen nutzen zu wollen, überzeugt nicht. Das Beispiel der LKW-Maut, bei der die Daten der Autobahnkameras ursprünglich nur für die Abrechnung der Maut, nun auch für die Fahndung genutzt werden sollen (27), zeigt deutlich, daß stets Begehrlichkeiten entstehen, sobald eine Datensammlung existiert. Genau aus diesem Grund wurden Toll-Collect im Jahr 2002 (28) und im Jahr 2007 die Bundesministerin der Justiz Brigitte Zypries für die Förderung der Vorratsdatenspeicherung (29) mit dem BigBrotherAward, einem Datenschutznegativpreis, „ausgezeichnet“.

Eine Weitergabe von Kommunikationsprofilen deutscher Telekommunikationsnutzer an weltweit 52 Länder ist durch die Bundesregierung im Rahmen der Umsetzung der so genannten „Cybercrime-Konvention“ bereits geplant (30). Die Bundesregierung legte am 28. September 2007 den „Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität“ (31) vor. „Die Ratifizierung dieses Übereinkommens würde Deutschland verpflichten, jeder Anforderung unserer Kommunikationsdaten durch ausländische Ermittlungsbehörden unverzüglich und ‚im größtmöglichen Umfang‘ Folge zu leisten. Ausländische Staaten könnten ohne rechtsstaatliche Sicherungen, also ohne vorherige richterliche Anordnung, ohne Schutz engster Vertrauensbeziehungen, ohne nachträgliche Benachrichtigung der Betroffenen, ohne Beschränkung der Nutzung oder Weitergabe der Daten und ohne Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte auf sensibelste Daten über unser Privatleben und unsere sozialen Beziehungen zugreifen.“ erklärt der Jurist Dr. Patrick Breyer (32). Dr. Patrick Breyer ist Jurist und Datenschutzfachmann. Er ist im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung aktiv und Autor des Blogs 'Daten-Speicherung.de - minimum data, maximum privacy'.

Doch nicht nur ausländische Geheimdienste, sondern auch die Wirtschaft ist an den Verbindungsdaten interessiert. Denn diese können – wenn überhaupt – nicht nur zum Kampf gegen den Terrorismus, sondern auch zur Verfolgung von Menschen eingesetzt werden, die beispielsweise „nur Musik“ aus dem Internet herunterladen. So hat sich bereits im Vorfeld die „Creative Media and Business Alliance“, eine Lobbygruppe der Musikindustrie, für die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen (33). Und auch der Bundesverband Musikindustrie forderte zusammen mit dem Forum der Rechteinhaber in einer Stellungnahme an den Bundestag, „die Speicher- und Herausgabepflichten der ISPs nicht auf Zwecke der Strafverfolgung zu beschränken“ (34).

Grundsätzlich steht die Verhältnismäßigkeit der Mittel in Frage. Es sollte keine allumfassende Überwachung für einen relativ geringen oder ungewissen Nutzen eingeführt werden. Bereits vor der Einführung des Gesetzes durften außer den Strafverfolgungsbehörden der Zoll, Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst und der Bundesnachrichtendienst den Abfrageservice der öffentlichen Telekommunikationsdienste nutzen (35). Der SPIEGEL zitiert den Vorstandsvorsitzenden des Verbands der deutschen Internetwirtschaft eco, Michael Rotert, wie folgt: „Mit der Begründung, Terroristen zu jagen, speichert man jetzt nutzlose Daten auf Kosten der Industrie, wo doch die bestehenden Regelungen nach Aussagen der Polizei bereits für 90 Prozent der Fälle ausgereicht haben“ (36).

Diese Einschätzung wird durch wissenschaftliche Untersuchungen belegt. Nach einer Studie des Bundeskriminalamts vom November 2005 (37) konnten in den letzten Jahren 381 Straftaten wegen fehlender Telekommunikationsdaten nicht aufgeklärt werden. Diesen 381 Fällen stehen 6,4 Millionen Straftaten (genau: 6.391.715) im Jahr 2005 gegenüber, von denen laut Kriminalstatistik 2,9 Millionen (genau: 2.873.148) unaufgeklärt blieben (38). Demzufolge hätte sich im Jahre 2005 durch die Vorratsdatenspeicherung die Aufklärungsquote von 55,049 % im besten Fall auf 55,055 % – also um 0,006 % oder um sechs Hundertstel Promille – erhöhen lassen. Auch das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht untersuchte 2007 die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung und kam zu folgendem Ergebnis: „Doch weist die Aktenanalyse selbst unter den heutigen rechtlichen Bedingungen nur für etwa 2% der Abfragen nach, daß sie wegen Löschungen ins Leere gehen.“ (39).

Probleme bei der technischen Durchführbarkeit

Als weiteres Problem, neben der Frage nach der Notwendigkeit, ist die technische Durchführbarkeit zu nennen. So ist zum Beispiel nicht sichergestellt, daß der Besitzer des Telefon- oder Internetanschlusses auch der Nutzer desselben ist. Dies verdeutlicht ein Fall, den der Rechtsanwalt Udo Vetter im Januar 2008 auf seiner Webseite veröffentlichte. Er beschreibt, wie einer seiner Mandanten eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen mußte, nur weil dessen e-Mail-Adresse von Computerbetrügern gekapert wurde (40).

