Der Bürgerrechtler hat’s schwer. Weil er den Staat selbst nicht kritisiert, bleibt ihm nur, sich auf ältere Gesetze des Staates zu berufen. Angesichts regelmäßig schärfer werdender Sicherheitsgesetze wird das immer absurder.
Der Geheimdienst der DDR scheint an diesem Nachmittag in Berlin wieder gegenwärtig zu sein. »Gib der Stasi keine Chance!« ist auf einem großen Transparent zu lesen, das mit einem lächelnden Linux-Pinguin illustriert ist. T-Shirts von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit der Bildunterschrift »Stasi 2.0« werden gekauft und gleich angezogen. Und auf zahlreichen Plakaten erscheint Schäuble gleich neben Erich Mielke, dem einstigen Minister für Staatssicherheit.
In Teilen der Demonstration »Freiheit statt Angst – Stoppt den Überwachungswahn!« nehmen die historischen Vergleiche ein solches Ausmaß an, dass andere sogar meinen, die Stasi in Schutz nehmen zu müssen: Zwischen Mitgliedern der Grünen Jugend, die vor dem Berliner Hotel Adlon »Stoppt den Überwachungsstaat« rufen, geht ein Grüppchen von Spartakisten, das fordert: »Nieder mit der Anti-Stasi-Hetze!« Dass auf der Rückseite ihres Plakats geschrieben steht »Verteidigt Kuba, China, Nordkorea, Vietnam«, und ausgerechnet diese Länder zu den weltweit schärfsten Zensoren des Internets zählen, ist dann vielleicht auch kein Zufall.
Zu der Demonstration, die aus Anlass der geplanten Vorratsdatenspeicherung stattfindet, haben über 50 Gruppen aufgerufen. Einige Meter vor den Spartakisten laufen ein paar Junge Liberale mit gelben Fahnen. Direkt vor ihnen rollt der Lautsprecherwagen der Partei »Die Linke«. Manche der Jungen Liberalen gucken so, als wären sie lieber woanders. Gleichzeitig bemühen sie sich aber redlich darum, sich von dem aus den Lautsprechern schallenden »Einheitsfrontlied« von Bertolt Brecht und Hanns Eisler (»Drum links, zwei, drei!«) nicht aus Versehen den Rhythmus ihrer Schritte diktieren zu lassen.
Weiter vorne im Demonstrationszug, wo vor allem gegen den Paragrafen 129a protestiert wird, eignet sich die Musik eher zum Tanzen als zum Marschieren. Dafür ist man hier von behelmten Hundertschaften der Polizei umrahmt. Den schwarzen Block und die Bürgerrechtler eint nicht viel, außer dass hier wie dort die Gefahr islamistischer Anschläge zumeist klein geredet oder gar geleugnet wird.
Vor dem schwarzen hat sich – zahlenmäßig weit unterlegen, aber farblich ebenso gut abgestimmt – ein weißer Block formiert: Die »Freie Ärzteschaft« demonstriert mit einem eigenen kleinen Wagen gegen die zentrale Speicherung der Daten von Patienten. Der Orthopäde aus Wuppertal, der den Wagen begleitet, kann mit dem Bündnis der Antifa unter dem Motto »Kein Friede« zwar kaum Gemeinsamkeiten erkennen, ist mit dem großen Interesse an der Demonstration aber hochzufrieden: »Ach, in unseren Praxen haben wir Linke, Rechte, Islamisten, alles. Insofern ist uns nichts Menschliches fremd.«
»Das ist die größte Demonstration für Bürgerrechte und Datenschutz seit der Volkszählung 1987«, freut sich der Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein, Thilo Weichert. Mit seiner Freude ist er an diesem Tag nicht allein. Der Vergleich hinkt jedoch etwas. Bei den Kampagnen gegen die Volkszählung in den achtziger Jahren war das bevorzugte Protestmittel – angesichts der Befürchtungen, vom Staat ausgeforscht zu werden – weniger die Demonstration auf der Straße als vielmehr der schlichte Boykott. Und Anders als heute protestierten damals tatsächlich große Teile der Bevölkerung gegen die angekündigten Maßnahmen. Zur Demonstration am Samstag in Berlin haben gerade einmal rund 10 000 Menschen zusammen gefunden, obwohl die heutige Telefon-, Video-, Konto- und Onlineüberwachung die Volkszählung von 1987 als geradezu niedlich erscheinen lässt.
