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Radikal wie Karlsruhe

Das Bundesverfassungsgericht und der Konformismus der deutschen Bürgerrechtsbewegung

„Es ist ein wenig wie Kinderkriegen“, schwärmte die Bloggerin Twister, die zu den Kläger/innen der Verfassungsbeschwerde gegen die Online-Durchsuchung gehört hatte. „Das ist mein Baby!“ Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte in seinem Urteil zur Online-Durchsuchung, das im Februar 2008 erging, zum ersten Mal von einem neuen „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ gesprochen[1] und damit bei vielen Gegner/innen der Online-Durchsuchung Stürme der Begeisterung ausgelöst.

Ein Grundrecht ist geboren!

Die Geburt eines Sterns! Drunter ging’s nicht bei Heribert Prantl, dem Kommentator der Süddeutschen Zeitung. Er erkannte eine „juristische und gesellschaftspolitische Sensation“, die mit dem astrophysikalischen Spektakel vergleichbar sei. Der Datenschutzverein Foebud, der die Verfassungsbeschwerde mitfinanziert hatte, sah einen „großen Tag für die Bürgerrechte“ und einen „Wendepunkt“ gekommen. Und der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar (Grüne) sprach von der wichtigsten Entscheidung des BVerfG seit dem Volkszählungs-Urteil[2] von 1983. In jenem Urteil, an das viele Bürgerrechtler/innen heute etwas nostalgisch erinnern, hatte das BVerfG das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung „erfunden“, sozusagen den Vorläufer zum neuen Computer-Grundrecht. Das Urteil wurde damals als großer Erfolg der Anti-Volkszählungs-Proteste verbucht.

Zugleich, und das ist für die historische Bedeutung der damaligen Intervention aus Karlsruhe nicht weniger wichtig, markierte das Urteil auch den Zeitpunkt, ab dem viele Protestler/innen wieder nach Hause gingen, zufrieden darüber, mit ihrem Anliegen doch noch Gehör beim Staat gefunden zu haben. Dem höchsten deutschen Gericht gelang auf diese Weise eine bemerkenswerte Integrationsleistung: Nicht wenige der Volkszählungs-Boykotteur/innen, die sich vorher in grundsätzlicher Opposition zu einem wieder aufrüstenden, Atommüll produzierenden und Berufsverbote verhängenden Staat gesehen hatten, entdeckten im BVerfG erstmals einen vermeintlichen politischen Partner auf Seiten des Staates. Das höchste deutsche Gericht wurde fortan gerade von linker und liberaler Seite für seine angebliche politische Unabhängigkeit gerühmt.

Heute gilt das Volkszählungs-Urteil als Meilenstein des Datenschutzes. Wer der Frage nachspüren will, ob die gegenwärtig zu beobachtende Begeisterung über ein weiteres „Grundsatzurteil“ auf diesem Gebiet gerechtfertigt ist, kann fragen: Was hat das Urteil von 1983 gebracht?

Viele Paragraphen, nicht viele Rechte

Die rasante Zunahme von technischer Überwachung sowohl durch den Staat als auch durch Private ist in den vergangenen 25 Jahren infolge der „informationellen Selbstbestimmung“ in rechtlich geordnete, „rechtsstaatliche“ Bahnen gepresst worden, gebremst wurde sie aber nicht. Zwar verlangt das Bundesverfassungsgericht seit dem Volkszählungs-Urteil eine gesetzliche Grundlage für jegliche Datenerhebung durch den Staat, so dass Behörden nicht mehr einfach spontan Daten sammeln können. Andererseits reicht die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage aber meist auch schon aus, um eine Datenerhebung zulässig zu machen.