Auch darf davon ausgegangen werden, daß die Vorratsdatenspeicherung auf technischem Wege umgangen werden kann. Der Präsident des Multimediaverbandes DMMV, Arndt Groth, wies darauf hin, daß erfahrungsgemäß gerade Verbrecher und Terroristen in der Lage seien, ihre Spuren zu verwischen (41). Menschen, die über Ausweichmöglichkeiten Bescheid wissen, können sich beispielsweise recht einfach eine Prepaid-Telefonkarte besorgen und anonym telefonieren. Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hat zu diesem Zweck kurzfristig eine SIM-Karten-Tauschbörse ins Leben gerufen und zeigt damit die Absurdität der Vorratsdatenspeicherung (42). Bei der Nutzung des Internets (über das auch telefoniert wird), kann auf offene WLAN-Hot-Spots zurückgegriffen werden. Zum Surfen im World Wide Web verschleiern Anonymisierungsdienste wie TOR (43) die Identität. An einer Möglichkeit, wie die Speicherpflicht für dieses Netzwerk umgangen werden kann, wird in der TOR-Community bereits gearbeitet (44). Eine sehr einfache Möglichkeit diesen Dienst der TOR-Community zu nutzen bietet auch der PrivacyDongle des FoeBuD e.V. Bei der Verwendung dieses USB-Sticks fallen keine Konfigurationsschritte mehr an, um anonym im Internet zu surfen zu können (45). Der niederländisch IT-Journalist Brenno de Winter hat auf seiner Internetseite zehn einfache Möglichkeiten veröffentlicht, die Datenspeicherung zu umgehen (46). Menschen, die sich nicht mit dem Thema auseinandersetzen und nichts zu verbergen haben, sind also letztendlich die Opfer der Überwachung. Die „Zielgruppe“, gegen die die Maßnahme laut der Befürworter offiziell gerichtet ist, ist sicher – und davon ist auszugehen – ausreichend informiert und technisch so ausgestattet, daß sie in der Lage ist, die Vorratsdatenspeicherung zu umgehen.

Bisher ist nicht einmal geklärt, wie die Unmengen an Daten überhaupt gesammelt, sicher gespeichert und indiziert werden können, damit man mit den Datenbergen überhaupt etwas anfangen kann (47). Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verstößt somit auch gegen die Prinzipien der Datenvermeidung und der Datensparsamkeit. Auch Fragen der Datensicherheit sind bisher nicht ausreichend geregelt. Bereits in der Vergangenheit sind viele Fälle bekannt geworden, in denen Mitarbeiter von Telekommunikationsunternehmen Kundendaten illegal verkauft hatten. (48). Bisher ist überhaupt nicht einheitlich festgelegt, wie die Daten gegen die Zugriffe Dritter geschützt werden können.

Wirksame Alternativen

Dabei gibt es wirksame Alternativen zur Vorratsdatenspeicherung, wie das in den USA genutzte, so genannte Quick-Freeze-Verfahren, das auch vom Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein als „denkbares milderes Mittel gegenüber der verfassungswidrigen Vorratsdatenspeicherung“ empfohlen wird. Will ein Strafverfolger auf die Verkehrsdaten der Telekommunikationsteilnehmer zugreifen, benötigt er einen richterlichen Beschluß. Um zu verhindern, daß die Daten währenddessen gelöscht werden, kann eine Speicheranordnung erlassen werden. Dadurch wird die routinemäßige Löschung der Daten unterbunden - die Daten werden „eingefroren“. Sobald der richterliche Beschluß vorliegt, werden die Daten wieder „aufgetaut“ und der Strafverfolgungsbehörde ausgehändigt (49).

Trotz der oben genannten Bedenken in Bezug auf den Datenschutz und die Datensicherheit, die gesetzliche Grundlage, die rechtsstaatlichen Prinzipien, die technische Reife des Projekts, den Nutzen des Ganzen, die Verhältnismäßigkeit und die Auswirkungen auf die Zukunft des Datenschutzes und trotz möglicher Alternativen ist das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland eingeführt worden.

Es regt sich Widerstand

Gegen die Vorratsdatenspeicherung regt sich inzwischen starker Widerstand in allen Bevölkerungsschichten. Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (50) - ein bundesweiter Zusammenschluß von Bürgerrechtlern, Datenschützern und Internet-Nutzern - koordiniert die Arbeit gegen die Vollprotokollierung der Telekommunikation. 27 Organisationen unterstützen in diesem Rahmen eine Gemeinsame Erklärung und lehnen die Vorratsdatenspeicherung ab (51). Inzwischen hat der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung über 40 Ortsgruppen, die regional aktiv sind (52).