Bürgerrechtler befinden sich heute in einer sonderbaren Lage: Wer die derzeitige schnelle Folge von Gesetzesvorhaben auf dem Gebiet des Überwachens und Strafens kritisieren will, hat einerseits die Schwierigkeit, dass ihr oder ihm schnell die Superlative ausgehen. Andererseits erregt das Thema anscheinend immer weniger politisches Interesse.
Glaubt man einer Umfrage des ZDF-Politbarometers, dann befürworten 61 Prozent der Deutschen den Vorschlag Wolfgang Schäubles, künftig Passfotos und Fingerabdrücke der gesamten Bevölkerung zu speichern und diese Daten der Polizei zur Verfügung zu stellen. Auch das derzeitige Umfragehoch für die CDU deutet nicht gerade auf eine große Empörung über die sicherheitspolitischen Vorschläge der vergangenen Monate hin. Bezeichnend sind eher Äußerungen wie jene der Hamburger Politikerin der CDU, Viviane Spethmann. Als die Polizei vor dem G8-Gipfel Tausende von Briefen in Hamburg kontrollierte, erklärte sie: »Ich halte das nicht für brisant. Der gläserne Mensch ist schon längst Realität.« Also, wozu sich noch aufregen?
Damit die Kritik von bürgerrechtlicher Seite wieder stärker durchdringe, müsse die Bevölkerung lediglich »besser aufgeklärt« werden, meint der Künstler Padeluun, Mitgründer des Datenschutzvereins Foebud, der alljährlich die Big Brother Awards organisiert. Auf »mehr Öffentlichkeitsarbeit« vertraut auch Jess, die ein Plakat trägt, auf das sie mit Glitzerstift geschrieben hat: »Lieber Tanzen, Titten, Sonnenschein als ein Datensatz von Schäuble sein.«
Für die »Öffentlichkeitsarbeit« braucht man aber natürlich vor allem Argumente. Als Gegenargument zur Politik der präventiven Überwachung nennen zahlreiche Demonstrierende auf ihren Plakaten das Grundgesetz. Nicht wenige Bürgerrechtler argumentieren in dieser Weise gegen die neuen Gesetze: vor allem mithilfe der älteren Gesetze. Um den Staat, der diese Gesetze hervorbringt, geht es nicht. Um die Angst vor sozialer Unsicherheit, die die Sehnsucht nach autoritären Lösungen in der Bevölkerung wachsen lässt, ebenso wenig. Auch das höchste deutsche Gericht erfreut sich in Redebeiträgen auf der Demonstration großer Beliebtheit. Die Phrase »Das Bundesverfassungsgericht hat klar gesagt … « fällt immer wieder, selbst wenn man sich damit hilflos macht, wenn das Gericht wieder einmal, wie schon oft, einen von bürgerrechtlicher Seite kritisierten Grundrechtseingriff billigt.
Etwas klangvoller ist da jedenfalls die politische Gegenstrategie, die der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, in seinem kürzlich erschienen Buch vorschlägt. Das Buch heißt »Das Ende der Privatsphäre«. Schaar fordert darin eine neue »Ethik der Informationsgesellschaft«. Konkret meint er damit vor allem eine »Modernisierung des Datenschutzrechts«. Auch sollten »neue Mechanismen installiert werden, um die bestehenden Vollzugsdefizite zu beseitigen und auch künftig Datenschutz zu gewährleisten«. Kurz: Datenschutzbehörden in Deutschland bräuchten mehr Mittel. Dann sei die Entwicklung hin zur »Überwachungsgesellschaft« noch aufzuhalten oder sogar, wie Schaar tatsächlich schreibt, umzukehren.
Welche politischen Partner sich Schaar dafür wünscht, lässt er offen. Auf der Demonstration unter dem Motto »Freiheit statt Angst« würde er jedenfalls eine große Auswahl finden. Selbst die Partei »Die Linke«, die in Berlin daran arbeitet, ein neues Polizeigesetz zu verabschieden, welches die Videoüberwachung öffentlicher Plätze verstärken soll, demonstriert an diesem Nachmittag schließlich »gegen Überwachungswahn«. Und die Jungen Liberalen haben sich eine derartig ausgefeilte Formel ausgedacht, dass jeder Datenschützer begeistert wäre: »Für Freiheit und Sicherheit. Aber ohne Überwachung.«
Ron Steinke
Jungle World, Berlin, 27. September 2007
Original: http://www.jungle-world.com/seiten/2007/39/10679.php