Der Gesetzgeber nutzte die Schaffung von Gesetzen über die Datenerhebung in den Folgejahren vor allem für eine Absicherung der behördlichen Praxis, bzw. sogar zur Schaffung von zusätzlichen Befugnissen, etwa zur Videoüberwachung öffentlicher Räume.[3] Das deutsche Datenschutzrecht erwies sich als geradezu exemplarisch dafür, wie sich gesetzliche Regelungen, die zur Begrenzung staatlicher Macht gedacht waren, faktisch als Legitimationsnormen für neue staatliche Eingriffe auswirken können.[4] Die entscheidende praktische Folge des Volkszählungs-Urteils besteht heute letztlich darin, dass mittlerweile eine derartige Vielzahl von komplizierten Datenschutz- bzw. Datenerhebungsregelungen entstanden ist, dass ein Überblick praktisch unmöglich geworden ist, wie der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar in seinem aktuellen Buch einräumt.[5]

Während gegenwärtig das neue Urteil zur Online-Durchsuchung bejubelt wird, kann das alte „Datenschutz-Grundrecht“ von 1983 schon seinen 25. Geburtstag feiern. Zugleich lässt die mittlerweile etablierte Telefon-, Video-, Konto- und Onlineüberwachung aber die Volkszählung von 1987, gegen die das „Datenschutz-Grundrecht“ ein Sieg sein sollte, als geradezu harmlos erscheinen. Wer zu Beginn der achtziger Jahre gegen die Volkszählung mobilisiert hat und sich anschließend mit dem damaligen Urteil des BVerfG zufrieden gegeben hat, dürfte sich rückblickend eigentlich nicht als Gewinner/in fühlen.

Auch wer nach dem Jubel über das Urteil zur Online-Durchsuchung mit brummendem Schädel aufgewacht ist, konnte seither feststellen, dass die Einführung der heimlichen Online-Durchsuchung durch dieses neue Urteil nicht etwa abgewendet wurde, sondern nun vielmehr ausgemachte Sache ist. Indem das Gericht Hinweise darauf gab, unter welchen Voraussetzungen eine Online-Durchsuchung künftig zulässig wäre, hat es die nun kommenden, zurechtgestutzten Gesetze der Länder schon im Voraus legitimiert, ihnen de facto „den roten Teppich“ ausgerollt, wie es der CILIP-Redakteur Heiner Busch kürzlich auf der Konferenz „Sicherheitsstaat am Ende“[6] formulierte.

Integrationsfigur Bundesverfassungsgericht

Die rätselhafte Liebe vieler Bürgerrechtler/innen zum BVerfG, die 1983 begründet wurde, ist immer noch stark. Das macht sich inzwischen vor allem in einer problematischen Verschiebung des bürgerrechtlichen Diskurses bemerkbar. Die öffentliche Diskussion über staatliche Überwachung hat sich durch die „Verrechtlichung“ des Themas Datenschutz in den vergangenen Jahren merklich verschoben, weg von der ursprünglichen Frage der Anti-Volkszählungs-Proteste „Ist eine bestimmte Überwachungsmaßnahme politisch kritikwürdig?“ hin zur wesentlich unkritischeren Frage „Gibt es rechtliche Einwände?“.

Zur nächsten Volkszählung, welche die EU für 2011 plant, erklärte Peter Schaar vor kurzem schlicht, er könne „keine verfassungsrechtlichen Bedenken“ erkennen. Deshalb habe er nichts mehr dagegen einzuwenden.[7]

Solange staatliche Behörden, die neue Überwachungstechniken einführen wollen, sich an die dafür vorgeschriebene rechtsstaatliche Prozedur halten, d.h. zunächst entsprechende Gesetze schaffen und sich anschließend in deren Rahmen bewegen, haben sie also weder von staatlichen Datenschutzbeauftragten noch vom BVerfG nennenswerten Widerspruch zu befürchten – und in der Folge häufig auch nicht von jenen Bürgerrechtler/innen, die sich vor allem auf diese beiden Instanzen als Autoritäten berufen. Und solange der Gesetzgeber ein ausreichend gewichtiges Ziel seiner Maßnahme benennen kann, was ihm bei der automatischen Erfassung von Kfz-Kennzeichen allerdings zuletzt nicht gelang,[8] bleibt auch das verfassungsrechtliche Korrektiv der „Verhältnismäßigkeit“ ein stumpfes Schwert.