Im vergangenen Jahr organisierte der Arbeitskreis mehrere Demonstrationen, darunter beispielsweise „die größte Demonstration für Bürgerrechte und Datenschutz seit der Volkszählung 1987“ (53) „Freiheit statt Angst“ in Berlin. Am 22. Oktober 2007 protestierten dort über 15.000 Menschen gegen die Vorratsdatenspeicherung. Über 50 Organisationen, Initiativen und Parteien hatten zu der Demo aufgerufen, darunter die Jungen Liberalen, Bündnis 90/Die Grünen, Die LINKE, ver.di, Journalisten-, Anwalts-, und Ärzteverbände, die evangelische Telefonseelsorge, Attac, die Leipziger Kamera, das Netzwerk freies Wissen und der FoeBuD e.V. (54). Neben der Demonstration in Berlin veranstaltete der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung am 6. November bundesweit Protestaktionen in über 40 Städten, um zu versuchen, die Vorratsdatenspeicherung in letzter Minute zu stoppen (55).

Doch nicht nur mit Demonstrationen, sondern auch mit Aufklärungskampagnen versucht der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung auf die zunehmende Überwachung der Bevölkerung aufmerksam zu machen. Beispielsweise wurde das Rednernetzwerk „Freiheitsredner“ aufgebaut, über das man kostenfrei Vorträge über den Wert der Privatsphäre buchen kann (56). Ein weiteres Portal „Wir speichern nicht“ klärt Webmaster darüber auf, wie sie ihre Server so konfigurieren können, daß erst gar keine Daten anfallen, die später abgefragt werden könnten (57). Für den Privatnutzer wird eine „CD für Datenreisende“ angeboten (58), „mit Informationen und Musik zur Vorratsdatenspeicherung, sowie Software und Anleitungen zum Schutz des Computers vor Schnüfflern“ (59).

Verfassungsbeschwerde

Derzeit organisiert der Arbeitskreis die größte Verfassungsbeschwerde in der Geschichte Deutschlands, für die rund 30.000 Menschen (60) ihre Unterstützung zugesagt haben. Da die Erfassung und Auswertung der vielen Vollmachten noch nicht abgeschlossen ist, wurde die Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht zunächst im Namen von acht Erstbeschwerdeführern eingereicht. Dabei handelt es sich um den Bielefelder Rechtsprofessor Prof. Dr. Christoph Gusy, den Bremer Publizisten und Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner, den Juristen und Datenschutzfachmann Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, den Leiter einer Beratungsstelle der AIDS-Hilfe, die Anbieterin eines kommerziellen Anonymisierungsdienstes, das Vorstandsmitglied des Journalistenvereins „Netzwerk Recherche“ Albrecht Ude, den Steuerberater Heinz Raschdorf und den Strafverteidiger Peter Zuriel. Sobald die Erfassung der bis zum 24. Dezember 2007 eingegangenen Vollmachten abgeschlossen ist, wird auch Beschwerde im Namen der weiteren Beschwerdeführer eingereicht (61). Es muß nun zunächst entschieden werden, ob der Erste oder der Zweite Senat für die Verfassungsbeschwerde zuständig ist. Eigentlich ist der Erste Senat für die Auslegung der Grundrechte zuständig. Da allerdings EU-Recht betroffen ist, beansprucht der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (zuständig für Staatsrecht) das Verfahren für sich (62).

Es liegt nun einmal mehr in den Händen des Bundesverfassungsgerichts, Grundrechte zu bewahren und die Bevölkerung in Deutschland vor dem sich ausweitenden Überwachungswahn einiger Politiker zu schützen. Es ist zu fordern, daß sich die Politik in Zukunft bei der Gesetzgebung von Anfang an wieder mehr am Grundgesetz als Maßstab orientiert, anstatt gezielt in Kauf zu nehmen, dieses solange zu umgehen, beziehungsweise den eigenen Vorstellungen gemäß beliebig auszulegen und Fakten zu schaffen, bis man vom Bundesverfassungsgericht gestoppt wird. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil des Jahres 1983 bereits erkannt, daß von Menschen, die unter Beobachtung stehen, ein verändertes Verhalten zu erwarten ist, wenn sie nicht wissen, „ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden“ (63). Das kann je nach Situation bedeuten: sich unauffällig (oder auch besonders auffällig) zu benehmen, die (vermutete) Erwartung des Beobachters zu erfüllen oder aber auch zu konterkarieren, auszuweichen, sich zu verbergen, sich nicht zu äußern, anonym zu bleiben, zu lügen. Wer sich laufend beobachtet fühlt, wird nicht nur in der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit behindert, sondern nimmt möglicherweise auch von der Verfassung garantierte Rechte wie freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit nicht mehr in Anspruch. So zerstört der Verlust der informationellen Selbstbestimmung die Fähigkeit zur Kommunikation und zur gesellschaftlichen Partizipation. Die Ideen, Meinungen und Talente vieler Menschen kommen somit nicht mehr der Allgemeinheit zugute. Zugleich geht das gesellschaftliche Engagement für all die Dinge, die über die eigenen privaten Interessen hinausreichen, verloren.

Florian Glatzner

hintergrund.de, Frankfurt am Main, 14. Januar 2008
Original: http://hintergrund.de/index.php?option=com_content&task=view&id=165&Itemid=63

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