Kochen und Kellnern

Wie wenig die Rechtsprechung des BVerfG im Bereich der staatlichen Überwachung einen emanzipatorischen Maßstab darstellt, macht allein der Blick auf seine jüngsten Urteile deutlich. Wie das Gericht in seinem Urteil zur Online-Durchsuchung erklärte, sei es vor dem Hintergrund des Grundgesetzes zumindest nicht grundsätzlich zu beanstanden, wenn der Staat künftig nicht mehr offen, sondern heimlich auf private Computer zugreife. Das Gericht hat seine bisherige Rechtsprechung zur heimlichen Verwanzung von Wohnungen („Großer Lauschangriff“) damit auf PC-Festplatten übertragen, weshalb jetzt für Laptops das gilt, was bisher schon für Wohnungen galt: Die Polizei darf zugreifen und dabei die Privatsphäre ausforschen, nicht aber die Intimsphäre, wo auch immer die Grenze zwischen beidem liegen mag. Beendet wurde das umstrittene Ausforschen von Privatrechnern damit nicht.

Wie auch? Der Prüfungsmaßstab des Gerichts, das Grundgesetz, sieht die Möglichkeit einer heimlichen Überwachung der Telekommunikation in Art.10 Abs.2 S.2 GG ebenso ausdrücklich vor wie die heimliche Überwachung von Privatwohnungen in Art.13 Abs.3-6 GG („Großer Lauschangriff“). Nach den Plänen der Großen Koalition soll Art.13 GG nun bald sogar um den Zusatz eines „Großen Spähangriffs“ erweitert werden, sodass in Wohnungen künftig auch mit versteckter Kamera überwacht werden darf.[9] Das BVerfG ist nicht in einer Position, hiergegen zu protestieren. Schließlich kann es aus Gründen der Gewaltenteilung nur diejenige Verfassung „hüten“, die man ihm vorsetzt. Damit ist das höchste deutsche Gericht aber, anders als viele seiner Fans es glauben, auch weit davon entfernt, die Ausbreitung staatlicher Überwachung in irgendeinem Lebensbereich grundsätzlich zu stoppen.

Verschiebung des Diskurses

In dem Bemühen, das mächtige BVerfG auf ihre Seite zu ziehen, argumentieren dennoch nicht wenige Kritiker/innen der gegenwärtigen Sicherheitspolitik vor allem mit verfassungsrechtlichen Bedenken, das heißt, da das Verfassungsrecht größtenteils aus Richterrecht besteht, mit Stichworten aus Karlsruhe. Der öffentliche Diskurs konzentriert sich häufig auf angebliche „verfassungsrechtliche Knackpunkte“ anstatt auf den politischen Gehalt einer neuen Entwicklung. So etwa im Fall der Online-Durchsuchung: Neu an dieser Maßnahme ist allein, dass die schon bisher praktizierte Durchsuchung von Computern künftig nicht mehr offen per Beschlagnahme, sondern heimlich per Spionagesoftware durchgeführt wird – ein Rückzug der Ermittler/innen ins Geheime. In der öffentlichen Kritik an der Online-Durchsuchung war stattdessen zumeist die Rede davon, dass die Festplatte als Teil der „unantastbaren Intimsphäre“ zu schützen sei, womit an Begrifflichkeiten des Bundesverfassungsgerichts angeknüpft wurde. Die Ausweitung geheimer Ermittlungsbefugnisse von den Geheimdiensten auf die Polizei, die als Entwicklung viel brisanter ist, wurde dagegen kaum erwähnt.[10] Schließlich hat man hiergegen, trotz des rechtsstaatlich bedeutenden Prinzips der Trennung von Polizei und Geheimdiensten („Trennungsgebot“), das im deutschen Grundgesetz allerdings nur vage an Art. 87 I S.2 GG festgemacht werden kann, beim Bundesverfassungsgericht schlechte Chancen. Denn die genaue Ausgestaltung des Gebots ist nicht im Grundgesetz bestimmt.

So gibt das höchste deutsche Gericht, dessen zwei Senate zu gleichen Teilen mit Kandidat/innen von SPD und CDU/CSU besetzt sind, letztlich einem Teil der Kritik die Richtung vor. Das führt paradoxerweise auch dazu, dass viele liberal-rechtsstaatlich argumentierende Bürgerrechtler/innen sich heute weniger für Freiräume gegenüber dem Staat engagieren als für die Stärkung der dritten Gewalt im Staat gegenüber der zweiten. Ein großer Teil der Empörung besteht oft darin, dass „die Exekutive“ es an Respekt vor Gerichtsurteilen mangeln lasse – Bundesverfassungsgericht gut, Politik böse. Mit einer solchen Argumentation macht man sich natürlich hilflos, wenn das Gericht wieder einmal, wie schon oft, einen von bürgerrechtlicher Seite kritisierten Grundrechtseingriff billigt.

„Bringt Kerzen und Grundgesetze mit!“

Zwar ist nicht zu bestreiten, dass das BVerfG gelegentlich erfreuliche Urteile fällt, zuletzt etwa zum Flugsicherheitsgesetz[11] oder zum Transsexuellengesetz.[12] Im Bereich der präventiven staatlichen Überwachung allerdings, welche die junge, technophile „Bürgerrechtsbewegung 2.0“ rund um den Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung derzeit mit großem Medienecho thematisiert, muss die Bilanz aber ehrlicherweise anders ausfallen. Anstatt sich mit liberalen Ex-Innenministern oder staatlichen Datenschutzbeauftragten in die Arme zu fallen, wenn angeblich schon wieder ein neues Grundrecht geboren worden ist, genügt schon ein Blick in die kurze Geschichte des Datenschutzes in Deutschland, um zu sehen, wie absurd wenig das „gefühlte Bündnis“ mit dem BVerfG in diesem Bereich gebracht hat – und wie dominierend es leider gleichzeitig im Diskurs der Bürgerrechtler/innen geworden ist.

Staatliche Überwachung ist kein Selbstzweck, sondern ein politisches Instrument, das für ganz konkrete Ziele eingesetzt wird. Sie findet gegenwärtig Verwendung vor allem in einer zunehmend repressiven Sozialpolitik, der Vertreibung von Randständigen aus dem öffentlichen Raum sowie der Perfektionierung der europäischen Flüchtlingsabwehr.[13] Mit staatstragenden Bürgerrechtler/innen, denen es nach eigenem Bekunden nur darum geht, „unbescholtene Bürger“ vor Schäubles falschen Verdächtigungen zu schützen – und mehr verlange man doch gar nicht – sollten die Gemeinsamkeiten spätestens hier enden.

Die populären Anti-Volkszählungs-Proteste von vor 1983, an welche die heutige „Bürgerrechtsbewegung 2.0“ ausdrücklich anknüpfen möchte, waren noch von dem Hauptargument getragen, dass man die staatlichen Autoritäten nicht bei ihrer konkreten Politik unterstützen mochte, erst recht nicht mit Informationen über die eigene Person, von denen man nicht wusste, was später mit ihnen geschehen würde. Das mag schlicht gewesen sein. Wenn aber bei den heutigen Kritiker/innen der Sicherheitspolitik die Hoffnung auf das BVerfG bereits das höchste der Gefühle darstellt, dann findet eine grundsätzliche, politische Kritik gar nicht mehr statt. Dann streiten am Ende Bürgerrechtler/innen mit Innenpolitiker/innen darum, wer heute die wahren Verfassungspatriot/innen sind.

Ron Steinke

linksnet.de, Köln, 19. März 2009
Original: http://www.linksnet.de/de/artikel/24313

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